Armin König

Arnold Fortuin – der Oskar Schindler der Sinti – Persönliche Anmerkungen über einen bescheidenen Pfarrer

Arnold Fortuin war von 1951 bis zu seinem Tod 1970 Pfarrer in Illingen, meiner Heimatgemeinde. Wer von uns hätte je gedacht, dass unserem Pfarrer je eine solche Ehre zu Teil würde, dass in Berlin ein Hauskomplex (siehe Foto: (c) Armin König) und in Köln eine Straße nach ihm benannt würde.

 

Sie nennen ihn den Oskar Schindler der Sinti und Roma.

Er war ein Retter, ein Menschenfreund.

Fortuin hätte sich nie träumen lassen, dass ihm einmal eine solche Ehre widerfährt. Er hat die Sinti gekannt wie kaum ein Anderer seiner Zeit. Und er hat sie beschützt.

In der Zeit des Nationalsozialismus hat er viele seiner Sinti-Freunde, die er aus seiner Zeit als Kaplan ihn Saarbrücken schätzen gelernt hatte, vor dem sicheren Tod gerettet: Arnold Fortuin, dieser bescheidene Mann und tief gläubige Mensch.

Als ich 1967 im neuen Gymnasium in Illingen eingeschult wurde, wurde Arnold Fortuin mein Religionslehrer. Er erzählte Geschichten aus der Bibel, von denen wir noch nie gehört hatten.

Und er  konnte erzählen! Mit angenehmer Stimme.

Gewiss: Auf der Kanzel konnte er auch lauter werden, das war in den 1960er Jahren noch Usus, aber die lauten Töne passten nicht zu ihm. Er pflegte auch in der Schule eher die zurückhaltende Art des Unterrichtens. Heute würde man sagen: die künstlerisch-narrative Art. Lehrer wie er müssen damit rechnen, dass Schüler sie auf die Probe stellen. Aber Fortuin ließ sich auch von denen nicht aus der Ruhe bringen, die ihn reizen wollten. Er hatte Nachsicht. Und er war gütig.

Aber wenn es um seine Schützlinge ging, um die Sinti, dann kannte er keine Nachsicht. Er setzte sich ein für sie, kämpfte um Entschädigung für erlittenes Unrecht, etwa für die Familie Lehmann, und musste doch feststellen, dass auch in einem Rechtsstaat der Staat nicht in jedem Fall Recht sprach und Recht gewährte. Das war 1963, als das Saarland längst wieder Teil der Bundesrepublik geworden war. Da war Pfarrer Fortuin längst Schutzpatron der Sinti- nicht nur in Illingen, nicht nur im Saarland, sondern in ganz Deutschland – mit dem Segen der Deutschen Bischofskonferenz.

Auf Initiative von Franz Lehmann, dem Chef der Lehmann-Sippe,  hatte Fortuin 1955 die legendäre Wallfahrt der Sinti zur Illinger Bergkapelle aus der Taufe gehoben, zum Teil gegen Widerstände. Aber Fortuin und Lehmann setzten sich durch. Waren es anfangs kaum mehr als 20 Wallfahrer, kamen später Hunderte Sinti und Roma aus Südwestdeutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien nach Illingen, um zu beten und zu feiern.

Vorläufer dieser Wallfahrt war eine großartige Kommunionfeier mit Sinti-Kindern, über die die Saarbrücker Zeitung groß berichtete. Wie wir der Zeitung entnehmen, hielt Pastor Fortuin „eine zu Herzen gehenden Predigt“, deren Grundlage Calderons Theaterstück vom Großen Welttheater war.
„Vom Herrgott erhält jeder Mensch, gleich welcher Rasse und welchem Stand er angehört, seine Rolle in diesem Theater zudiktiert, und er muss diese Rolle spielen bis zu seinem Lebensende“, sagte Fortuin. „Es kommt nicht darauf an, welche Rolle der einzelne Mensch zu spielen hat – ob König oder Bettler, Reicher oder Dienstmagd – „sondern entscheidend ist, wie er seine Rolle spielt.“ Bei Calderon sind es am Ende die Wohlhabenden und Mächtigen, die im Fegefeuer schmoren, während die Anderen erlöst werden. Und Fortuin rief den Kindern, aber auch den Erwachsenen zu: „Haltet die Treue zu eurem besten Freunde! Besucht ihn in all den Kirchen und Domen, die an eurer Wanderroute stehen.“

In Illingen machten sie dies mit Begeisterung. Wir Schüler freuten uns immer über diese Wallfahrt Anfang Oktober. Es war ein großes und gewissermaßen hautnahes Ereignis für uns, wenn die Sinti mit ihren Wagen auf dem Burgplatz vor dem Pfarrheim vorfuhren. Es war der große Treffpunkt im Herzen Illingens, wo auch das junge Illtal-Gymnasium in den ersten Jahren residierte. Dort empfing Arnold Fortuin die etwa 300 Wallfahrer. Von dort ging die Prozession zur Bergkapelle, zur Madonna zu den Sieben Schmerzen. Und im großen Saal des Pfarrheim, der über Jahre Turnhalle unseres Gymnasiums war, wurde nach der Wallfahrt zünftig gefeiert. Die Reinhards und das Weiß-Ensemble machten dort Musik. Es wurde getanzt und gelacht bis spät in die Nacht. Und wir hatten montags schulfrei. Das war die romantische Seite der Medaille. Natürlich war dies für uns ein Groß-Ereignis. Es gab bei dieser Wallfahrt auch die weniger schönen Seiten, die Vorbehalte und Diskriminierungen. Dann war Arnold Fortuin gefragt. Und dann setzte er, der Pfarrer mit Zivilcourage, sich ein, und er setzte sich auch durch. Vielleicht war er wirklich ein stiller Heiliger, ein Heiliger des Alltags. Das hat er in Bad Kreuznach bewiesen, er hat es in Beuren im Hunsrück bewiesen, wohin man ihn strafversetzt hatte, und er hat es auch in Illingen bewiesen. Wir können stolz auf ihn sein. In Illingen wird er immer mit der Sinti-Wallfahrt zur Bergkapelle in Verbindung gebracht. Aber geehrt und gewürdigt wurde er dafür nie.

Eigentlich ist dies ein Versagen.

Wir müssen Wiedergutmachung üben, wir Illinger.

Dr. Armin König
Bürgermeister