Armin König

Das Glück des Augenblicks – Ich bin ja kein Opferlamm – Wie blicke ich auf Kultur? Part 1 BlogParade #KultBlick

Kultur ist mein Lebenselixir, mein Aufputschmittel, mein Frohmacher, mein Hallowach.
Ich bin Bürgermeister, leite eine Verwaltung mit fast 150 Menschen, bin „Organ“ und „Ortspolizeibehörde“.
Aber ich bin auch Kulturmensch und Kulturchef und Kulturanimateur in einer Gemeinde von 17.000 Einwohnern.
Wir bringen die Welt ins Dorf.
Tingvall Trio.
Nils Landgren
Sabine Meyer.
London Quartet.
Reinhold Messner.
Gabor Boldoczky.
Billy Cobham.
Echopreisträger gastieren hier.
Und Kleinkünstler.
Impressions Musicales beim Multikultifestival am Illtal-Gmynasium.
Wustock als regionales Woodstock-Erbe für einen guten zweck.
Ich lese und schreibe und schreibe und lese und höre und pianiere und spiele und fantasiere.
Am Faszinierendsten aber ist das Schreiben.
Wer schreibt, bleibt.
Und entdeckt.
Verschüttetes.
Verlorenes,
Vergessenes.
Das Ich ist immer eine Rolle. In meinem Falle: Das lyrische oder epische Ich, das sich ausspricht, redend und schreibend. Ich ziehe das einsame Schreiben vor und halte mich an Ingeborg Bachmann, deren Bücher mich seit meiner Jugend faszinieren: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.« Auch wenn sie nicht jeder hören will. So schreibe ich Tag für Tag. Und beschreibe. Mein Leben in der Provinz. Als Politiker und Poet, zuweilen auch als Polemiker und Politrebell. Schreiben, damit bleibt, was Mann für wichtig hält. Denn man vergisst zu schnell.
Ich schreibe in mein Skizzenbuch, mein Arbeitsjournal, es ist eine Chronik der laufenden Ereignisse in einer Zeit der Unübersichtlichkeit und der Disruption. In diesem Logbuch eines Landbürgermeisters muss ich mir keine Fesseln anlegen, darf ich mich freischreiben. Frei bewegen und frei schreiben. Hei, wie gut das tut.
Die Provinz war und ist ja keine Insel der Seligen und der Bravheit.
Man vergisst zu schnell. Deshalb schreibe ich – um nicht zu vergessen. Die dunklen und die hellen Tage sichern. Als Chronist einer Provinz, die längst Teil der großen Welt geworden ist.
Und um meinem Logbuch zu erzählen, was ich öffentlich nie sagen darf, um nicht Hass und Zorn und Kampagnen zu provozieren oder gar mein Amt zu verlieren.
Es stimmt ja, dass man immer die Contenance bewahren muss, wenn mein Amt bekleidet, und nicht draufhauen darf wie ein Prolet. Man würde es mir nicht verzeihen.
Andererseits:
Ich bin ja kein Opferlamm, das man zur Schlachtbank treibt. Eher Stier. Dem Sternzeichen nach. Oder Widder – und damit widderspenstisch. Ich liebe Wortfindungen für eine unverständliche Welt. Ja, für manche bin ich ein gespenstischer Widdersacher. Ein steinbockiger Renitent.
Das muss ich auch, um nicht unterzugehen im Meer der Einsamkeit.
Überall ist Global Village, überall ist Leben, wie schon der gute Ringelnatz wusste, bei meiner Tante im Strumpfband oder in den unendlichen erotischen Weiten des World Wide Web. Und wir stecken mittendrin – nicht im Strumpfband oder daneben, sondern in Kalamitäten. Oder erleben Sehnsucht und Glück, Melancholie oder Empathie. Man muss sein Haus, seine Kammer gar nicht mehr verlassen, um diese ganze unfassbare Welt zu erleben. Media. Digital. Und Turbokapitalismus pur.
Alles ist tausendmal beschrieben, fotografiert und gefilmt und wird geliket und geteilt. Rücksichtslos. Gnadenlos. Erbarmungslos. Diese Wirtschaft tötet, hat Franziskus gesagt, dieser radikale Papst Bergoglio, den ich bewundere. Gut, dass es ihn gibt und dass er Klartext redet. Lutherisch klar.
Überall ist Wunderwelt, überall ist Leben, doch überall ist auch Dunkelheit und Einsamkeit und Traurigkeit, es stirbt so viel in dieser Zeit. Furien und Teufel treiben Frieden aus und Demokratie und übernehmen das Szepter von allzu braven Verwaltern.
Es stinkt Morast
Hier und in Übersee.
Die Mächte der Hölle brechen sich Bahn,
und wir steh’n machtlos vis-à-vis.
Manchmal könnte man verzweifeln, wenn man Nachrichten hört und sieht.
Trump und Kaczinsky,
Kim Jong Un,
Putin und Orban
Und über allen der
Größenwahnsinnige,
der Geiselnehmer Erdogan.
Was mich antreibt, immer noch zu schreiben?
Etwas tief in mir drin.
Eine Sehnsucht.
Eine Liebe zur Sprache.
Und diese Lust, Geschichten zu erzählen.
Weißt du noch… ?
»Literatur ist immer Verrat. Ich wüsste keinen anderen Grund, Bücher zu schreiben, als um zu petzen.« Behauptet Beigbeder.
Petzen will ich nicht. Ich habe auch nicht vor, Legenden zu stricken.
Aber verraten will ich schon das Eine oder Andere. Schreiben will ich, was nicht jeder kennt und die Schatulle öffnen und erzählen. Aus meinem politischen und privaten Leben, Dichtung und Wahrheit, dem ganzen Kladderadatsch eine Richtung geben.
Ich will offenlegen, wie Machtspiele ablaufen, und welche Folgen dies für uns alle hat.
Es geht doch immer um Macht und Herrschaft und Geld und Einfluss, wenn Politisches im Spiel ist – und auch im Privaten. Aber auch um kleine und große Freuden und Leiden.
Das ist das eigentlich Spannende.
Wer Tagebuch schreibt, will die Zeit, das laufende Band, auf dem wir uns bewegen, für einen Moment anhalten. Innehalten, um zu verstehen in einer Welt, die uns verwirrt.
Innehalten, um zu verstehen, warum wir tun, was wir tun. Mit all unseren Widersprüchen, mit unseren je eigenen Wahrheiten und Wahrnehmungen, die wir immer wieder neu anordnen zu einer Geschichte des eigenen und fremden Lebens.
Das müssen wir auch, um nicht verrückt zu werden.
Denn:
Nichts bleibt, wie es ist.
Seit zwanzig Jahren fahre ich Achterbahn.
Freud und Leid, Frust und Freud, so ist das Bürgermeisterleben in der Provinz, die längst keine Provinz mehr ist, seit Twitter und Facebook und Internet uns millionenfach vernetzen, weltweit, derweil die alte analoge Welt hinweggefegt wird.
Was waren das noch Zeiten, als das Büroleben von Akten und Deckeln und Lochern und mechanischen Schreibmaschinen, von Tipp-Ex und Korrekturbändern geprägt wurde und wir uns zum privaten Telefonat in Zellen mitten im Dorf einschlossen, umringt und begafft von anderen Fernsprech-Begierigen, die ebenfalls Zugang zur engen, stickigen Zelle begehrten – und das alles freiwillig. Wir warfen Groschen und Markstücke ein, um Dates zu organisieren und Liebesschwüre zu deklamieren.
Je größer die Liebe, desto größer der Silberling, den wir einwerfen mussten. Und draußen traten sich andere Liebebeschwörer die Beine in den Bauch. Teufel auch. Das waren Zeiten!
Wir hatten kein Telefon zu Haus’ und als wir eins hatten, sollten die Eltern nicht hören, wie wir uns Liebe schworen….
Das waren nicht andere Zeiten.
Das war eine ganz andere Welt.
Irrwitzig weit und doch so nah.
Mit Computer und Handy wurde alles anders.
Digitalisierung verändert die Welt. Aber sie zerstört nicht nur, sie eröffnet auch Chancen und revolutioniert das Leben.
Man kann nicht nur verwalten, sondern auch unkonventionell gestalten, gegen den Strom schwimmen, sich mit denen anlegen, die den Status Quo und ihre eigenen Pfründe krampfhaft halten wollen. Nur durch Aufsässigkeit geschieht Veränderung und Geschichte. Manchmal mit Schmerzen. Das muss einer wollen. Ich wollte das immer. Will es auch heute. Ich bin keiner, der sich auf Lorbeeren ausruht.
Noch immer gehen mir die Ideen nicht aus.
Bin Energiebündel und Antreiber.
Doch zuweilen überwältigt mich die Melancholie. Dann halte ich inne und ziehe Zwischenbilanz.
Es war nicht vorgesehen in meiner Biografie, Bürgermeister zu werden. Nun bin ich einer der Dienstältesten im Land. Und ich überlege, wie ich mit meiner begrenzten Lebenszeit, die mir noch bleibt, umgehe.
Was ist wichtig?
Mir und anderen?
Max Frisch hat schon vor Jahrzehnten die richtigen Fragen gestellt. Sein Fragebogen ist legendär. Und schon die erste Frage stellt uns vor unlösbare Probleme.
»Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?«
Wie sollte einer von uns diese Frage objektiv beantworten? Wir können nur Rechenschaft geben über das, was wir getan und unterlassen haben.
Ich habe gelebt, geliebt, gelitten, gestritten, gefeiert, geweint, gelacht, geküsst wie jeder andere auch, ich habe getrauert, gelernt, gebangt, gehasst, ich habe verdammt, verflucht, verteufelt, ich habe aufbegehrt, ich hab mich gefreut, ich habe zuweilen einen über den Durst getrunken, hab wie ein Wilder trainiert, hab musiziert, hab referiert, habe doziert, Attacken pariert, hab mich in Widersprüche verstrickt, habe gestreichelt, getastet, habe gefühlt, mich durchgewühlt, hab rebelliert, fintiert, paraphrasiert, habe gedichtet, was krumm war gerichtet, ich habe kommentiert und glossiert.
Und manchmal war ich verzweifelt. Und verzage immer noch, wenn kein Ausweg in Sicht ist. Die dicke Haut des Berufspolitikers ist mir nie gewachsen.
Deshalb trifft mich Schmähkritik noch immer.
Gewiss: Wer austeilt muss auch einstecken können. Aber auf die Ebene, auf die sich so mancher Gegner begibt, möchte ich nicht abstürzen. Dann lieber leiden!
Mit den Sozialen Medien, mit Facebook und Twitter hat sich die Welt verändert, nicht in jedem Fall zum Besseren. Die Apologeten des Postfaktischen haben die Netze gekapert, und wir stehen weitgehend machtlos vis-à-vis. Wir müssen gegenhalten, das bleibt uns nicht erspart. Denn resignieren dürfen wir nicht, allen Problemen zum Trotz.
Das Geschäft wird von Jahr zu Jahr schwieriger, kritisiert wird heftiger, persönlicher, direkter. Vieles geht unter die Haut. Seit Monaten stehe ich im Feuer, teile selbst aus und fühle mich unwohl dabei.
Ich bin aber ein Mensch aus Fleisch und Blut mit Emotionen und Ängsten und Sorgen, kein Roboter, keine Maschine; ich trage Verantwortung für meine kleine Welt, meinen Mikrokosmos im Illtal.
Im Amt. Und in der Familie.
Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt erfahre ich die turbulente Welt. Doch es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, die Höhen und Tiefen der täglichen Achterbahnfahrten auszugleichen.
Ich habe meine Geheimnisse, und eines habe ich lange gehütet: Mein Sohn ist anders als andere. Er ist, wie er ist. Wir lieben ihn. Wir achten ihn. Wir schätzen ihn. Wir fördern ihn.
Er hat besondere Talente. Mit eineinhalb hat er die ersten Orgeltasten gedrückt, um Alle meine Entchentöne zu suchen und zu finden. Er ist eigen, gewiss. Ein eigener Mensch, ein eigener Charakter, ein eigener Typ. War er autistisch? Nein. Das wäre ein Etikett.
Mit drei konnte er auf dem Klavier spielen, Geburtstagslisten auswendig rezitieren. Aber in Kästchen oder Schubladen, wie sie Schulen und Schulbürokraten noch immer bauen, hat er nie gepasst.
Ob das wichtig ist? Wichtig ist, dass er weiß, was er weiß und besondere Talente hat und dass andere dies auch wissen. Das schätzen wir sehr. Endlich ein Stück Normalität. Aber was ist schon Normalität?
Heute ist er Profi für Digitales.
Analog spielen wir Klavier zu vier Händen: Diabelli. Er die Führungsstimme, ich die Begleitung. Und ich staune, wie er führt! Hey, das ist ein Leben!
Er hat den Blues im Blut. Und Bach spielt er mit mathematischer Präzision. Die ständige Sorge, was aus dem Jungen nur werden soll, hat sich als unbegründet erwiesen.
Er ist ein Goldschatz, der Klavier spielt und mit fotografischem Gedächtnis gesegnet ist. Wir lieben und wir bestärken ihn. Es war unser längster und härtester Kampf, der uns geprägt und gestählt hat – gegen alle Widerstände.
Wir haben ihn gewonnen und dabei erfahren, dass ein jeder Mensch seine je eigenen Talente hat.
Das Leben ist tatsächlich eine Wundertüte. Glaubt also nicht denen, die Menschen in Schubladen stecken.
Ich habe noch keinen Menschen erlebt, der in eine Schublade passt. Lebt euer Leben mit denen, die ihr liebt, mutig und unkonventionell, gerade in Zeiten der allumfassenden Formatierung und Konditionierung und Digitalisierung.
Schwierigkeiten? Die gibt’s. Gewiss. Aber:
Man wächst an Problemen.
So haben wir gelernt, zu kämpfen und zu lieben.
Erst haderst du mit dem Schicksal, fragst nach dem Warum? Doch gewinnen kannst du nur, wenn du dein Leben, dein Schicksal, deinen Weg akzeptierst. Du hast eine Lebensaufgabe zu lösen.
Deine Lebensaufgabe.
Du lernst, dass es Dinge im Leben gibt, die wichtig sind und Dinge, die andere für wichtig nehmen, die aber doch so belanglos sind.
Man muss sich Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen, hat Camus geschrieben. Wie recht er hat.
Was wäre das doch für ein langweiliges Leben, wenn alles immer glatt ginge. Wir wüssten das Glück des Augenblicks kaum zu schätzen.
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