„Er steht und schaut. Hinunter auf ihn. Steht reglos, ebenso reglos, wie der daliegt, auf den er hinunterschaut“. Davit Gabunia, herausragender Autor Georgiens, steigt unvermittelt ein ins Geschehen. Das geht gleich mitten rein in die Sinnesorgane. „Wie eigenartig Blut riecht“. Und er weiß, dass er diesen Geruch nie mehr vergessen wird, und er prägt sich die Szenerie ein: „Er steht und schaut auf den Körper hinunter. Schön ist er, denkt er. Diesen Gedanken kann er nicht zurückhalten“. Die „Farben der Nacht“ beginnen höchst intensiv mit einer Blutlache und einem sterbenden Körper mit zerschmetterter Stirn. Da ist einer, der diesen Todesfall fotografiert und dabei wohl Befriedigung empfinden wollte, aber nicht kann.
Ob dieser Fotograf Surab ist, der Mann ohne Job, der sich um die Kinder Gio und Datuka kümmert, während Tina im Büro arbeitet? Vieles spricht dafür. Denn Surab ist nach dem einführenden Kapitel über den ermordeten jungen Mann der Erste, der zu Wort kommt.
Surab erinnert sich an den Moment im August 2012, an dem er den Mann mit dem roten Alfa Romeo zum ersten Mal in seinem Wohnblock in Tiflis gesehen hat. Sein Name ist Schotiko. „Es war ein völlig unnatürliches Rot“, lässt Davit Gabunia seinen Anti-Helden Surab sinnieren. Der langweilt sich, weil die Kinder bei der Schwiegermutter untergebracht sind (- es sind Sommerferien -) und die Frau Tag für Tag Überstunden macht und spät nach Hause kommt. Und so beobachtet Surab heimlich den Nachbarn im Nebenblock, sieht, wie zwei Jungs auf dem Sofa sitzen und miteinander knutschen. Es ist der Beginn einer verhängnisvollen Obsession.
Das turbulente Jahr 2012, als die Georgier zunehmend unzufrieden werden mit ihrem Präsidenten Saakaschiwili, wird zur Folie und zum Rahmen der Krimigeschichte, die ziemlich schnell Fahrt gewinnt.
Surab wird zum heimlichen Beobachter des Alfa-Romeo-Nachbarn und stellt bald fest, dass der Alfa-Fahrenr einen Romeo empfängt, einen hohen Beamten vom Staatsschutz. Das weiß er kurze Zeit später, weil er den Schlips-Typen im Fernsehen gesehen hatte.
So plötzlich wird das Setting Hitchcock-mäßig: Natürlich ist es das „Fenster im Hof“, das der erfahrene Autor und Kritiker Gabunia im lakonischen Paul-Auster-Stil wieder aufleben lässt. Am 28. August macht Surab die ersten drei Fotos vom mittelalten Staatsicherheitbeamten Merab und seinem jungen Romeo Schotiko, die er später wieder löscht, damit seine Frau Tina – es ist ihre Kamera – nicht sieht. Tags darauf sind es schon 200 kompromittierende Fotos. Er löscht wieder alle bis auf 30, die er auf den Laptop zieht und in einem Musikordner versteckt – in „einem Unterunterordner des Ordners“. Wie manche Männer das wohl so machen.
Surab ist unzufrieden, weil seine Frau nicht mit ihm schläft, weil sie entweder zu müde ist oder keine Lust hat. So wird die Ehe zum Frust. „Es ist sowas von ätzend, wennsie nicht will und nur ich will. Das ist doch kein Sex mehr. Für sie ist es Pflicht geworden. … Manchmal glaube ich, sie hat mich satt.“ Neun Jahre sind die Beiden verheiratet, der 31jährige Surab sagt, er habe seine Frau noch kein einziges Mal betrogen. Um so mehr ärgert er sich, dass sie in diesem heißen August nicht scharf auf Sex ist. Tina aber ärgert sich, weil Surab sich verändert hat, extrem spät ins Bett geht und tagsüber verschlafen durch die Wohnung wandert.
Also vertreibt Surab sich die Zeit mit Spannen und Fotografieren – oder mit dem Taugenichts Ika, Sie saufen und kiffen zum Ärger von Tina.
Während die Ehe von Surab und Tina zunehmend kriselt und schließlich aus den Fugen gerät, nimmt auch die Geschichte der schwulen Lover Fahrt auf. Es kommt zum großem Eifersuchtsdrama, während in Tiflis die politische Lage kritisch wird. Nachdem im Fernsehen schwer zu ertragende Videos kursieren, wonach in den georgischen Gefängnissen gefoltert wird, herrschen in der Stadt „apokalyptische Verhältnisse“: Die Menschen begehren auf und wehren sich, schließen sich zu einem Oppositionsbündnis zusammen.
Am 2. September 2012 geschieht schließlich etwas, was alles verändert…
Surab filmt, was er nicht hätte filmen sollen. Ein Eifersuchtsdrama. Einen Mord. Und mit einer Erpressung will er eine Stelle bekommen, um seine Ehe, seine Familie, sich selbst zu retten.
Dr. Armin König