Armin König

Selbst denken in Zeiten des grossen Umbruchs

Das große Brodeln

„It’s the end oft he world as we know it and I feel fine“ (REM)
Nichts ist mehr, wie es war, wir leben in turbulenten, unsicheren Zeiten und erleben gerade das „Ende der Welt, wie wir sie kannten“ (Leggewie/Welzer). Müssen wir uns fürchten? Die Popgruppe R.E.M. gibt das Motto vor: „It‘s the end of the world as we know it and I feel fine,“ sangen die US-Rocker schon 1987, und seither ist die Welt zwar nicht untergegangen, aber sie hat sich tatsächlich dramatisch verändert: Erst das Ende das Sozialismus, dann der Fall der Mauer, das Ende der DDR, die Globalisierung, die radikale Ökonomisierung der Welt, der 9. September 2001, die Weltwirtschafts- und Finanzkrise, Klimawandel, Fukushima, auf nationaler Ebene schließlich Stuttgart 21, Energiewende, Bankenkrise, Schuldenbremse … – und kein Ende der Turbulenzen in Sicht.
„Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, und ich fühle mich gut“, singt R.E.M. – eine bemerkenswerte Einstellung.
Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass Krisen auch Chancen sind. Krisen bieten Gelegenheiten, alte, festgefügte Ordnungen aufzubrechen und Neues zu wagen. Außerdem ändern sich Machtverhältnisse. Für Bürger, die es leid sind, nur Zuschauer in einem Spiel zu sein, das ihnen nicht gefällt, ist dies eine Gelegenheit, endlich richtig mitzumischen.
Ob das nicht übertrieben ist? Schließlich ist ein Dorf nicht die Welt (Dürrenmatt) und Gresaubach nicht Griechenland. Andererseits: Nie hatten deutsche Kommunen so hohe Liquiditätskredite wie in diesen Tagen. Rund 44 Milliarden Euro an Kassenkrediten haben die Städte und Gemeinden in Deutschland angehäuft (Bertelsmann Finanzreport 2013). Ob die kommunalen Milliardenkredite je zurückgezahlt werden, steht in den Sternen. Dramatisch ist die Lage im Saarland, kaum besser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, wo sich Kommunen ebenfalls gigantisch (und meist ohne eigenes Verschulden) verschuldet haben. Und auch Hessen zieht nach. Auch dort finanzieren Kommunen immer mehr laufende Ausgaben durch Liquiditäts- oder Kassenkredite. Das sind die Dispo-Kredite der Städte und Gemeinden. Schuldzuweisungen von Bundes- und Landespolitikern sind scheinheilig: Bund und Länder haben den Kommunen Last aufgebürdet, unter denen diese schier erdrückt werden. Trotzdem führt kein Weg an einer Rückführung dieser Schulden vorbei. Die Folge sind Haushaltssicherungskonzepte, massive Einschnitte in kommunale Leistungen und eine Existenzgefährdung der kommunalen Selbstverwaltung. „Kassenkredite gelten als Kern der kommunalen Finanzkrise, weil sie ausschließlich der Liquiditätssicherung dienen. Sie wurden zum Symbol der zunehmenden Handlungsunfähigkeit der Städte und Gemeinden, da mit steigenden Kassenkrediten auch der Raum für Investitionskredite und damit Bau und Instandhaltung von Straßen, Schulgebäuden und sonstiger städtischer Infrastruktur enger wird.“ (Bertelsmann 2013b)
Damit nicht genug: Überlagert werden diese Finanzprobleme vom demographischen Wandel, der regional sehr unterschiedlich verläuft. Schrumpfung, Alterung, Leerstände sind vor allem in Ostdeutschland Alltag, doch inzwischen hat es auch die Hälfte der westlichen Bundesländer erwischt. Während die Negativ-Effekte des demografischen Wandels im auch finanziell schwer gebeutelten Saarland flächendeckend auftreten, sind es in Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vor allem die dünner besiedelten ländlichen Gebiete. Auch Städte in den alten Montan- und Industrieregionen schwächeln oder zeigen unverkennbar Symptome eines beschleunigten Niedergangs. Die Ergebnisse des Zensus haben viele Stadt-Verantwortliche schockiert: Ihnen sind tausende Einwohner über Nacht abhanden gekommen. Auch die, die bisher den Kopf in den Sand gesteckt haben, sind nun in der Wirklichkeit angekommen: Weniger Einwohner heißt weniger Kaufkraft, schwächere Infrastrukturauslastung, Leerstände, steigende Entsorgungsgebühren, höhere Kosten, niedrigere Schlüsselzuweisungen und oft auch höhere Verschuldung.
Zwar versuchen viele Kommmunen, mit Einsprüchen und Klagen gegen den Zensus zu den alten Berechnungszahlen zurück zu kommen, doch das wird kaum gelingen. Und selbst wenn es gelänge: Das Rad der Entwicklung drehen sie auch mit Klagen nicht zurück.
All die „Urbaniker“, die erwartet haben, dass es die Einwohner nun in die Städte zieht, werden auch enttäuscht. Der große Sog ist ausgeblieben. Oft kommen die sozial Schwachen, die Migranten, die Hartz-IV-Empfänger. Das erhöht die Sozialkosten, die dann von den Umland-Gemeinden über die Kreisumlage finanziert werden müssen und dann auch einst gesunde Kommunen in den Ruin treiben. Die Berechnungsgrundlagen der Umlagesysteme sind aus den Fugen geraten und müssten endlich beklagt werden, damit sie gerichtlich revidiert werden.
Derweil bleibt der schrumpfende Mittelstand notgedrungen im Eigenheim im suburbanen oder ländlichen Raum. Denn weil dort die Eigentumswerte durch die vielen Leerstände sinken – eine typische Angebots-Nachfrage-Relations-Reaktion –, und in den Städten die Mieten und die Kosten für Eigentumswohnungen steigen, ist der prophezeite Umzugsboom vom Land in die Stadt ausgeblieben. Theorie und Praxis klaffen auseinander, Planungen sind nur begrenzt belastbar.
Gleichzeitig stellen die Bürgerinnen und Bürger immer höhere Ansprüche.
Anke Oxenfarth formuliert es so: „Kein Zweifel, es brodelt geräuschvoll. Nicht nur in den USA, Spanien und Israel, auch hierzulande erhebt sich Volkes Stimme lauter und öfter als in den Jahren zuvor. Nach Fukushima demonstrierten Zehntausende on- und offline für den Atomausstieg, die Hamburger Schulreform scheiterte am erbitterten Widerstand gut situierter Eltern und der Generationen übergreifende Protest gegen Stuttgart 21 hält trotz Schlichtung weiter an. Initiativen wie „Occupy Wall Street“ stoßen auf Sympathien und finden schnell Nachahmer in anderen Ländern.“ (Oxenfarth 2011: 7)
Vorbei die Zeit, als man sich auf alte Rezepte verlassen konnte, auf die Profis in Politik und Institutionen, auf Experten und Investoren. Vorbei die Zeit, als Wachstum garantiert war. Vorbei die Zeit, als es immer nur aufwärts ging. Die Ressourcen sind endlich, der demographische Wandel führt gerade bei uns zu Schrumpfung und Alterung, zu Krisen und Problemen. Kein Wunder, dass sich die Bürgerinnen und Bürger empören. Autoren wie der kürzlich gestorbene Philosoph Stéphane Hessel haben dieses „Empört euch!“ (Hessel 2011) ja auch weltweit gepredigt. Und die Bürger in der Twitter- und Netzwerkgesellschaft (Manuel Castells) haben dieses „Empört euch!“ gierig aufgesogen.
„Wirklich verwunderlich ist der Unmut der Bürger(innen) nicht, kracht es doch seit geraumer Zeit ordentlich im gesellschaftlichen Gebälk.“ Schreibt Anke Oxenfarth (2011: 7). Und fügt treffend hinzu: „Auffallend ist eher die neue Kreativität und Entschiedenheit der Proteste. Die Protestierenden sind es leid, dass die Politik mehr Rücksicht auf Lobbyinteressen nimmt als auf die legitimen Bedürfnisse des Volkes. Angesichts der sich verschärfenden ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisen und der damit einhergehenden Ungerechtigkeiten scheint eine Toleranzgrenze erreicht zu sein. Viele Menschen in den alten Demokratien möchten mehr tun, als nur alle paar Jahre bei Wahlen ihre Kreuzchen zu machen. Insbesondere bei weitreichenden Planungen und Entscheidungen vor ihrer Haustür wollen sie stärker mitreden und mitgestalten.“ (Oxenfarth 2011: 7)
Das ist auch sinnvoll und notwendig.
Um es mit Claus Leggewie und Harald Welzer zu formulieren: „Eine Gesellschaft, die die Krise verstehen und meistern will, kann sich nicht mehr auf Ingenieurskunst, Unternehmergeist und Berufspolitik verlassen (die alle gebracht werden), sie muss – das ist die zentrale These […] – selbst eine politische werden. Eine Bürgergesellschaft im empathischen Sinn, deren Mitglieder sich als verantwortliche Teile eines Gemeinwesens verstehen, das ohne ihren aktiven Beitrag nicht überleben kann. Auch wenn diese Zumutung so gar nicht in die Zeit hineinzupassen scheint: Die Metakrise, mit der wir zu kämpfen haben, fordert mehr, nicht weniger Demokratie, individuelle Verantwortungsbereitschaft und kollektives Engagement“. (Leggewie/Welzer 2009: 13-14).
Und damit sind wir mittendrin im Thema: Die Stichworte lauten Bürgergesellschaft, Verantwortungsbereitschaft, kollektives Engagement, Kreativität, mitreden, mitgestalten, entscheiden.
„Selbst denken“ empfiehlt Harald Welzer (2013). Im Klappentext udn in den Handlungsanweisungen dazu heißt es lapidar: „1. Alles könnte anders sein. 2. Es hängt ausschließlich von Ihnen ab, ob sich etwas verändert.“
Es geht also keineswegs nur um Zeiten des Zorns und des Unmuts, um Protest und Widerstand. Es geht darum, Demokratie weiter zu denken“, um es mit den Worten von Paul Stefan Roß zu sagen, einem der profiliertesten Kenner der Bürgergesellschaft. Und dabei geht es ganz wesentlich um die Kommunen, um die den Bürgern am nächsten ist, wo der Ärger sich Bahn bricht, wo die Probleme kulminieren. Andere Ebenen entscheiden, die Kommunen haben am Ende das Desaster falsche Entscheidungen auszubaden.
Natürlich ist der Widerstand von Einwohnerinnen und Einwohnern nicht zu verachten. Nach Zeiten der Couch-Potatoes, der Resignation, der Selbstbezogenheit gibt es wieder „Spaß am Widerstand“ (Leggewie/Welzer 186). Indem sie sich nicht mehr als Masse Mensch von Profipolitikern und Verwaltungen behandeln lassen, werden aus diesen Menschen aktive Bürgerinnen und Bürger. Und dort müssen wir wieder ansetzen, am alten Bürger-Ideal, das schon die Aufklärer um Immanuel Kant vertreten haben. Oder modern gesagt: „Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus gleichberechtigten Mitgliedern bestehen, die das Gemeinwesen unabhängig von Geschlecht, Glaube, Herkunft und Einkommen gestalten können. Der Idee nach sind Demokratien aktive Systeme, die vom Interesse, der Achtsamkeit und dem Engagement ihrer Mitglieder getragen werden.“ (Leggewie/Welzer 192)
Genau dort wollen wir ansetzen.
Es geht um „Bürgerbeteiligung 3.0“ (2011), um Partizipation als „Prinzip der Politik“ (Gerhardt 2007).
Bürgerbeteiligung ist nicht lästig, auch wenn viele Politiker und Verwaltungen dies noch so sehen, sondern lebensnotwendig für unsere Demokratie.
Bürgergesellschaft hat Zukunft, auch und gerade in Zeiten des Zorns, der Krise und des Umbruchs. Und diese Zukunft der kooperativen Demokratie in der Bürgergesellschaft, der Bürgergemeinde, der Bürgerstadt hat gerade erst begonnen. „Die Potenziale der Bürgergesellschaft sind noch längst nicht entwickelt“. (v.d.Leyen 2008:10)
Es sind ungeheure Ressourcen, die unter der Oberfläche schlummern. Man kann sie zum Teil aktivieren, aber nur dann, wenn man der Versuchung widersteht, sie zu instrumentalisieren, das ist mittlerweile nachgewiesen. Die Zahlen sind beachtlich, wie der Freiwilligensurvey belegt.
„23,4 Millionen Menschen engagieren sich in unserem Land freiwillig in unterschiedlichsten Organisationsformen und Bereichen. Die Vielzahl der Engagierten und die Vielfalt der Formen veranschaulichen die Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements und seiner Förderung, aber auch die Größe der Aufgabe. Ob es um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, den demografischen Wandel, die Reform des Sozialstaates oder die Mitgestaltung in unserer Demokratie geht: Überall eröffnet bürgerschaftliches Engagement neue Denk- und Handlungsperspektiven.“ (v.d.Leyen, 10).

Literatur
Bertelsmann Stiftung (2013): Kommunaler Finanzreport 2013. Einnahmen, Ausgaben und Verschuldung im Ländervergleich. Gütersloh: Bertelsmann.
Bertelsmann Stiftung (2013b): Die Finanzkrise spitzt sich zu. Kommunaler Finanzreport der Bertelsmann Stiftung: Große strukturelle Unterschiede zwischen den Bundesländern. http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-384B3FC7-E7446EEB/bst/hs.xsl/nachrichten_117698.htm
Dettling, Daniel (Hg.) (2008): Die Zukunft der Bürgergesellschaft. Herausforderungen und Perspektiven für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ; Festschrift für Warnfried Dettling. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Castells, Manuel (2003): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Stuttgart: UTB.
Gerhardt, Volker (2007): Partizipation. Das Prinzip der Politik. München: Beck.
Hessel, Stéphane (2011): Empört euch! Berlin: Ullstein.
Hessel, Stéphane / Vanderpooten, Gilles (2011): Engagiert euch! Berlin: Ullstein.
König, Armin (2011): Bürger und Demographie. Üartizipative Entwicklungsplanung für Gemeinden im demographischen Wandel ; Potenziale lokaler Governancestrategien in komplexen kommunalen Veränderungsprozessen. Merzig: Gollenstein.
Leggewie, Claus / Welzer, Harald (2010): Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt/Main: Fischer.
Leyen, Ursula von der (2008): Grußwort der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. In: Dettling, Daniel (Hg.): Die Zukunft der Bürgergesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 8-16.
Oekom e.V. (Hg.)(2011): Bürgerbeteiligung 3.0. Zwischen Volksbegehren und Occupy-Bewegung. München: Oekom.
Oxenfarth, Anke (2005): Werte schöpfen. Ideen für nachhaltiges Konsumieren und Produzieren. München: Oekom.
Oxenfarth, Anke (2011): Editorial. In: Oekom e.V. (Hg.)(2011): Bürgerbeteiligung 3.0. Zwischen Volksbegehren und Occupy-Bewegung. München: Oekom. S. 7.
Rosenbladt, Bernhard von (2009): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Freiwilligensurvey 1999. Gesamtbericht. Wiesbaden: VS-Verlag.
Soeffner, Hans-Georg (Hg.) (2010): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Wiesbaden: VS-Verlag.
Welzer, Harald (2013). Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt/M.: S. Fischer.

Dr. Armin König

Selbst denken in Zeiten des großen Brodelns