Armin König

Schweigen oder schreiben? Indem man ein Unglück rationalisiert, versucht man zu begreifen

Müssen wir sprachlos werden, wenn wir ein Unglück erleben? Soll die Gesellschaft für eine Stunde oder wenigstens für ein paar Minuten innehalten? Und müssen die Twitterer schweigen statt schreiben? Wie geht die Twitteria mit einem Geschehen wie dem furchtbaren Loveparade-Unglück um? Und welche Reaktion ist richtig? Gibt es überhaupt richtige Reaktionen?

Wir fühlen mit den Angehörigen der Opfer und trauern mit ihnen. Das ist die erste und wichtigste Botschaft. Sie steht ganz am Anfang. Wir drücken unser Mitgefühl und unsere Betroffenheit aus. Doch es gibt noch andere Dimensionen und andere Botschaften, die auf anderen Ebenen zu suchen und zu finden sind.

Stellvertretend will ich zwei konträre Meinungen gegenüberstellen. Andrea Juchem schreibt auf „Bachmichels Haus“ in ihrem Beitrag „Twitter sucks“: „Manchmal wünschte ich mir, die Menschen würden dann sprachlos werden, aber jeder hat eine andere Art, mit so einem Schrecken umzugehen.“ Auf Twitter war Andrea als @ApfelMuse ungeduldiger: „So für mich ist jetzt Schluss auf Twitter, das ist ja unerträglich. So viel ach so kluge, besserwissende, vom Unglück unberührten Menschen“. Und an @TimRozenski gewandt: „es ist immer so einfach Urteile zu fällen. Jeder weiße es jetzt besser, hat vorher darauf hingewiesen. Mich nervt das einfach“. Ungeprüft werde angeklagt, würden Schuldige benannt, das müsse ein Reflex aus der Steinzeit sein.

Esther Wagner (@la_kirana) schreibt dagegen auf ihrem Blog „Panzerkeks.de“ über „Twitter, Tragödien und Emotionen“: „Ich bin verwirrt. Da passiert etwas schreckliches, unvorhergesehens – ein gefundenes Fressen für Twitter. Dafür ist es da, für schnelle Reaktionen, sofortiges Feedback. … Und natürlich wird diskutiert. Über das Wie, das Warum und auch darüber, wie man es hätte besser machen können.“ Was seit Jahrhunderten an allen Stammtischen, Küchentischen, Großraumschreibtischen dieser Welt geschehe, werde nun schriftlich festgehalten. „So sind die Menschen, so versuchen sie, schreckliche Nachrichten zu verarbeiten.“

Und da hat Esther Wagner Recht. Man müsse lernen, mit diesem schnellen, impulsiven 140-Zeichen-Medium umzugehen, in dem „Menschen sich von der Seele schreiben, was sie jetzt, in dieser Sekunden, vielleicht auch schon länger bedrückt, bewegt und erfreut.“ Gleichzeitig lobt Panzerkeks.de den WDR, „denn der hat meiner Meinung nach als einziges Medium ausgewogen, überlegt und journalistisch hochwertig über die Tragödie berichtet.“

Das sehe ich auch so.

Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Daseinsberechtigung unter Beweis stellen musste, dann hat er es an diesem furchtbaren Abend eindrucksvoll getan. Es war – bei aller Trauer – eine souveräne Leistung des WDR und der ARD. Wie abstoßend waren dagegen quotengeile Printmedien wie BILD, die doch vom Bund Deutscher Zeitungsverleger BDZV vertreten werden, der die ARD in der letzten Woche noch so übel attackiert hatte, wie billig Privat-„Nachrichtensender“, die den Verlegern doch recht nahe stehen. (Während ich dies schreibe, lese ich bei @SebastianSPD: Wie krank ist @ProSieben, dass man Werbung für die „Abschluss“-CD der Loveparade 2010 macht???? Pfui!)

Aber das ist nicht mein Thema.

Es geht mir um Twitter, den Dienst, den wir seit Monaten so intensiv nutzen, in dem wir uns gegenseitig bestärkt und ermuntert haben? Müssen wir jetzt im Angesicht eines Unglücks, das viele zu schnellen privaten Statements bewegt hat, irritiert und verstört sein über die Eigendynamik des Dienstes? Nein, das müssen wir nicht. Müssen wir uns von unseren Freunden verabschieden, nur weil sie unterschiedlich reagiert haben? Was wären das für Freundschaften? So einfach ist die Welt dann doch nicht.

@ApfelMuse schreibt: „Auch im wahren Leben stimme ich mit meinen Freunden, in dem was uns interessiert, nicht 100% überein. So weit, so gut. Und wie bei allem gilt: es gibt einen Ausschaltknopf oder im wahren Leben: man kann gehen.“ So ist es.

Und ich habe auch kein schlechtes Gewissen, dass ich noch am selben Abend, nachdem ich erst einmal drei Stunden geschwiegen hatte, Kritisches getwittert habe. Natürlich war ich betroffen. Fassungslos. Entsetzt. Natürlich fühlte ich mit den Angehörigen der Opfer. Bis 21:09 Uhr habe ich geschwiegen. Dann war es mir nicht mehr möglich, zu schweigen, weil ich mittlerweile so viele Fakten kannte, dass es mich schüttelte. Fakten über Unvernunft und hohes Risiko. Fakten über nicht eingehaltene Sicherheitsvorschriften. Das ist mein Job: Wo wir doch als kleine Gemeinde bei jedem Rosenmontagszug aufs Genaueste darauf achten müssen und im eigenen Interesse darauf achten, dass Sicherheit gewahrt ist. Spätestens um 21:45 Uhr sah ich mich gezwungen, richtig heftig zu reagieren. Und auch das war ein Teil der Katastrophen-Verarbeitung. Ich habe getwittert: „WDR geschaut und völlig irritiert. Livestream auf @DerWesten nachgelesen und konsterniert. Bei aller Trauer: Was sind das für Veranstalter?“ Da hüpften aufgedrehte, fröhliche junge Leute nach einem entsetzlichen Unglück um einen Reporter, der sehr kompetent und doch auch verstört versuchte, Hintergründe eines dramatischen Geschehens auszuleuchten. Und gleichzeitig hämmerten irgendwo die Technobeats. Und ich konnte nicht fassen, dass man in Duisburg völlig unfähig war, zu kommunizieren. Ja, diese Erklärungsunfähigkeit, diese Kommunikationsunfähigkeit, diese angeblich so bewusste Business-as-Usual, um die Katastrophe nicht noch größer zu machen – haben mich erschüttert. Wer je gezwungen war, als Offizieller Todesnachrichten zu überbringen, weiß, wie unendlich schwer dies ist. Ich habe es jetzt zweimal erlebt. Ich habe erfahren, dass sich Menschen davor gedrückt haben, von denen ich es nie erwartet hätte. Und jetzt das! Nicht das Unglück allein war das Entsetzliche. Entsetzlich war auch , dass es in Duisburg technobesoffen weiterging. Dass dort das Schweigen nicht einsetzte wie nach anderen Unglücken und Unfällen.

Ich recherchiert im Livestream von @DerWesten, wie sich die Lage in Duisburg entwickelt und was der inzwischen hinreichend bekannte klotsche vorausgesagt hatte. Und mein Zorn wuchs – mein Zorn auf die Veranstalter, mein Zorn auf die Genehmiger. Und erst die jämmerlichen Statements der Offiziellen, der Panikforscher Schreckenberg, dessen abenteuerliche Kommentare mich auch drei Tage danach noch aufregen – das ist alles unfassbar.

Und genau dies habe ich auch geschrieben: „Furchtbar. Alles ganz furchtbar. Und BILD erst recht“, nachdem uns @MichaelKroker auf die skandalöse, sensationsgeile Fotostrecke des Boulevard-Online-Dienstes aufmerksam gemacht hatte. Um 22:58 habe ich geschrieben: „Hier ist eine Sensationsbilderstrecke abgedruckt, die nichts mehr mit Recherche und Analyse zu tun hat.“ Und noch immer machten die Veranstalter Business as Usual, und ich schrieb an @N_Exner, der im ZDF gehört hatte, es gehe darum ein noch größeres Gedränge zu verhindern: „man kann das so nicht machen. Nicht einfach weiterso, nicht mit DIESER MUSIK. Die Veranstalter sind irre.“ Um 23.19 Uhr habe ich mich verabschiedet mit den Sätzen: „Ich kommentiere diese gigantische Verantwortungslosigkeit jetzt nicht mehr. Ich bin nur noch entsetzt. #loveparade““

Hätte ich schweigen sollen? Wäre das der Sinn von Twitter gewesen?

Mitnichten.

Twitter IST ein Kommunikationsmedium. Auch in Zeiten von Krisen und Katastrophen. Auch Twitter IST Real Life, spiegelt die Dummheiten und Dumpfheiten der Gesellschaft ebenso wie die Klugheit, die Sponaneität, die Neugier, die Analysefähigkeit. In Anlehnung an Wittgenstein können wir sagen: Die Welt ist alles was der Fall ist, Twitter ist es auch. Vor allem hat Twitter maßgeblich beigetragen, aufzuklären, zu informieren, zu kommunizieren. Die Lügen der Offiziellen waren innerhalb von Stunden entlarvt, mit jedem Tag werden neue Ungereimtheiten, ja sogar Ungeheuerlichkeiten bekannt. Das war früher schlicht unmöglich. Twitter entwickelt Eigendynamik, Twitter hat Macht – begrenzt, aber immerhin. Das kann präventiv wirken.

Alwin Theobald alias @Saarlandman twitterte: „Niemals werden sich Unglücke ganz ausschließen lassen – aber wir sollten daraus lernen. Unsere Verantwortung ist es, Vorsorge zu treffen. Und in dem Wissen, dass es eine einhundertprozentige Sicherheit niemals geben wird, trotzdem jungen Menschen das Feiern auch in Zukunft ermöglichen.“

Kluge Sätze auch von Regina Görner, der ehemaligen Sozialministerin des Saarlandes und jetzigen Gewerkschafterin: „Schuldzuweisungen sind auch ein Versuch, das Entsetzliche vor sich selbst zu verdrängen. Mit der Erfahrung fertig zu werden, dass man selbst hätte Opfer werden können, ohne auch nur die geringste Chance zu haben, der Katastrophe zu entgehen, widerspricht in allem der Art und Weise, wie wir uns in unserem Leben eingerichtet haben. Wir haben sehr viele Risiken aus unserem Leben verbannen oder wenigstens individualisieren können. Dass es einen trotzdem treffen kann, stellt das infrage. Irgendjemanden verantwortlich sehen zu wollen, ist da nur natürlich.“ Und die gute @PonyQ, die sich nicht frei sprechen will von solchen Reaktionen, bat @ApfelMuse nur: „Schimpf nicht mehr“.

Mikel warnte davor, die Reaktionen im virtuellen Twitterraum überzubewerten. „Emotional aufwühlende Situationen in virtuellen Welten sind schwierig, hier fehlt vor allem das Erleben der Körpersprache, die Duftmarken, all das Unbewusste.“

Richtig bleibt auch dies: Es sind unfassbare Fehler gemacht worden – aus falschem Stolz, aus Trotz, aus dem Drang, etwas Glanz in eine Region im Abwärtstrend zu bringen, wohl auch aus Profitgier. Dass Twitterer wie @hemelwandelaar und Ute darauf hingewiesen habe, war richtig. Die Tageszeitungen, die Fernseh- und Hörfunksendungen sind seit Montag voll davon.

Probleme muss man benennen. Ich habe drei Tage gewertet, bis ich mich umfassend dazu äußerte. Für einen, der acht Jahre Nachrichtenredakteur war, sind drei Tage eine unendlich lange Zeit. Mein alter Beruf als Hörfunkmann und landespolitischer Reporter zwang mich früher dazu, innerhalb von Minuten professionell zu reagieren und zu berichten. Als der 1. Golfkrieg ausbrach, hatte ich Frühdienst. Wir waren permanent auf Sendung. Und wir waren die Ersten, die den Moskauer Putsch über den Sender schickten. Auch damals hatte ich Frühdienst. Es war mein Job, Ereignisse einzuschätzen und kommentieren zu lassen oder selbst zu kommentieren. Und es ist auch heute mein Job, Dinge schnell einzuschätzen und unverzüglich zu reagieren.
Deshalb kann ich all die verstehen, die schon am Unglückabend auf schwere Versäumnisse hingewiesen haben. Und ich kann mich verstehen, dass ich in jener Nacht angesichts der großen Konfusion in Duisburg getwittert habe: „Die Veranstalter sind irre.“ Ich bin nicht perfekt, ich habe als Journalist Fehler gemacht, ich habe als Bürgermeister Fehler gemacht, ich werde auch in Zukunft Fehler machen. Aber ich habe auch eine Meinung, und es ist meine Freiheit, sie zu äußern. Das ist ein zentrales Stück Demokratie. Meinungsfreiheit gehört zu meinem Leben.

Niemand kann zum Schweigen in Betroffenheit verpflichtet werden. Trauer und Betroffenheit sind höchst individuelle Befindlichkeiten. Es gibt Menschen, die darauf so reagieren, wie man es sich vorstellt: schweigend eben. Es gibt aber auch andere Menschen, die mit Zorn, Ärger, Wut reagieren, die nach Schuldigen suchen. Und es gibt Menschen, die versuchen, durch Rationalisierung ein Problem zu bewältigen.

Twitter hat all dies gespiegelt. Und Twitter hat seine Notwendigkeit, seine Stärken und Schwächen einmal mehr unter Beweis gestellt. Seine Schwäche sind die impulsiven Zwischenrufe, die Neigung zur radikalen Verkürzung, die Missverständnisse und Beschimpfungen geradezu provoziert. Twitters Stärke ist nicht die Analyse. Die muss man anderswo suchen. Twitters Stärke sind die Links, die schnellen Kommentare, die Such-Tweets, die Retweets, die Schneeballsystemkommunikation. Ohne Twitter hätte ich das Fernsehen gar nicht eingeschaltet. Ohne Twitter hätte ich vor 22 Uhr kaum Notiz von der Katastrophe genommen.

Die Twitteria selbst scheint noch immer irritiert und geschockt. Nicht nur vom Geschehen selbst, sondern auch von den Abläufen auf der Timeline. Drei Tage hat es gedauert, bis auf der Timeline von Twitter wieder halbwegs normale Kommunikation herrscht. Auch das ist Teil des normalen Lebens. Twitter ist zu einem nicht ganz unwichtigen Teil des Real Life geworden.

Und wir sind Teil davon. Das ist gar keine schlechte Erkenntnis…