(c) Armin König
Vortrag beim 1. Illinger Bildungskongress am 20.3.2009
Warum mischt sich eine Kommune in Fragen der Bildung und Erziehung ein? Kann sie überhaupt mitreden? Reicht es nicht, wenn sie als Schulträgerin Titel und Mittel im Haushalt zur Verfügung stellt? Ist nicht das Land zuständig für Bildung und Erziehung? Und wohin soll das alles führen?
Weil es Probleme gibt, und weil wir gern etwas ändern wollen.
Wir erziehen die Erwachsenen von morgen mit der Didaktik/Methodik von heute[1] in einem System von gestern. Das ist nicht befriedigend.
Prof. Wassilios Fthenakis schreibt: „Das gegenwärtige System der Tageseinrichtungen in Deutschland entspricht – trotz mancher positiver Entwicklungen der letzten Jahre – weder den Ansprüchen moderner, forschungsgestützter Frühpädagogik noch den Anforderungen, die aus einem seit geraumer Zeit akzeleriert verlaufenden gesellschaftlichen Wandel resultieren.“[2]
Bildung ist der Schlüssel zur Zukunft[3]. Dafür brauchen wir neue Schlüssel und neue Schlösser. Wobei wir von Bildungsschlössern weit entfernt sind, sofern wir keine Luftschlösser bauen wollen. Ich will das auch nicht aus dem Elfenbeinturm heraus diskutieren, sondern aus den Erfahrungen des Praktikers heraus, der in einem Kultur- und Bildungsort Verantwortung trägt.
Und deshalb nehme ich, nehmen wir die Herausforderung an, wenn Fthenakis schreibt: „In diesem Kontext stellt der Reformbedarf nicht nur eine fachliche, sondern auch vor allem eine politische Herausforderung dar.“[4]
Da die Kommunen originär für die Daseinsvorsorge ihrer Bürger zuständig sind – und damit auch für deren Zukunft und für die Zukunft der Gemeinde, haben sie das Recht, in Zukunftsfragen wie Bildung und Erziehung mitzureden und anzuregen. „Aufmischen, Einmischen, Mitmischen“[5] ist auch Städten und Gemeinden nicht verboten, vor allem dann, wenn sie Geld zur Verfügung stellen. Und wir stellen viel Geld für die Kindererziehung zur Verfügung.
Partizipation gilt deshalb auch für Kommunen. Wir wollen mit dazu beitragen, dass Kinder die Welt entdecken und begreifen können.
In ihrem Buch „Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können“ hat Donata Elschenbroich[6] wesentliche Fragen frühkindlicher Erziehung gestellt: „Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Jahren erfahren haben, können, wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?“[7] Der Hirnforscher Manfred Spitzer hat diese Erforschung unter die Überschrift „Ihr sollt euch wundern!“[8] gestellt. Wundern über die Welt, wundern über die Menschen, wundern über Tiere und Pflanzen.
Klingt es nicht wundervoll, wenn Donata Elschenbroich Filme dreht, die Titel tragen wie „Die Farbe des Echos. Kulturen musikalischer Erziehung“ oder „Ins Schreiben hinein. Kinder auf der Suche nach dem Sinn der Zeichen“. Oder „Die Befragung der Welt. Kinder als Naturforscher“?[9] Das ist nicht übertrieben.
Wer zurückdenkt an seine eigene Kindheit, wird sich vielleicht an ähnliche Entdeckungen erinnern können. Den Moment, als er zum ersten Mal in die Ill gefallen ist, wird hier im Illtal niemand vergessen. Triefend nass stapften wir nach Hause. Wir rochen nach Ill, wir sahen aus, als seien wir durch den Bach gezogen worden, und wir schlotterten – vor Kälte und vor Angst, weil wir zu Hause eine Gardinenpredigt zu erwarten hatten. Es war ja nicht alles nett und schön damals. Immerhin war ich glücklich, in meiner Kindheit kaum einmal eine Ohrfeige bekommen zu haben, geprügelt wurde ich nie. Es ist trotzdem oder gerade deshalb etwas aus mir geworden. Ich durfte Musik machen auf einer Blechtrommel, was selbst meine geduldigen, stolzen Eltern zuweilen nervte, und ich durfte Musik hören, was das Größte für mich war. Unser Vermieter spielte auf einem alten Klavier Tanzmusik, sein Sohn spielte Trompete wie Louis Armstrong. Später habe ich selbst Klavier gelernt und im Musikverein die erste Trompete gespielt – am liebsten wie Louis Armstrong. Oh when the Saints blase ich noch heute zu später Stunde auf der kleinen, verbeulten Taschentrompete. Wenn es also Prägung in frühester Kindheit durch Musik gibt, dann habe ich sie erlebt, und sie hatte Folgen. Musik spielt noch heute eine wesentliche Rolle in meinem Leben, sie bereichert meine Welt. Als Kind wurde ich dafür sensibilisiert.
Ich durfte nach Herzenslust spielen – was wir auch taten, notfalls auf verbotenen Wiesen. Noch heute erinnere ich mich an die changierenden Farben der Grasflecken auf meiner Hose, und den Geruch des eingefetteten Lederballs – oder ist es der Geruch der Grasflecken und die changierende Farbe des Leders? Es waren Wunder der Sinnlichkeit – wie der Geschmack des eiskalten Wassers, das wir aus einer Schöpfkelle tranken. Geblieben sind auch die Erinnerungen an die Stürze auf dem Braschenplatz. Das Brennen auf und unter der Haut haben wir sowenig vergessen wie den Moment, als das Pflaster schließlich mit einem Ruck von unserem Knie oder dem Ellenbogen gezogen wurde.
45 Jahre ist das her. Und doch sitzen diese völlig unwesentlichen Erfahrungen, die wir in unserer digitalen Welt längst nicht mehr brauchen, in unserem Hirn – so wie der „Geschmack von Apfelkernen“[10]. Eric Kandel hat seine Entdeckungen auf der Suche nach dem Gedächtnis auf faszinierende Art beschrieben.
Ja, wir durften uns noch wundern. Wir haben die Welt erfahren, ertastet, erschmeckt, erkundet. Und heute? In der Informations- und Mediengesellschaft? Der Welt der Videospiele?
„Die Welt ist flach“, hat Thomas Friedman[11] seinen Bestseller über eine globalisierte, digitalisierte Welt genannt. Es geht dabei um „Kräfte, die die Welt einebneten“[12], um „Workflow-Software und die digitale Organisation des Arbeitsablaufs“, um Outsourcing und Offshoring, um Virtualisierung und die Globalisierung des Lokalen, um rasend schnelle Verbindungen in der Informationsgesellschaft, aber auch um Handys und Schusswaffen und Videospiele. Nichts ist an dieser Welt sinnlich. Sie bietet Reize in Überfülle, aber keine Sinnlichkeit.
Zu besichtigen sind diese Phänomene des Reiz-Overkills tagtäglich auf den Flachbildschirmen dieser Welt, mit der wir immer weniger zurechtkommen, weil uns die sinnlichen Erfahrungen verloren gehen. Sind unsere Kindergärten, sind unsere Schulen darauf eingestellt? Haben sie ein Kontrastprogr
amm zur Glotze anzubieten? Einen Gegenentwurf, der Medienkompetenz verbindet mit Naturerlebnissen? Der vermittelt, dass es Vertrauen von Mensch zu Mensch gibt? Dass man sich aneinander festhalten und aneinander reiben kann? Oder kapitulieren wir?
Für viele Kinder (und noch mehr Erwachsene) ist die Welt tatsächlich flach geworden. Das ist verheerend, wenn man bedenkt, dass gerade die ersten frühkindlichen Erfahrungen „wichtige Spuren im Gehirn“[13] ziehen und uns prägen. Sie prägen ja nicht nur uns, sie prägen auch unsere kleinen Familienwelten, unsere größeren Gemeinschaften, unsere Gemeinden.
Wir erleben seit Jahren unglaubliche Veränderungen, Transitionen, wie Fthenakis sagt. Es sind nicht nur die Übergänge vom Kindergarten zur Schule.
Transitionen: dazu gehören die Effekte des demographischen Wandels – ein Thema, das uns gerade in Illingen sehr intensiv begleitet, seit wir 2006 unser Programm Illingen 2030 – Projekt Zukunft begonnen haben. Und ohne das Projekt Illingen 2030 gäbe es weder das Haus der Kinder, das wir derzeit am größten Grundschulstandort in Hüttigweiler bauen noch diesen Bildungskongress, wo es um Transitionen, um Übergänge geht.
Transitionen: das sind auch Übergänge, wie Kinder und Familien sie regelmäßig erleben: Übergänge in die Krippe oder den Kindergarten, Übergänge von der Kita in die Grundschule, von der Schule in das Berufsleben. Manche scheitern. Übergänge können sehr schmerzhaft sein, von Trauer und Tränen begleitet werden – bei Abschieden, Scheidungen, Todesfällen. Oder bei Niederlagen, Enttäuschungen.
Ich möchte Ihnen eine kurze Geschichte der Gemeinde Illingen erzählen, damit Sie wissen, warum auch uns dieses international beachtete und diskutierte Thema beschäftigt.
Illingen war lange ein ländlich-industrieller Marktplatz im Herzen des Saarlandes. Während des Industriezeitalters pendelten hunderte Arbeiter von Illingen zu den Kohlengruben und Stahlwerken in der unmittelbaren Umgebung. Das sorgte für wachsenden Wohlstand bis in die 1960er Jahre. Doch nach der ersten Montankrise im Bergbau und der Stahlindustrie musste die Region einen beispiellosen Strukturwandel bewältigen. Illingen entschied sich damals zum ersten Mal für eine Offensiv-Strategie und beschloss, selbst Wirtschaftsförderung zu betreiben. Der Erfolg gab dem Bürgermeister und dem Gemeinderat recht. Illingen wandelte sich zu einem Dienstleistungs- und Gesundheitsstandort. Ein Gymnasium wurde gebaut, zwei Gewerbegebiete erschlossen, gebaut und vermarktet. Innerhalb von 15 Jahren wurden allein in den Gewerbegebieten 1500 Ersatzarbeitsplätze in alternativen Branchen geschaffen. So konnte der schwierige Strukturwandel, der das einstige Bergbau- und Stahlland Saarland tief veränderte, ohne bruchartige Verwerfungen bewältigt werden. Die Beschäftigtenstruktur in der Kommune änderte sich Zug um Zug. Die Gemeinde wurde wohlhabender und baute Sporthallen, ein Hallenschwimmbad und zwei weitere Gewerbegebiete. Der Dienstleistungssektor gewann erheblich an Bedeutung. Unterdessen wuchs das Pflänzchen der Kultur zu einer respektablen Größe. Aus privaten Initiativen entstand eine unabhängige, von Schülern und Studenten begründete alternative Kultur- und Musikszene. Das war der Grundstock für die spätere Kulturentwicklung Illingens, die auch eine neue Identität begründete.
Illingen wurde eine prosperierende kleine Stadt und entwickelte sich von einem ländlich-industriellen Marktflecken zu einer “Middleclass-Suburbia” – einer mittelstandsgeprägten Wohn- und Dienstleistungsgemeinde am Rande des städtischen Verdichtungsraums. Doch die Aufschwungphase blieb zeitlich begrenzt. Der erste Abschwung erfolgte in der Mitte der 1980er Jahre. Die letzten Stahlwerke der Region und die letzten Kohlengruben wurden geschlossen, und es gab nicht genügend alternative Jobs für die Industriearbeiter. Ein weiteres Problem tauchte auf: Die ersten Abiturienten verließen erst die Schule, dann die Gemeinde, um in größeren Städten zu studieren. Und als sie ihr Studium beendet hatten, mussten sie sich nicht selten qualifizierte Jobs in anderen Städten, ja in anderen Bundesländern suchen. In Illingen selbst gab es nicht genügend qualifizierte Jobs für gut ausgebildete Akademiker. Gute Schulen, gute Ausbildung, aber schlechte Karrierechancen in der Region – das war ein Paradoxon für verantwortliche Politiker im Rathaus und im Gemeinderat, denen man den Stellenwert von Bildung und Wissen gerade erst nähergebracht hatte, ein irritierendes Problem, gewissermaßen der Fluch der guten Tat.
So viele Übergänge, so viele Diskontinuitäten, so viele schmerzhafte Veränderungen, so viele Ängste vor neuen Phasen, neuen Entwicklungen – so viele neue Chancen. Weil wir nie aufgegeben haben, weil wir Resilienz-Erfahrungen haben, hatte Illingen trotzdem immer eine gute Zukunft.
Damit begegnen wir einem weiteren Wort, das auch für die Pädagogik von Bedeutung ist. Der Begriff Resilienz geht auf die Entwicklungspsychologie zurück und bezeichnet die flexible Belastungsbewältigung nach Niederlagen und traumatischen Ereignissen.
„Resiliente Kinder rechnen mit dem Erfolg eigener Handlungen, sie gehen Problemsituationen aktiv an, sie nutzen ihre Ressourcen/Talente effektiv aus, sie glauben an eigene Kontrollmöglichkeiten, können aber auch erkennen, wenn etwas realistischerweise für sie unbeeinflussbar, d.h. außerhalb ihrer Kontrolle ist. Diese Fähigkeiten und Kompetenzen führen dazu, dass Ereignisse als weniger belastend, sondern vielmehr als herausfordernd wahrgenommen werden. Dadurch werden mehr aktiv-problemorientierte und weniger passiv-vermeidende Coping-Strategien angeregt.“[14]
Trotz aller Widrigkeiten funktioniert dies anscheinend recht gut, wie Fthenakis feststellt:
„Erstaunlich ist … die große Zahl von eher unauffälligen bis hin zu eindeutig positiven Entwicklungsverläufen innerhalb einer Alterskohorte, also von Kindern mit jeweils gleichen oder doch weitestgehend ähnlichen Rahmenbedingungen.“[15]
Wir haben uns das als Kommune schon vor einigen Jahren zu eigen gemacht – mit unserer Veranstaltungsreihe „Kinder stark machen“. Wir in Illingen haben gespürt, dass auch eine Kommune in den Irrungen und Wirrungen der Postmoderne Verantwortung für junge Menschen übernehmen muss. Wir wollen Eltern und Pädagogen stärken, damit sie junge Menschen stärken können. Und wir wollen helfen, offenkundige Fehler im System zu korrigieren und zu überwinden, indem wir Neues schaffen und alte Fesseln sprengen. Damit haben wir uns selbst als Kommune Kompetenzen angeeignet, von denen Familien, die in unserer Gemeinde leben, profitieren können. In einer Zeit des demographischen Wandels und der zunehmenden Konkurrenz unter Kommunen ist dies wichtig. Wir wollen damit Bindungen und Verbindungen stärken.
Denn es gibt eben auch die gescheiterten Übergänge, die Krisen und – wie wir den Schlagzeilen entnehmen können – in mehr oder regelmäßigen Abständen die Katastrophen, in denen sich Gescheiterte mit
unglaublicher Gewalt an der Welt, in der sie groß geworden sind, rächen. Dann herrscht blankes Entsetzen im Land, und obwohl solche Taten nicht zu verstehen sind, wird nach den Gründen gefragt. Ich will mich an dieser Diskussion nicht beteiligen, weil wir die Fragen nicht beantworten können. Was wir aber beantworten können, ist die Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft, nach dem Menschenbild dieser Gesellschaft.
Wenn wir Menschen produzieren, die nur nach Nützlichkeitsaspekten funktionieren, dann dürfen wir uns über Defizite und Defekte nicht wundern. Wer den Darwinismus und das „Survival of the fittest“ im Überlebenskampf der Arten zum obersten Prinzip erhebt, züchtet sich die Exemplare für den Menschenpark[16], denen es an Menschlichkeit, an Güte, an Nächstenliebe, Solidarität, an Aufmerksamkeit und Bindungsfähigkeit mangelt.
Wer aber schon in frühester Kindheit dafür sorgt, dass Kinder eine Welt der Wunder mit allen Sinnen erleben und genießen können, wer ihnen die Chance gibt, in Geborgenheit und in Sicherheit aufzuwachsen, der wird erleben, dass diese Kinder, die mit Resilienz ausgestattet sind, auch Rückschläge und Zurücksetzungen bewältigen können.
Dazu brauchen wir neue Formen der Zusammenarbeit, neue Netzwerke – und Begeisterung. Weil sich die Welt der Postmoderne verändert hat, weil Informationen und Netzwerke die Welt prägen, müssen sich auch unsere Bildungssysteme verändern, die so furchtbar festgefahren, starr und selbstbezogen sind – und auch die Pädagogen, die dort arbeiten. Das geht uns in den Verwaltungen nicht anders. Auch dort stehen Quantensprünge bevor.
Wir wissen nicht, wie die Zukunft wird, aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist auch nicht, wie viel Wissen wir vermitteln, obwohl Schulen sich so sehr auf reine Wissensvermittlung konzentrieren. Albert Einstein war klüger: „Phantasie ist wichtiger als Wissen, weil Wissen begrenzt ist“, hat er gesagt. Deshalb müssen wir Kinder motivieren, selbst zu lernen, zu forschen, zu probieren – die Welt zu entdecken mit allen Sinnen.
Dazu brauchen wir Erzieherinnen und Erzieher, die den Mut haben, Neues zu erproben und die nicht nach Schema F vorgehen. Und wir brauchen Lehrer, die mit Begeisterung bei der Sache sind, die brennen für ihre Mission. Die Passion nicht als Leidensgeschichte, sondern als Leidenschaft begreifen. Wenn wir der Meinung sind, dass Schule in der postmodernen Informationsgesellschaft einen pädagogischen Quantensprung braucht, müssen wir innovative Lehrerkollegien unterstützen. Sie brauchen Freiheiten, um Kinder zu begeistern. Und Kinder lassen sich begeistern!
Geben wir ihnen Freiheit! Und dann, liebe Pädagogen, machen Sie etwas daraus!
„Die „Lebenswelten, in denen wir aufwachsen“[17] haben sich drastisch geändert, nicht aber die Schule. Der große Quantensprung ist ausgeblieben. Das System ist in sich selbst gefangen. Um es in Anlehnung an Niklas Luhmann zu sagen:
Das Schulwesen ist ein autopoeitisches System[18], das sich selbst genügt und selbst erzeugt und erhält. Das ist schlecht. Es müsste gründlich gerüttelt und geschüttelt werden. Das können nur Externe. Damit sich die Lage ändert, finden Kongresse wie dieser statt.
Das Schulsystem leidet aber auch daran, dass Lehrer von Erzieherinnen erwarten, dass sie sich an das System anpassen und Übergänge erleichtern. Nur wenigen dämmert, dass ja auch die Lehrer und Lehrerinnen dazu beitragen können, das alte Kästchendenken zu überwinden und neue Kooperationsformen aufzubauen. Wir wollen das unterstützen.
Ich habe auch vom Kindergarten profitiert, obwohl ich in einer intakten Familie mit drei Geschwistern aufgewachsen bin. Ich habe beides erlebt – meine lebensfrohe Familie und meine Freunde im Kindergarten. Für mich war der Kindergarten nie eine Bewahranstalt. Ich habe dort gelernt, dass Jungs gern angeben, wenn sie imponieren wollen – früher haben sie den Beruf des Vaters oder noch lieber das Auto angegeben. Wir hatten noch kein Auto.
Ich war also ein Kindergartenkind, ich hatte eine Oma, die mir mit fünf das Lesen beigebracht hat, weil ich den Neckermann-Katalog und die Witze in der Hörzu unbedingt lesen wollte – so profan ist das manchmal! – und ich hatte gute Lehrer, an die ich mich bis heute gern erinnere und die mir das Leben lebenswert und lesenswert gemacht haben, weil sie in mir Begeisterung für Literatur, Kultur, Begeisterung für Liebe und Leidenschaft, Freude und Trauer, Sport und Wort, Begeisterung für den Menschen geweckt haben.
Ich hatte auch schlechte Lehrer. Aber da halte ich mich an Arnfrid Astels Epigramm: „Ich hatte schlechte Lehrer / das war eine gute Schule“[19]. Derselbe Astel schrieb auch das Epigramm unter dem Titel „Berechtigte Frage eines lernwilligen Schülers an seinen Lehrer“[20]: „Wie kann ich lernen, was Sie wissen, / ohne zu werden, wie Sie sind“.
Ein guter Lehrer hält das aus. Ich wäre selbst gern einer geworden.
Mit 18 habe ich aus Frust über meinen Schulsport meinen ersten pädagogischen Fachartikel geschrieben: „Kreativität im Sportunterricht“[21] und später „Innovationen im Schulsport – „Aspekte einer Neuorientierung“[22]. Ich habe Sport und Germanistik für Lehramt studiert, war Trainer, Glossist, Kolumnist und wollte eigentlich Deutsch- und Sportlehrer werden, und ich bin stolz auf ein gutes Examen. Doch dann geriet ich in die Schule – und ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich nie in diesem Schulsystem unterrichten wollte. Den Ausschlag gab eine Lehrprobe. Ich hatte mit den Schülern das Gedicht „Hiroshima“ von Marie Luise Kaschnitz[23] erarbeitet. Es war eine ernsthafte und doch von Begeisterung für Literatur und Poesie geprägte Unterrichtsstunde. Anschließend bin ich von meinem Tutor in Grund und Boden kritisiert worden. Mir hat kein Hut mehr gepasst. Ich nehme an, es war Eifersucht. Die Schüler hatten zum ersten Mal erlebt, wie man Poesie AUCH vermitteln kann. Das war in seinem Welt- und Unterrichtsbild nicht vorgesehen.
Ich bin dann Journalist geworden, weil ich mich nicht verbiegen wollte.
Erst in den letzten Tagen ist mir die Idee gekommen, dass ich vielleicht auch ein guter Lehrer geworden wäre und dass die eine oder andere Schülerin, der eine oder andere Schüler vielleicht von meiner Begeisterung für Literatur und Kultur, für Sport und Wort, profitiert hätte. Aber es lag am System.
Für einen, der am System gelitten hat, stellt sich immer die Frage: Kann ich mich revanchieren, indem ich das System verbessere? „Yes we can“, würde Barack Obama jetzt sagen.
In Leipzig auf der Buchmesse ist in der letzten Woche ein Buch des Franzosen Daniel Pennac[24] vorgestellt worden, das den Titel