Ich schätze Joachim Gauck sehr – und das seit Jahren. Aber eigentlich war ich zuerst – ganz parteipolitisch geprägt – klar für Christian Wulff. Mittlerweile sehe ich den Fall differenzierter. Zwar gibt es Ansätze einer „Gauckomanie“, aber mit der US-Obamanie sind sie glücklicherweise nicht zu vergleichen. Gauck selbst könnte trotz seines Alters eine Chance für ein neues Deutschland werden, ein edler Ritter. Für die Prognostiker könnte er sich als Schwarzer Schwan erweisen. Das als notwendige Vorbemerkung.
Es gibt Kampagnen, die kann man nicht aufhalten. Sie entstehen irgendwo, mittlerweile auch im Netz, und wenn sie den richtigen Drive haben, wenn die richtigen Impulse von außen den Drive ständig erhöhen, sind die Kampagnen nicht mehr aufzuhalten. Genau dies erleben wir jetzt mit Joachim Gauck. Aus dem Nichts ist er innerhalb von zwei Tagen zum Bundespräsident der Herzen aufgestiegen – ein bemerkenswerter Nominierungscoup von SPD und Grünen. Und auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Warum ist Angela Merkel nach ihrer Lobrede auf Gauck (zum 70. Geburtstag) diese Nominierung nicht eingefallen? Sie lag doch auf der Hand oder in der Luft – nach all den klugen Worten, die sie für den Bürgerrechtler zu Recht gefunden hatte. Und es wäre ja nicht abwegig oder exotisch gewesen, hätte sie ihn ins Gespräch gebracht. In Kreisen der CSU war Gauck schon 1999 vorgeschlagen worden, wie man den Archiven entnehmen kann. Merkel aber hat das staatspolitisch Naheliegende nicht gemacht und stattdessen die konventionelle parteitaktische Variante gewählt. Da war Gabriel mutiger. Der Punkt geht an die Sozialdemokraten.
Dabei hatte sich gerade die SPD an Joachim Gauck gerieben und abgearbeitet: In Zeiten Manfred Stolpes als Ministerpräsident von Brandenburg kam es zu heftigen Scharmützeln zwischen dem unbestechlichen Stasi-Aufarbeiter und den Sozialdemokraten. Die nach ihm benannte Behörde war in den Reihen von rot-grün nicht immer gut gelitten, bei vielen gar umstritten. Nun ist ausgerechnet der ostdeutsche Theologe und Stasi-Aufarbeiter Gauck Kandidat der Herzen – und dies keineswegs nur bei SPD und Grünen. Ostdeutsche Liberale waren die Ersten, die öffentlich erklärten, sie möchten nicht für Christian Wulff stimmen, wie es Angela Merkel nach Gesprächen mit den Koalitionspartner vorgeschlagen hat, sondern für Gauck. Die BILD-Zeitung pusht den Theologen, im Netz twittern tausende gegen Wulff (#notmypresident) und für Gauck (#mygauck). Und das, obwohl Deutschland gerade Schiffbruch mit einem Nicht-Politiker erlitten hat, was auch der Grund dafür war, dass die Koalition mit ihrem Nominierungsvorschlag auf Nummer Sicher ging.
Horst Köhler wollte gern eine Volkswahl des Präsidenten initiieren, um der Macht der Parteien ein direktdemokratisches Mandat entgegenzusetzen. Mit dem populär-populistischen Vorschlag stieß er auf Granit. Doch ausgerechnet mit seinem Rücktritt macht Köhler urplötzlich ein Plebiszit möglich: ein Netz-Plebiszit. Das Volk ergreift derzeit auf ganz eigene Art die Initiative und schickt politische Liebesbriefe für Gauck in die Weiten des WorldWideWeb. Das Volk praktiziert eGovernance. Der Politikwissenschaftler Hans-Martin Uehlinger hat diese Art der Bürgerbeteiligung einmal „unkonventionelle Partizipation“ genannt. Und diese unkonventionelle Partizipation scheint für diese plötzliche Präsidentenwahl Wirkung zu zeigen wie einst die Bürgerinitiativen, die die Etablierten zunächst auch nicht ernst genommen hatten. Der Name Gauck ist plötzlich allenthalben präsent als Wunschkandidat, sonst politikferne Bürger geben ungefragt Statements ab und wollen den Bürger-Rechtler ins Schloss Bellevue twittern.
Was da geschieht, ist ein kleines politisches Wunder. Erklären lässt es sich nur aus den politischen Konstellationen: Eine Nation giert nach Orientierung, doch weder der bisherige Bundespräsident noch die Bundeskanzlerin können sie in der neuen Unübersichtlichkeit des postmodernen Finanztransaktionszeitalters geben. Im Gegenteil: Alles verschwimmt, nichts ist geklärt, die Menschen und die Politiker sehen sich als Getriebene. „There is no Alternative“, müssen sie immer wieder hören, obwohl sie eine leise Ahnung haben, dass die großen politischen Entscheidungen eigentlich ganz anders ausfallen könnten, vielleicht sogar müssten. Die Demokratie scheint geschwächt. Keiner weiß wirklich, wer derzeit den Ton angibt, die gefühlte Gerechtigkeitslücke wächst von Tag zu Tag. Just in dieser Zeit der Orientierungslosigkeit ist Horst Köhler zurückgetreten. Nach allem, was wir inzwischen wissen, war es eine Entscheidung, die er in größter innerer Not traf. Joachim Gauck hat eine entsprechende Andeutung gemacht, auch Insiderberichte über die Einsamkeit des Präsidenten geben Anhaltspunkte. Wir sollten Köhlers Entscheidung deshalb respektieren. Das ändert nichts daran, dass dieser Rücktritt staatspolitisch falsch war. Aber das ist eine andere Geschichte.
Nun also verschicken Twitterer Kurzmeldungen, auf dass sich ihre Avatare zu einem Gauck-Puzzle im Internet zusammenfügen. Viele kennen Gauck eigentlich gar nicht. Sie folgen einem populären Trend. Die entstehende Gauckomanie wird von den Medien trefflich gefördert. Dass dies durchaus gefährlich ist, wissen wir seit der Obamanie in den USA. Dort wurden enorme Erwartungen geweckt, die Obama nie erfüllen konnte. Auch jetzt wird wieder ein Stellvertreter aufgeladen mit Projektionen, Hoffnungen, Wünschen, Erwartungen. „Es kann ja nur besser werden“, hören oder lesen wir. Und so ganz falsch sind diese Statements ja nicht. Und schon entwickelt sich ein Phänomen.
Die erste Erklärung für das Phänomen erscheint einfach: Gauck ist der Einzige, der Angela Merkel paroli bieten kann, nachdem diese all ihre Kritiker vom Feld gefegt hat – ein unbestechlicher Charakter, der Widerstand gewohnt ist, könnte die Unbequemlichkeit gegenüber der Bundesregierung und der Kanzlerin an den Tag legen, die Köhler versprochen, aber nur selten gelebt hat. Derzeit steht Merkel allein und konkurrenzlos auf weiter Flur. Das irritiert. Friedrich Merz ist weg, Edmund Stoiber ist weg, nun ist auch der nette Herr Köhler von der politischen Bildfläche abgetreten, bald wird der scharf analysierende Roland Koch aus dem Spiel sein, und auch Jürgen Rüttgers wird sich womöglich nicht halten können. Und sollte Christian Wulff durchfallen, wäre auch er, der nette Niedersachse, ganz aus dem Rennen. Was gleichzeitig die Kanzlerschaft Angela Merkels ernsthaft gefährden, womöglich sogar beenden könnte. Sind deshalb so viele Menschen so begeistert von der Idee der Gauck-Kandidatur? Ich glaube das nicht. Dieser Ansatz bietet nicht die stimmige Erklärung.
Die zweite Erklärung erscheint plausibler:
Die Kanzlerin, selbst mit großen Vorschusslorbeeren gestartet, hat die Erwartungen vieler Förderer nicht erfüllt. Die Wirtschaft ist zornig, weil schwarz-gelb sie nicht wie erwartet von staatlichen Fesseln befreit hat und zudem ihr Lieblingsprojekt „Steuersenkungen“ für diese Wahlperiode gekillt hat. Und die Wirtschaft hat noch immer lange Hebel und lange Arme und viel Einfluss in die (Springer-)Medien, um missliebige Politiker zu desavouieren. Auch viele Bürger sind unzufrieden. Angela Merkel stößt populistische Aktionen an, zieht sie zunächst durch, zieht dann wieder zurück, weil sie Kompromisse eingehen muss – und enttäuscht so alle. Die Bürger wissen nicht, wofür Merkel steht, die politische Klasse hält sie für eine Ego-Spielerin. Sie ist weder eine begeisternde Rednerin noch eine überzeugende Charismatikerin, sie gibt weder den Ton noch die Richtung an. Je mehr Kontrahenten auf der Strecke bleiben, um so deutlicher werden die Schwächen der Kanzlerin und CDU-Vorsitzenden. Die Sehnsüchte der Bürger, der Wirtschaft und der Medien nach einer Leitfigur kann sie nicht erfüllen. Sie ist kein Moses, der das Volk in ein gelobtes Land führt, mit Leadership tut sie sich schwer. Obwohl erfolgreich, hat sie ein Problem.
Just in dieser Situation taucht ein brillanter Redner wie Phoenix aus der Asche auf, ein geradliniger Theologe, der Widerstand geleistet hat, der eine Linie verfolgt und der ein bewegtes Leben mit einigen Narben vorzuweisen hat, ein Bürgerrechtler, der Bürgern eine Stimme gibt, die das parteipolitische Gekungel in Berlin bis zum Erbrechen satt haben. Gauck, der Sendbote? Er ist immerhin ein Hoffnungsträger, der die Lücke füllen könnte, die man in den Reihen der Bürgerlichen erkennen kann. Man traut ihm, dem brillanten Redner, zu, dass er wie einst Richard von Weizsäcker Menschen bewegen und ihnen eine Stimme geben kann.
Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am 22. Januar 2010 in einer Laudatio auf Joachim Gauck sagte: „Stilsicher und streitfreudig im besten Sinne des Wortes weisen Sie immer wieder darauf hin: Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit, sie muss immer wieder erkämpft und verteidigt werden. Dafür stehen Sie mit Ihrer Biografie ganz überzeugend Pate.“ Das war ein überzeugendes Plädoyer für ein hohes Amt.
Gauck ist kein Wundermann, der alles kann. Er ist schon gar kein sozialdemokratischer Bannerträger, nicht einmal ein grüner, obwohl er Mitbegründer des Neuen Forums war. Auch aus anderen Gründen muss vor einer Überhöhung, einer zumindest in Ansätzen erkennbaren Gauckomanie gewarnt werden – SPD und Grüne würden sich mit falschen Erwartungen selbst einen Bärendienst erweisen. Gauck ist kein Retter, kein Sendbote, kein Erlöser, obwohl er Theologe ist. Gauck ist Gauck. Zu seinem Anspruch sagt er: „Wer nicht lebt, was er als Möglichkeiten, die in ihm angelegt sind, leben könnte, wer sich so die Vollmacht aus den Händen seines Lebens nehmen lässt, jene Vollmacht, die aus Verantwortung erwächst, der erlaubt sich nicht, zu einer Fülle des Lebens zu gelangen, die ihm möglich ist und die wir alle brauchen.“ Für viele Mitglieder der Bundesversammlung könnte dies ein Impuls sein, die Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen gegeben sind, auch wenn der Satz nicht brillant, sondern kompliziert ist.
Denkbar immerhin, dass die Republik danach eine neue Bundeskanzlerin oder einen neuen Bundeskanzler braucht. Zumal noch einige Rechnungen offen stehen. Andererseits wird die Linke ihn nicht wählen. Sie kann ihn mit ihrer SED-Vergangenheit nicht wählen. Die Stimmen werden fehlen. Rechnerisch dürfte Gauck nicht gewinnen. Aber was taugen in diesen Tagen schon Prognosen, die auf Hochrechnungen aufgebaut sind? „Schwarze Schwäne“, von denen Nicholas Taleb gesprochen hat, sind darin nicht vorgesehen. Gauck könnte aber zum Schwarzen Schwan werden.
Ich gebe zu, das auch ich zunächst in parteipolitischen Kategorien gedacht habe. Wulff als Favorit hat mir gefallen. Nach wie vor bin ich der Meinung, dass er ein guter, respektabler Kandidat ist. Einen Quereinsteiger wollte ich nach all den Problemen, die wir bei Köhler gesehen haben, nicht publizistisch pushen. Doch nach zwei Tagen Bedenk- und Analysezeit muss ich sagen, dass mir der Kandidat Gauck sehr imponiert, mehr als ich mir zunächst zugestehen wollte (weil der Vorschlag von der falschen Seite kam).
Ich werde Joachim Gauck nicht auf ein Podest heben. Ich werde auch keine Tweets unter dem Hashtag #mygauck veröffentlichen. Aber loben darf ich ihn. Weil ich ihn für eine starke Persönlichkeit halte, der die politische Szene bestens kennt. Das ist von Vorteil und unterscheidet ihn von Köhler.
Und wieder kann ich Angela Merkel zitieren, die auf überzeugende Weise darlegte, warum Gauck ein Glücksfall für Deutschland ist:
„Weil Joachim Gauck so eine spannende Persönlichkeit ist, sage ich natürlich aus vollem Herzen, dass ich ihm gerne meine Reverenz erweise, denn er hat sich in herausragender und auch in unverwechselbarer Weise um unser Land verdient gemacht – als Bürgerrechtler, politischer Aufklärer und Freiheitsdenker, als Versöhner und Einheitsstifter in unserem jetzt gemeinsamen Land sowie als Mahner und Aufarbeiter des SED-Unrechts und damit auch als ein Mann, der immer wieder an historische Verantwortung erinnert. Welche Facette man auch hervorhebt, immer spiegelt sich das Fundament unserer Gesellschaft wider: Einigkeit in Recht und Freiheit. Zunächst zum ersten großen Leitmotiv Ihres vielfältigen Wirkens, zur Freiheit. Wer in Ihrem reichen publizistischen Werk stöbert, der spürt: Freiheit ist die zentrale politische Idee, der Sie sich zeit Ihres Lebens verpflichtet gefühlt haben und auch sicherlich weiterhin verpflichtet fühlen.“
Und ein Optimist ist Gauck auch.
Gauck könnte tatsächlich zum Hoffnungsträger eines neuen Deutschlands werden. Seine Wahl würde mit einem Schlag alles verändern.
So viel Umbruch war nie in diesem 21. Jahrhundert. Nicht in Deutschland. Wir sind gespannt auf den 30. Juni.
Armin König, 6.6.2010