»Staatskunst« eines mutmaßlichen Kriegsverbrechers? – Überflieger Henry Kissinger gibt Ratschläge

Henry Kissinger (2022): Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Karlheinz Dürr, Anja Lerz, Karsten Petersen, Sabine Reinhardus, Karin Schuler, Thomas Stauder. München: C. Bertelsmann. 

Rezension: Dr. Armin König

Der Autor Kissinger

Blut klebt an seinen Händen. Das schreibt Kissingers Biograf Greg Grandin1 vor allem mit Verweis auf die Rolle des einstigen amerikanischen Chefdiplomaten und Sicherheitsberaters bei der brutalen und illegalen Bombardierung Kambodschas und des Nachbarlandes Laos von März 1969 bis Mai 1970. Grandin steht damit nicht allein. Nicht wenige Wissenschaftler und Publizisten halten Henry Kissinger für einen der verantwortungslosesten Außenminister, den es in demokratischen Staaten je gegeben hat. Christopher Hitchens (»The Trail of Henry Kissinger«; dt. »Die Akte Kissinger«)2 und Greg Grandin (»Kissingers langer Schatten«) haben Kissinger entzaubert und seine mutmaßlichen Verbrechen, seine Machtdiplomatie, seine zynische Sicht auf Herrschaft, seine illegalen Abhör-, Einbruchs- und Unterwanderungsaktionen, seine Missachtung von Menschenleben und seine militärischen Untaten auf vielen Seiten beschrieben. Interviewer fragen mit Hitchens und Grandin offen, ob man Kissinger einen Kriegsverbrecher nennen dürfe.

Notwendigerweise muss man dann auch über die viele Jahre viel zu positiv kommentierte imperiale3Außenpolitik der USA neu diskutieren. Verbunden war sie mit hartem militärischem Eingreifen, Geheimdienstoperationen, gewaltigen Kapitalspritzen für Regierungsgegner und Attentäter gewählter Präsidenten, mit Lügen und gigantischen Vertuschungsaktionen. Nichts ist, wie es scheint. Es geht nicht darum, Kissinger zu dämonisieren. Er war kein Dämon.4

Wichtig ist allerdings eine realistischere Betrachtung des transatlantischen Bündnisses unter Führung der USA, ohne die Europa vielleicht nicht mehr frei wäre, die aber auch in eine gefährliche Abhängigkeit vom Hegemon Amerika geraten ist. Die Angst vor einer Wiederkehr Donald Trumps belegt dies. Damit ist der Bogen von Kissinger zu Trump geschlagen. Dies ist nicht willkürlich, sondern realistisch betrachtet.

Wer Kissingers Handeln dokumentiert und analysiert, muss zu dem Ergebnis kommen, dass die unkalkulier»barbare« Außenpolitik Donald Trumps gar nicht so exzeptionell ist. Möglicherweise sind die USA eine gerade in Deutschland vor allem von Transatlantikern viel zu viel gelobte Weltmacht. So wie in den USA ist im demokratischen Deutschland noch nie Außenpolitik gemacht worden. Die Skrupellosigkeit, die Kissinger und Trump verbindet, sollte den Europäern und insbesondere den Deutschen als Warnung dienen.5

Grandin beginnt sein Buch über den 99jährigen Kissinger mit einem »angekündigten Nachruf«, was in diesem Alter durchaus passend erscheint. Jede Zeitung, jedes Fernsehstudio, jede Rundfunkanstalt hat vorbereitete Nachrufe im digitalen Archiv, die sofort abgerufen werden können, wenn eine*r aus der Riege der Methusaleme stirbt. Oft sind diese wohlwollend. Grandin baut dagegen vor:

»Henry Kissinger sind viele schlimme Dinge zur Last gelegt worden. Und wenn er stirbt, werden seine Kritiker Gelegenheit haben, die Anklagepunkte wieder hervorzukramen. Christopher Hitchens, der dafür plädiert hat, den ehemaligen Außenminister als Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, ist inzwischen selbst verstorben. Es gibt jedoch eine lange Liste an Belastungszeugen – Reporter, Historiker und Juristen –, die nur darauf warten, Hintergrundinformationen zu Kissingers Vorgehen in Kambodscha, Laos, Vietnam, Osttimor, Bangladesch, gegen die Kurden, in Chile, Argentinien, Uruguay, Zypern und anderen Ländern zu liefern.« (Grandin, 15)

Große Worte, gelassen, ausgesprochen. Doch es kommt noch besser. Der Politikwissenschaftler Grandin, Professor an der Yale Universität, lässt seinen investigativen Kronzeugen Seymour Hersh auftreten, der 1983 mit »The Price of Power« einen Volltreffer landete. Hersh ist ein renommierter US-amerikanischer investigativer Journalist und politischer Publizist. Weltweite Anerkennung erlangte er 1969 durch die Enthüllung des zuerst vertuschten My Lai-Massakers6 während des Vietnamkriegs. Seymour Hersh spielte eine entscheidende Rolle bei der Aufdeckung des Massakers von Mỹ Lai im Vietnamkrieg. Hersh ist also nicht irgendwer. In den 1970er Jahren berichtete er für die New York Times über den Watergate-Skandal, die geheime US-Bombardierung Kambodschas und das CIA-Programm zur Inlandsspionage. Im Jahr 2004 deckte er die Folterpraktiken und Misshandlungen von Gefangenen in Abu Ghraib im Irak auf, die von US-Militärs verantwortet wurden. Hersh wurde 1970 mit dem Pulitzer-Preis für internationale Berichterstattung ausgezeichnet und erhielt zahlreiche weitere Preise.

»Hersh zeichnet das prägende Bild Kissingers als eines paranoiden Selbstdarstellers, der für sein berufliches Fortkommen zwischen Skrupellosigkeit und Kriecherei laviert, sein Schicksal, verflucht und die B-52er fliegen lässt. Als uneitler, aus niederen Beweggründen handelnder Mensch ist Kissinger in Hershs Darstellung dennoch eine Shakespeare‘sche Figur, weil sich die Kleingeistigkeit mit so gewaltiger Konsequenz auf der weltpolitischen Bühne manifestiert.« (Grandin, 15)

Aber Kissinger hat auch viele Fans. So wird er von Vertretern eines machiavellistischen Weltbildes bewundert. Friedensdiplomat, Jahrhundert-Staatsmann, Weltpolitikdenker nannten sie ihn. Das hat ihm gefallen. Er bewundert seinerseits Politiker, die autoritär bis autokratisch führen und hasst Verweichlichung und diplomatische Nachgiebigkeit.

Es ist schwierig, ihn zu charakterisieren, weil man sich dabei stets in die Nesseln setzen kann.

Kissinger ist als Jude vor den Nazis geflohen, hat als Mann aus Fürth in Franken für die US-Army gekämpft, nachdem er 1943 die Staatsbürgerschaft der USA erhalten hatte, wurde Special Agent beim Geheimdienst CIC, reagierte bei der Entnazifizierung als »Mr. Henry in Bensheim, knüpfte dort ein Netz von Beziehungen und galt Geschichtsschreibern später als »absolute ruler of Bensheim« (Thomas Alan Schwartz). Seine wissenschaftliche Karriere startete Kissinger am Harvard College. Er schrieb eine Dissertation über »A World Restored: Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace 1812–1822« und machte mit strategischen Überlegungen über Atomwaffen und Außenpolitik erstmals von sich reden: so begann die politische Karriere des Machiavellisten Kissinger: Mit spektakulären Nuklearwaffen-Visionen.

Henry Kissinger ist der Mann, der Atomkriege führbar machen wollte (»Kernwaffen und auswärtige Politik«).

Er ist der Mann, der den Massenmörder Pinochet in Chile unterstützt hat.

Er ist der Mann, der mit politischen »Ungeheuern« dealte.

Kissinger hat Amerika auf den Pfad des ewigen Krieges geführt und bekam den Friedensnobelpreis.

Dies alles ist als Einleitung wichtig, um den Rahmen zu setzen für eine kritische Buchbetrachtung.

Denn jetzt (2022) hat der greise Kissinger im Alter von 99 Jahren wieder ein dickes Buch geschrieben, bei dem es um »Staatskunst« und um »Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert« geht, vielleicht auch um sechs »Leader«, die fast alle umstritten sind, vor allem aber um Kissingers Sicht der Welt.

Man muss ihn nicht bewundern. Man kann das Buch lesen, in dem er Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher für ihre »Leadership« hochleben lässt.

»Dass alle sechs autoritäre, gar autokratische Züge aufwiesen und besonders Nixon, Lee oder auch Thatcher in ihren Regierungszeiten hochumstritten waren und spalterisch wirkten, gehört wohl zum Merkmal des Außergewöhnlichen«. (Stefan Kornelius, Süddeutsche Zeitung).

Vor allem aber gehört es zum Weltbild des Machtpolitikers Kissingers. Dass er seinen umstrittenen Heldinnen und Helden Charakter zubilligt, erscheint angesichts dessen, was sie an Skandalen produziert haben, geradezu zynisch.

Greg Grandin hat seiner Biografie eine typische Kissinger-Sentenz vorangestellt: »Es gibt zwei Arten von Realisten: diejenigen, die Fakten manipulieren, und diejenigen, die sie schaffen. Der Westen braucht nicht so sehr wie Männer, die im Stande sind, ihre eigene Realität zu schaffen.« (Kissinger 1963) Das konnte er zweifellos wie kaum ein anderer – und zwar auf weltpolitischer Ebene.

Andererseits loben Kritiker, dass Kissinger den »Wert eines strategischen Dialogs« so offen darstellt. Dem Westen wirft der Ex-Außenminister in »Staatskunst« vor, dass er eben diesen strategischen Dialog mit Russland »bestenfalls halbherzig geführt habe«, so Michael Kuhlmann im Deutschlandfunk.

Man kann die 608 Seiten aber auch lesen, um Amerika oder einen Teil Amerikas zu verstehen – und die zum Teil erratische Außenpolitik, zumal das Thema Trump ja noch nicht abgeschlossen ist.

Inhalt

Einführung und Einleitung

Kissingers »Staatskunst« ist in acht Kapitel aufgeteilt. Die äußere Klammer bilden die Einleitung mit Anmerkungen zum Wesen politischer Entscheidungen und das Schlusswort zu Evolution politischer Führung.

Die sechs Hauptkapitel charakterisieren Kissingers Protagonist*innen Adenauer, de Gaulle, Nixon, Sadat, Lee und Thatcher.

Eine solche Auswahl ist immer willkürlich. Adenauer, de Gaulle und Thatcher finden sich auch bei Kershaw, wobei man bei Thatcher schon Abstriche machen kann. Dass Kissinger seinen ehemaligen Präsidenten und Watergate-Schurken Nixon ( »Tricky Dicky«) zu den Staatskunst-Helden zählt, erscheint auf den ersten Blick allerdings mehr als problematisch. Man kann die Entscheidung insofern nachvollziehen, als Nixon »in der Hochzeit des Kalten Krieges für eine gewisse Entspannung zwischen den Supermächten« (Kissinger 2022, 19) sorgte. Die positive Sicht Kissinger als Politiker der »die Vereinigten Staaten aus dem Vietnam-Konflikt heraus[geführt]« (Kissinger, 19) erscheint allerdings manipulativ, da gerade Nixon zunächst darauf aus war, den Vietnam-Krieg zu verlängern. Und gerade in der Nixon-Präsidentschaft und Ministerzeit Kissingers wurden verheerende Fehlentscheidungen getroffen, völkerrechtswidrige Bombardements durchgeführt. Kissinger rechnet Nixon zudem positiv an, dass er Beziehungen zu China aufnahm, »einen Friedensprozess im Nahen Osten anstieß und für das Konzept einer Weltordnung im Gleichgewicht eintrat« (Kissinger, 19).

Kissinger singt das Lob visionärer Führungspersönlichkeiten, die in Zeiten der Transformation »Wandel und Fortschritt« (Kissinger, 21) fördern – im Gegensatz zu Managern der Macht, die das Tagesgeschehen verwalten. Man denkt an Olaf Scholz und Friedrich Merz, wenn man den prägnantesten Satz dieses Abschnitts liest: »Doch in Krisenzeiten – im Krieg, bei einem schnellen technologischen Umbruch, einer jähen wirtschaftlichen Disruption oder einem ideologischen Umsturz – kann das bloße Management des Status quo der gefährlichste Kurs überhaupt sein.« (21). Hier muss man Kissinger ohne Abstriche Recht geben. Absicherung ja, Mut aber auch. Ganz Metternich, schreibt Kissinger – der Ampelregierung dürften die Ohren klingeln: »Aber sie verstehen auch, dass die Veränderung nicht über das Erträgliche hinausgehen darf, wenn ihre Gesellschaft florieren soll.« (22)

Prophetisch und staatsmännisch sollen sie sein, wie auch immer dies gelingen mag. Kissinger bringt hier Themistokles ins Spiel, den Führer Athens in der Antike, den »Berechner der Zukunft«. (23)

Das ist alles sehr groß gedacht, sehr schwammig, sehr normativ. Und mit dem letzten vier pathetischen Sätzen der Einleitung erkennen wir, dass der greise weise Kissinger am Ende sein Lebens zum Allwissenden aufgestiegen war – angesichts seiner Vergangenheit mit vielen schurkischen Elementen eine beispiellose Evolution:

»Spielen Individuen eine Rolle in der Geschichte? Einem Zeitgenossen Cäsars oder Mohammeds, Luthers oder Gandhis, Churchills oder Franklin D. Roosevelts hätte sich diese Frage gar nicht gestellt. Dieses Buch beschäftigt sich mit Führungspersönlichkeiten, die in dem endlosen Kampf zwischen dem Gewollten und dem Unausweichlichen begriffen haben, dass menschliches Handeln das, was unausweichlich scheint, unausweichlich macht. Sie waren bedeutsam, weil sie die Umstände überwanden, die sie geerbt hatten, und dadurch ihre Gesellschaften an die Grenzen des Möglichen führten.« (25)

Das ist dann schon die ganz große Pathétique-Sonate, Beethoven as its best. Da geht es um Mut und Energie und Stärke, aber mitnichten um die Menschen. »Man lernt dabei viel über das Selbstbild des 99jährigen«, schreibt Stefan Kornelius in der SZ.

Solche Schmöker werden in der Regel Bestseller – ob zu Recht, sei dahingestellt. Am besten ins Regal.

Wer all dies einordnen möchte, sollte allerdings noch ein zweites Buch lesen, das zwar schon zwei Jahre alt, aber immer noch aktuell ist: Die Kissinger-Biografie von Bernd Greiner: Henry Kissinger: Wächter des Imperiums.

Es ist ein phänomenales Buch, das sich wie ein Krimi liest.

»Es ist viel mehr als eine exzellente Biografie, es bietet eine Darstellung der Grundzüge und Idiotien amerikanischer Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, sinnfällig gemacht anhand des Gespanns Nixon und Kissinger.«  (Süddeutsche Zeitung, Franziska Augstein)

Und Marie-Janine Calic bemerkt:  »Wer dieses Buch gelesen hat, versteht, auf welchen Ideen das Leitbild von ›America first‹ fußt – und warum es mit kluger, vorausschauender Weltordnungspolitik unvereinbar ist.«

 

Anmerkungen

1Greg Grandin ist ein US-amerikanischer Historiker und Professor für Geschichte an der Yale University. Er hat sich auf lateinamerikanische Geschichte, insbesondere auf die Geschichte der Vereinigten Staaten und Lateinamerikas, spezialisiert. Eines seiner bekanntesten Werke ist »Kissinger’s Shadow: The Long Reach of America’s Most Controversial Statesman« (2015). In diesem Buch analysiert Grandin das Leben und die politischen Entscheidungen von Henry Kissinger, der als Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister während der Präsidentschaften von Richard Nixon und Gerald Ford weltweit Macht ausgeübt hat. Grandin beleuchtet kritisch Kissingers politisches Erbe und dessen Auswirkungen auf die Außenpolitik der USA. »Greg Grandin zeigt, dass Henry Kissinger vor allem eines ist: der einflussreichste Architekt des imperialen, militaristischen und weit nach rechts abgedrifteten Amerika von heute. Wer die Krise der Weltmacht USA verstehen will, der muss Kissinger verstehen – und Grandins Buch lesen. Es ist Kissinger, so argumentiert Greg Grandin, der eine militarisierte Version des amerikanischen Exzeptionalismus eingeführt hat, die bis heute einseitig den imperialen Stil der amerikanischen Außenpolitik bestimmt.« (Klappentext Grandin, Kissingers langer Schatten) FR-Rezensent Michael Hesse schreibt: »Wenn man seinem Biographen Greg Grandin folgt, steht der frühere Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon symbolhaft für den eiskalten Realisten. Mehr noch. Er war das fleischgewordene Beispiel für Skrupellosigkeit. […] Was er plante, wie er handelte – es geschah, so Grandin, unter dem Deckmantel der Illegalität, im Verborgenen. Hierzu zählten illegale Abhör-, Einbruchs- und andere Aktivitäten, sie waren Teil des innenpolitischen Konsenses. Grandin sieht in Kissinger den Zauberlehrling, der für alles Böse in den USA steht. Insofern ist diese Kissinger-Biographie eben das, was man in der Literatur über den Außenminister von 1973 bis 1977 als „Killinger“-Lektüre verstanden hat.« Gregor Schöllgen liest die Kissinger Biografie für die FAZ kritischer und wirft Grandin vor, einen Popanz aufzubauen. Es sei grotesk, Kissinger für alle Kriege, die Amerika seit 1972 geführt habe verantwortlich zu machen. Allerdings kommt auch Schöllgen zum Ergebnis, dass Kissinger die Friedensgespräche für Vietnam sabotiert hat, dass er sich als Sicherheitsberater Nixons eine »persönliche Machtzentrale« ausgebaut habe. Von dort habe er den Krieg in Vietnam, die »Interventionen in Kambodscha, dann auch in Laos« gesteuert. In einem weiteren Punkt teilt er die Meinung Grandins: »Weil aber vieles von dem, was Kissinger – von 1973 bis 1977 zugleich als Außenminister – plante und umsetzen ließ, illegal war, entwickelte sich im Biotop des Weißen Hauses eine »Bunkermentalität«. Sie mündete bald in nicht minder illegalen Abhör-, Einbruchs- und anderen Aktivitäten, machte den ›Zerfall des innenpolitischen Konsenses‹ unumkehrbar und ließ den Verursacher dieses Prozesses zum Zauberlehrling werden.« (FAZ vom 29.3.2016: »Harvard-Professor mit Speisekarte. Greg Grandin geht mit dem Staatsmann Henry Kissinger scharf ins Gericht«).

2 Christopher Hitchens war Schriftsteller, Journalist, Kolumnist und literarischer Kritiker, der für seine scharfe Analyse, seinen sarkastischen Humor und seine kontroverse Meinung bekannt war. Er wurde am 13. April 1949 geboren und starb am 15. Dezember 2011. In »The Trial of Henry Kissinger« (2001) machte er den Machtpolitiker Kissinger für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich. Hitchens argumentierte, dass Kissinger in seiner Rolle als Nationaler Sicherheitsberater und später als Außenminister der Vereinigten Staaten in den 1960er und 1970er Jahren politische Entscheidungen getroffen habe, die zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen geführt hätten, insbesondere im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg, dem Putsch in Chile und den völkerrechtswidrigen Flächenbombardements in Kambodscha und Laos.

3 Imperiale Außenpolitik: In der Publizistik sowohl als Vorwurf als auch als Lob genutzt. Kritisch: Peter Rudolf (2007): Imperiale Illusionen. Amerikanische Außenpolitik unter Präsident George W. Bush. Sabine Jaberg; Peter Schlotter (2005): Imperiale Weltordnung – Trend des 21. Jahrhunderts? Klappentext: »Sind die Vereinigten Staaten das »neue Rom«, das die Welt zu Frieden, Demokratie und Wohlstand führt, wie es amerikanische Intellektuelle und Politiker fordern? Oder steuert damit der Globus in Chaos und Gewalt? Ist nicht eine Völkerrechtsordnung unter Ägide der Vereinten Nationen eine friedlichere Alternative? Das Buch gibt aus der Sicht der Friedensforschung Antworten auf eine Frage, die die politische Theorie seit der Antike beschäftigt. Imperiale Ordnungen schaffen oft Frieden, allerdings um den Preis der Freiheit.« Positiv hebt Peter Bender (2005) die Pazifierungsfunktion der Pax Romana und der Pax Americana hervor. Immerhin spricht er mit Blick auf die US-Außenpolitik von einem Empire light. Pax Romana und Pax Americana seien »eindrucksvolle Beispiele, dass Imperien lange Zeit erträglich sein und Frieden erhalten können, wo sonst Ungewissheit, Unruhe und Unfrieden geherrscht hätten« (S. 42). Angesichts der Verbrechen, mit denen diese Pazifierungsfunktion verbunden war, kann man allerdings zu einer sehr viel kritischeren Sicht kommen.

4 Dürrenmatt schrieb in »Sätze für Zeitgenossen« den klugen Satz: »Wer einen Diktator einen Dämon nennt, verehrt ihn heimlich.« Und unmittelbar darauf als nächste Weisheit: »Es hat viele entmutigt, dass ein Trottel wie Hitler an die Macht kommen konnte, aber auch einige ermutigt.« Das soll und kann nicht mit Kissinger verbunden werden, denn ein »Trottel« war er nicht. Kritiker sehen in ihm einen durchtriebenen Mittelschichtsbürger, der später durch seine politischen Aktivitäten und Durchstechereien zum machtvollen Multimillionär wurde.

5 Verdienstvoll ist in diesem Zusammenhang Josef Bramls kluge Analyse »Die transatlantische Illusion – Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können.« (2022) Seine Erkenntnis aus der ersten Amtszeit Trumps: Das »Recht des Stärkeren schlägt Rule of Law» (Braml 2022, 28)

6 Am 16. März 1968 verübten amerikanische GIs in Vietnam ein Massaker an der Zivilbevölkerung des kleinen Dorfs Mỹ Lai, das zum Dorf Sơn Mỹ gehörte. Soldaten sollten das Dorf nach Kämpfern des kommunistischen Vietcong  durchsuchen. Die Bewohner des Dörfchens galten in den Augen der US-Taskforce Barker als potenzielle Unterstützer des Vietcong. Die Neue Zürcher Zeitung beschrieb das von vom US-Militär zunächst vertuschte schwere Kriegsverbrechen 40 Jahre später: »16. März 1968: Die Helikopter der US-Armee steigen auf. Soldaten der «Charlie Company» sind auf dem Weg zum «Einsatzort». Ihr Auftrag: Aufspüren von Angehörigen des Vietcongs, der südvietnamesischen Kommunisten. Die Einheit war Weihnachten 1967 nach Vietnam verlegt worden und verlor in den folgenden drei Monaten etwa 15 bis 20 Prozent ihrer 100 Mann. Den Feind bekamen die GI nie zu Gesicht. Der 24-jährige Lieutenant William Calley hat das Kommando: «Ich stand allein an einem grossen Backsteinhaus und schaute hinein. An der Feuerstelle stand ein Vietnamese, am Fenster ein anderer, und ich knallte sie ab, killte sie. Und seltsam – es machte mir einfach nichts aus.» Der Soldat Kenneth Hodges: «Der Befehl lautete, alle im Dorf zu töten. Irgendwer fragte, ob damit auch Kinder und Frauen gemeint seien. Und die Antwort war: Alle im Dorf!» Immer wieder sexuelle Übergriffe gegen Frauen. Routine, Mordfieber und Lust sind dabei kaum zu unterscheiden. Die Bewohner: mit Bajonetten und Messern verstümmelt. GI haben Ohren und Köpfe abgetrennt, Kehlen aufgeschlitzt und Zungen herausgeschnitten, Skalps genommen. Brunnen werden vergiftet, Häuser und Lebensmittelvorräte in Brand gesteckt. My Lai ist ein Schlachthaus mit 504 ermordeten Kindern, Frauen und Männern. «Glückwünsche den Offizieren und Mannschaften zum ausgezeichneten Gefecht», telegrafiert General William Westmoreland, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam. Einer wagt den bedrängten Dorfbewohnern zu helfen: Der Helikopterpilot Hugh Thompson lässt 16 Vietnamesen ausfliegen. Seine beiden Bordschützen Glenn Andreotta und Lawrence Colburn halten die mordbereiten Kameraden in Schach. Thompson befiehlt zu schiessen, falls Soldaten der Charlie Company versuchen, die Rettungsaktion zu verhindern.« (Michael Marek, Neue Zürcher Zeitung, 14,4,2008)

7  Nachdem der Kriegsveteran Ronald Ridenhour erste Informationen über das Massaker an Abgeordnete und das Verteidigungsministerium geschickt hatte, erhielt Hersh einen entscheidenden Hinweis von Geoffrey Cowan erhalten, dessen explosive Kolumne in »The Village Voice« mehr oder weniger untergegangen war, wonach ein US-Soldat als Verantwortlicher eines Massakers an vietnamesischen Zivilisten vor ein Kriegsgericht gestellt wurde und dass die Armee dies vertuschen wollte. Hersh startete eine umfassende Recherche und kam zu furchtbaren Erkenntnissen, die später weltpolitische Bedeutung bekommen sollten. Trotz anfänglicher Ablehnung von großen Medien gelang es Hersh, im November 1969 über den alternativen Nachrichtendienst Dispatch News Service einen Bericht über das Massaker zu veröffentlichen, der von über 30 US-zeitungen und Magazinen abgedruckt wurde. In. Verbindung mit schockierenden Bildern des Fotografen Ronald Haeberle wurden endlich die grausamen Auswirkungen des Massakers zeigten, das die Armee und die Regierung geheimhalten wollten.

Literatur

Besprochenes Buch

Henry Kissinger (2022): Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Karlheinz Dürr, Anja Lerz, Karsten Petersen, Sabine Reinhardus, Karin Schuler, Thomas Stauder

Originaltitel: LEADERSHIP. Six Studies in World Strategy

Originalverlag: Penguin Press

Hardcover mit Schutzumschlag, 608 Seiten,

München: C. Bertelsmann.

Sekundärliteratur und Rezensionen:

Dürrenmatt, Friedrich: Sätze für Zeitgenossen

Grandin, Greg (2016): Kissingers langer Schatten. Amerikas umstrittener Staatsmann und sein Erbe. München: C.H. Beck.

Greiner, Bernd (2020): Henry Kissinger. Wächter des Imperiums. München: C.H.Beck.

Hitchens, Christopher (2001): Die Akte Kissinger. Original: The Trail of Henry Kissinger. Stuttgart, München: DVA.

Kornelius, Stefan: Henry Kissingers neues Buch »Staatskunst«: Die Außergewöhnlichen. Süddeutsche Zeitung 2.September 2022. https://www.sueddeutsche.de/politik/henry-kissinger-staatskunst-richard-nixon-margaret-thatcher-globale-politik-globale-krisen-1.5631159

Schwartz, Thomas Alan (2020): Henry Kissinger and American Power.