Armin König

Als CERN die Zukunft war – Kanzler Kohl: Ist der König schon abgestillt?

In meinem Archiv gestöbert – ein CDU-Bundesparteitag in Karlsruhe (1995) spielte in in meinem Leben eine wichtige Rolle:

„Risiko! Einer schreibt auf, was er denkt und tut und von der Zukunft erwartet – als subjektiver Chronist einer Provinzgemeinde in Deutschland – und stellt fest, dass die enge Sicht auf die kleine Heimat nicht zum Ziel führt, sondern geradewegs in eine provinzielle Sackgasse. Man muss das Ganze im Blick haben und sich einmischen. Aber wehe, man tut’s!

Was war das für ein Aufschrei, als ich den großen Vorsitzenden Helmut Kohl zum Rücktritt aufforderte. Es sei jetzt endlich genug, hatte ich geschrieben. Jetzt sei die Zeit für neue Ideen, neue Gesichter, neue Themen angebrochen. Das war 1998 ein Sakrileg, und es wäre auch heute Majestätsbeleidigung.

Man muss sich das vorstellen: Ein kleiner Landbürgermeister aus der saarländischen Provinz im äußersten Südwestzipfel der Republik – dort wo sich Michel und Marianne nach einem Vin rouge beim Tête-à-Tête gute Nacht sagen – fordert den großen Kanzler der Einheit auf, zu gehen. Tschüss Kanzler. Au revoir. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Der Mohr kann gehen. Lächerlich.

Die Meldung lief auf allen Kanälen des Saarländischen Rundfunks, und es stand im Landesressort der Saarbrücker Zeitung. Da forderte ein kleiner Underdog den mächtigsten Mann Europas heraus. Incroyable und ein bisschen verrückt! Der große Kanzler dachte allerdings nur „Was kümmerts die Eiche…“ und rief beim Landesvorsitzenden und beim Kreisvorsitzenden an, was denn da in ihrem Territorium los sei.

Dabei hatte ich nur in die Tat umgesetzt, was ich beim Bundesparteitag der CDU in Karlsruhe 1995 gehört und gelernt hatte. Dort stand – ich muss heute lachen – „die Tagesordnung der Zukunft“ auf dem Programm, „ein Arbeitsprogramm auf dem Weg in das 21. Jahrhundert“.

Wissenschaftler traten auf: Hubert Markl, Wolfgang Frühwald, die von CERN, vom „Raumschiff Erde“, der „digitalen Existenz“, dem Zugriff auf 15.000 Fernsehkanäle und weltweiter Volltextrecherche sprachen, von einer völlig neuen, vernetzten Welt, von Kühnheit, von Technikangst und Technikfaszination.

Das war 1995.

Derweil erzählte der Parteivorsitzende und Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl von alten Werten und Pflichten, von Adenauer und Erhardt, vom „sittlichen Fundament“, vom gesunden Mittelstand und väterlichen Betrieben.

Der ewige Spagat der CDU – Modernisierer und Traditionalisten müssen gleichermaßen bedient werden.

Ja, Kohl redete auch von der Ozonschicht, von der bedrohten Erde, von der Gefahr, dass Menschen unter die Räder kommen.

Aber man spürte, dass ihm dies kluge Referenten in die Rede geschrieben hatten, ohne dass der Kanzler der Einheit sich damit identifizierte. Nach seiner mäßig spannenden Rede fand der große Kanzler Zeit, mit einigen Bürgermeisterkandidaten zu posieren – für Wahlkampffotos und Plakate.

Ich war auch dabei.

„Ist der Junge schon abgestillt“, fragte Kohl jovial. Ich war 38 und wog 71 Kilo.

Neben Kohl sah ich wie ein Hänfling aus.

Und als ich dann endlich abgestillt und als Bürgermeister direkt vom Volk gewählt war, forderte ich den Kopf des Bundeskanzlers, der mit mir für‘s Wahlkampfplakat posiert hatte. Mein lieber Scholli, das hat manchen nicht gefallen, und es war ja auch nicht okay.

Aber dass da einer weiterdenkt, was beim Parteitag von Wissenschaftlern vorgedacht worden war, das war schon in Ordnung.

Und jetzt ist das 20 Jahre her, und ich müsste eigentlich mit Willi Gehringund Alfons Vogtel nach Karlsruhe fahren, um dort Jubiläum zu feiern.

Ich hätte auch allen Grund, mich an der Debatte zur Flüchtlingspolitik zu beteiligen – aber ich bin kein Delegierter. So bleibt mir nur das Zuschauen aus der Ferne. Und ein bisschen Villon: „Mais où sont les neiges d’antan?“