Armin König

Der "Rauscher" – ein neues Standardwerk zur christlichen Soziallehre?

Anton Rauscher (Hrsg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre. Duncker & Humblot (Berlin) 2008. 1129 Seiten. ISBN 978-3-428-12473-2.

Die Entwicklung scheint paradox: Während der christliche Glaube und die Bindungskraft der Kirchen in Europa schwächer geworden sind, gewinnt die Katholische Soziallehre wieder an Attraktivität. Die Menschen suchen Orientierung und Argumentationshilfe. Und so ist sie wieder auf der politischen Agenda, die Katholische Soziallehre. Seit dem gemeinsamen Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz 1997 war es still geworden um die christlich geprägte, Werte orientierte Gesellschaftspolitik. Den Globalisierern und Neoliberalisten galt der „rheinische Katholizismus“ als provinziell und anachronistisch. Mit dem Leipziger Parteitag wurde auch die CDU ihr untreu. Doch im Zug der Weltfinanzkrise gibt es offensichtlich einen Paradigmenwechsel, der sich schon mit der Politik der Großen Koalition unter Angela Merkel andeutete. Gerechtigkeit, Solidarität, Folter und Menschenrechte, Rationalität und Technik, die Grenzen von Wissenschaft und Technik beschäftigen die Menschen nach einer Phase des Konsums und des Materialismus erstaunlich stark.

Deshalb kommt das neue Handbuch der Katholischen Soziallehre, herausgegeben von Anton Rauscher m Auftrag der Görres-Gesellschaft, gerade richtig. Das Handbuch bietet einen fundierten Überblick über alle wesentlichen Policy-Felder. Es will in einer fragmentierten Welt Orientierungshilfen geben. Renommierte Wissenschaftler (u.a. Isensee, Kirchhof, Ockenfels, Höffe, Bergsdorf, Ott) setzen sich auf über 1100 Seiten in 81 problemorientierten Beiträgen mit wesentlichen Fragen sozial und ethisch fundierter Politik auseinander. Themenfelder sind u.a. das christliche Menschenbild in der Politik, Menschenwürde und Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Arbeit und Kapital, Corporate Social Responsibility, die Verantwortung der Tarifpartner, die Sozialbindung des Eigentums, nachhaltiges Wirtschaften, anthropozentrische und ökozentrische Ethik, Bürger- und Zivilgesellschaft, die Rolle der Medien im Informationszeitalter, eine europäische Sozialordnung und die Entwicklung einer Weltfriedensordnung. Auch kontrovers diskutierte Fragen wie „Bellum iustum“ und gerechter Frieden (1021ff.) sowie sozialethische Fragen des Lebensschutzes (361ff.) mit ihren Diskussionen zur Reproduktionsmedizin, zum Stammzellengesetz und zur Präimplantationsdiagnostik werden fundiert und mit eindeutigen Positionen abgehandelt.
Dass ein solch umfangreiches Kompendium auch Schwächen hat, sei nicht verschwiegen. So ist es grenzwertig, wie Wolfgang Ockenfels Theologie der Befreiung aus den 1970er und 1980er Jahren polemisch als sozialistisch geprägt denunziert und ihr jegliche Relevanz für die katholische Soziallehre abspricht. Ockenfels macht es sich zu einfach, wenn er als Leitmotiv schreibt: „Die Kirche hat schon vor dem Sozialismus gewarnt, als er noch in den Kinderschuhen steckte, bevor er die reale Chance des Scheiterns bekam.“ (200) Es ist zwar schlüssig begründet, aber sachlich falsch, wenn er schreibt: “Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Befreiungstheologie weder methodolo-gisch noch inhaltlich eine zukunftsweisende Bereicherung katholi-scher Theologie darstellt. Sie hat weder zur realistischen Analyse der rapide sich wandelnden Weltsituation noch zur praktischen Lösung von globalen Sozialproblemen beigetragen. Insofern einige ih-rer Vertreter (wie Enrique Dussel, Ernesto Cardenal, Jon Sobrino) sozialistischen Utopien anhingen und den ‚Klassenkampf’ auch noch theologisch anheizten, waren sie für die Befürworter der Katholischen Soziallehre (wie Joseph Höffner, Franz Hengsbach und Wilhelm Weber) nicht mehr akzeptabel.“ (200)
Das ist rein klerikal gedacht und wird der Problematik und der historischen Entwicklung nicht gerecht.
Geradezu reaktionär ist der Beitrag des Opus-Dei-geprägten Jürgen Liminski, dessen Formulierungen zuweilen hart am Rande der Komik sind etwa wenn der zehnfache Vater über Sexualität aus vati-kanischer Sicht schwadroniert: „Auch die körperliche Liebe bedarf immer wieder der Bestätigung; der Vollzug der Ehe, die Hingabe braucht die Aktualisierung, das jetzt in Raum und Zeit. Der Leib ist das Gut der vollständigen Hingabe.“ (279) Von Novalis über den „innersten Kern anthropologischer Wirklichkeit, die da Leib heißt“ (279) über Johannes Pauls II. fragwürdige Beschreibung, wonach die Frau „in gewissem Sinn sich selbst angesichts des Mannes [entdeckt], während der Mann durch die Frau seine Bestätigung erfährt“ (Mulieris dignitatem) bis hin zu einem reaktionären Männer- und Frauenbild reicht die Fülle der Peinlichkeiten. Beim nächsten Mal gnadenlos rausschmeißen, kann man da nur empfehlen.
Aber es gibt auch exzellente Beiträge. Dafür steht beispielsweise Paul Kirchhof mit seinem fundierten Beitrag „Menschenwürde und Freiheit“. (41ff.) Die „Positivität der Würdegarantie“ (43), die so selbstverständlich auf der Welt nicht ist, wird brillant entwickelt. „Das Christentum lehrt ein Bild des Menschen, der durch Geist, Verstand und freien Willen eine einzigartige Sonderstellung einnimmt und einen eigenen Auftrag empfängt.“ (42) Kirchhof führt diesen Gedanken fort, um die radikale Modernität und Universalität des Anspruchs auf Würde und Freiheit zu begründen: „Der Mensch ist zwar auch ein Vernunftwesen – animal rationale – wird aber wesentlich durch seine Eigenschaft als Geschöpf und Ebenbild Gottes bestimmt. Der Mensch hat – als Gottes Ebenbild und Gleichnis erschaffen – eine unsterbliche Seele und führt ein Dasein um seines Heils willen. In dieser Lehre von der Würde des Menschen liegt ein radikaler Gleichheits- und ein ebenso entschiedener Freiheitssatz. Zugleich wird dem Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit die Natur anvertraut; der Mensch kann von der Natur Besitz ergreifen, sie zur Entfaltung seiner Würde und Freiheit nutzen.“ (42)
Als souverän erweist sich auch Franz-Xaver Kaufmann, lange Jahre Professor für Sozialpolitik und Soziologie, der sich in jüngster Zeit auf dem Gebiet der Demographie profiliert hat. Sein Beitrag zu „Ehe und Familie zwischen kultureller Normierung und gesellschaftlicher Bedingtheit“ liefert substantiierte Beiträge zur Entste-hung der modernen Familie und ihrer gesellschaftlichen Wirkung, zum allmählichen „Umbau der Gesellschaftsstruktur“ (265) und den Folgen für die Universalität des christlichen Menschenbildes sowie zu aktuellen Herausforderungen, Leistungen und Problemen der Familien im gesellschaftlichen und demographischen Wandel. „Für Deutschland ist charakteristisch, dass die posttraditionalen privaten Lebensformen extrem kinderarm sind, während die Familien tendenziell traditionellen Mustern folgen“.(269) Kritisch beschreibt Kaufmann die Hindernisse für eine echte Gleichberechti-gung in der Gesellschaft: „Dass es so wenig Familien mit gleichberechtigter Erwerbs- und Familienbeteiligung beider Geschlechter gibt, hängt mit strukturellen Rücksichtslosigkeiten von Staat und Gesellschaft zusammen: z.B. dem Fehlen verlässlicher Ganztagsbetreuung der Kinder im Bildungswesen, wenig ausgebaute Kleinkindbetreuung, Benachteiligung von Familien im staatlichen Abgabensystem, männerdominierte Beschäftigungsmuster in der Wirtschaft, usw.“ (270)
Anders als der ultramontanne, reaktionäre argumentierende Opus-Dei-Liminski stellt Kaufmann fest, dass die katholische Ehemoral ihre Verbindlichkeit verloren hat angesichts „der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Optionserweiterung, insbesondere im Bereich von Bildung und Konsum“. (270)
Trotz aller Schwächen (Liminski, Ockenfels) kann festgestellt werden:

Der „Rauscher“ dürfte zu einem neuen Standardwerk werden, der in der Werte-Diskussion substantiierte Argumentationshilfen liefert.

(c) 2009 Armin König