Armin König

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders (plus Kurzbiographie)

Uwe Timm schreibt sich ein Familientrauma von der Seele – Auf Spurensuche bei einem Angehörigen der Waffen-SS

von Armin König

Ein Alt-68er geht auf die Suche, ein Ex-SDS’ler aus der Dutschke-Zeit, der Karriere gemacht hat und nun, im Alter von 53 Jahren einem Familienschicksal nachspürt.

Uwe Timm erzählt die Geschichte seines älteren Bruders Karl-Heinz, der 1943 im Krieg in einem Lazarett in der Ukraine gestorben ist. Eine private Familien-Geschichte, aber auch eine exemplarische. Wie geht einer damit um, dass sich sein Bruder freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet hatte ? Stellt sich ein kritischer Geist wie Uwe Timm auch unbequemen Wahrheiten ? Oder versucht er es mit leichter Unterhaltung, mit Familien-Kitsch gar ?

Gegenüber den 1980er und 90er Jahren hat sich einiges verändert in der literarischen Behandlung der NS-Zeit. Standen damals die Abrechnungen mit den Vätern im Vordergrund, so sind es heute – bei Uwe Timm, Ulla Hahn, Wibke Bruhns, Thomas Medicus – eher behutsame Annäherungen. Nach den Jahrzehnten des Zorns auf die Väter folgt jetzt die Phase einer differenzierten, ja fairen Auseinandersetzung, kritisch, aber verständnisvoll. Das ist nicht ohne Risiko. So vermutet Ulrich Raulff, dass bei diesen Aufarbeitungen die „frommen Lügen des Familiengedächtnisses“ dazu beitragen, Geschichte zu glätten und Härten zu vermeiden. Psychologisch ist dies verständlich: Die Ratlosigkeit der Nachgeborenen, die in einer traumatisierten Familie groß geworden sind, als Schreib-Impetus.

Dass sich Timm „ein Familientrauma von der Seele“ schreibe, vermutet auch Steffen Richter nicht ganz zu Unrecht. Er verurteilt nicht, aber er verharmlost auch nicht.

Uwe Timm nutzt als Material vor allem die Feldpostbriefe und das Tagebuch, das sein Bruder Karl-Heinz während seines Einsatzes in Russland geführt hat, weil er kaum eigene Erinnerungen an ihn hat.

So wird dieser Prosatext zu einer Art Dokudrama, in deren Mittelpunkt die Familie Timm mit ihren Werten und Erziehungszielen steht, mit ihren Brüchen und Traumen, die der nie überwundene Tod des 19jährigen Sohnes und Bruders ausgelöst hat.

Wir lesen Rechtfertigungen der Eltern, wie man sie in diesem Land nach dem Krieg zu tausenden gehört hat: „Die Mistbande!“, hieß es. „Die Verbrecher. Der Junge war aber bei der Waffen-SS. Die SS war eine normale Kampftruppe. Die Verbrecher waren die anderen, der SD. Die Einsatzgruppen. Vor allem die oben, die Führung. Der Idealismus des Jungen wurde mißbraucht.“ Es gab auch andere Ausreden: Befehlsnotstand.

Uwe Timm geht damit kritisch um, aber auch zurück haltend. Er benennt das Versagen der Eltern, insbesondere des Vaters, während er den Bruder weitgehend schont.

Der autoritäre Vater setzte schon immer auf den schönen Schein, der war wichtiger als das Sein. Er ist „ein ehemaliges Freikorps-Mitglied, dem die Nazis jedoch ein wenig zu proletarisch sind, ein kleinbürgerlicher, von Deklassierungsängsten getriebener Parvenü mit dem Auftreten eines weltmännischen Lebemanns, der nach dem Krieg ein Kürschnergeschäft mit immerhin acht Angestellten aufbaut, Ende der 50er Jahre dessen Niedergang erleben muss, zu trinken beginnt und an einem Herzinfarkt stirbt.“ (Thomas Schäfer)

Ein ganz normaler Mann dieser Zeit: harte Kindheit, einsame Jugend, Aufstieg, Krieg, Wiederaufbau, Geschäftsmann, Vorsitzender einer Innungskommission, einer der auf Aktivismus macht, um zu verdrängen, ein charmanter Gesellschafter, ein guter Redner, dem man zugetraut hätte in die FDP zu gehen.

Seine letzten Jahre verliefen deprimierend. Geldnot, angeschlagene Gesundheit, Alkoholprobleme – all dies verleidete ihm die letzten Phase seines Lebens. Und auch der Tod des einst so stolzen Mannes, war am Ende wenig heldenhaft, fast schon Mitleid erregend.

Die Mutter blieb ihrem Mann treu und loyal verbunden. Diszipliniert war sie, freundlich, humorvoll. Und sie stützte ihren Mann, auch wenn er angetrunken war, wenn er Asche verstreute, wenn er seine geschäftlichen Pflichten als Kürschner nicht mehr erfüllen konnte. Sie „schmiss den Laden“, sorgte dafür, dass der Vater sich „mit Anstand durchs Leben schlagen“ konnte.

In einem wesentlichen Punkt unterschied sie sich von ihrem Mann, war sie ehrlicher zu sich selbst: „Die Mutter, die sich nicht für Politik interessierte, fragte sich immerhin nach ihrer Schuld, nicht selbstquälerisch bohrend, aber doch so, dass sie von sich aus fragte: Was hätte ich tun können, was tun sollen? Wenigstens ein Nachfragen, sagte sie. Wo waren die beiden jüdischen Familien aus der Nachbarschaft geblieben? Wenigstens diese Frage, die hätte man nicht nur sich, sondern den Nachbarn stellen müssen, genauso genommen jedem.“ (Uwe Timm, 133)

Man hätte viel zu fragen gehabt, wie Timm feststellt. Aber da gab es den Respekt gegenüber der Mutter, dem Vater, die nicht sprechen wollten über das, was in der Nazizeit und im Zweiten Weltkrieg an Verbrechen geschah, verübt von Deutschen, auch von deutschen Soldaten, Waffen-SS ’lern.

„Dieses Nicht-darüber-Sprechen findet eine Erklärung in dem tiefverwurzelten Bedürfnis, nicht aufzufallen, im Verbund zu bleiben, aus Furcht vor beruflichen Nachteilen, erscherten Aufstiegsmöglichkeiten und in einer hintergründigen Angst vor dem Terror des Regimes. Es ist die zu Gewohnheit gewordene Feigheit – das Totschweigen.“ (Timm, 133)
Uwes Schwester, das ungeliebte Kind – auch sie ist Teil des Timmschen Buches, als Nebenfigur. Aber unwichtig ist sie nicht. Sie war das älteste Kind der Timms, aber eben kein Junge, deshalb Mauerblümchen im Schatten von Karl-Heinz und Uwe. Erst am Ende ihres Lebens blüht sie auf, als sie das Glück der Liebe erfährt.
Lebensläufe einer deutschen Kleinbürgerfamilie. So normal wie ihr Kriegsschicksal. Und deshalb ist Timms Buch ein exemplarisches, ein wichtiges Buch.

Biografie Uwe Timm in Stichworten und Werkverzeichnis

Bio

geboren am 30. 3. 1940 in Hamburg. 

1946-1955 Volksschule,

1955-1957 Kürschnerlehre,

1958-1961 Übernahme des väterlichen Kürschnergeschäfts nach dessen Tod,

1963 Abitur am Braunschweig-Kolleg, einem Erwachsenengymnasium; 

1963-1971 Studium der Philosophie und Germanistik in München und Paris,

1966-1967 Studienaufenthalt in Paris, 

1967/68 politische aktiv im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). 

1971 Promotion in Philosophie („Das Problem der Absurdität” bei Camus), 

1970-1973 Zweitstudium der Soziologie und Volkswirtschaft in München. 

Seit 1971 freier Schriftsteller. 

1971/72 Mitbegründer der „Wortgruppe München”, Mitherausgeber der „Literarischen Hefte” und 1972-1982 der „AutorenEdition”. 

1981 „writer in residence” an der Universität Warwick, Großbritannien. 1981-1983 Aufenthalt in Rom. 1991/92 Paderborner Gastdozentur für Schriftsteller. 1994/95 viermonatiger USA-Aufenthalt. Seit Herbst 1994 ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, und des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. 

Timm ist verheiratet und hat vier Kinder, er lebt in München.



Werke

„Das Problem der Absurdität bei Albert Camus”. Hamburg (Lüdke) 1971. (= Geistes- u. sozialwissenschaftliche Dissertation 20).

„Widersprüche”. Gedichte und ein Essay. Mit Zeichnungen von Carlo Schellemann. Hamburg (Neue Presse) 1971. 

„Zwischen Unterhaltung und Aufklärung”. In: kürbiskern. 1972. H. 1. S. 79-90. 

„Lesebuch 4. Freizeit. Texte zu einem schönen Wort und unserer Wirklichkeit”. Hg. zusammen mit Uwe Friesel. München, Gütersloh, Wien (Bertelsmann) 1973. 

„Heißer Sommer”. Roman. München, Gütersloh, Wien (AutorenEdition) 1974. Lizenzausgabe: Berlin, DDR, Weimar (Aufbau) 1975. 

„Über den Dogmatismus in der Literatur”. In: Kontext 1. Literatur und Wirklichkeit. Hg. von Uwe Timm und Gerd Fuchs. München (AutorenEdition) 1976. S. 22-31. 

„Wolfenbütteler Straße 53. Zeit-Gedichte”. München (Damnitz) 1977. 

„Morenga”. Roman. München (AutorenEdition) 1978. Lizenzausgabe: Berlin, DDR, Weimar (Aufbau) 1979. 

„Kerbels Flucht”. Roman. München (AutorenEdition) 1980. 

„Die Zugmaus. Eine Geschichte”. Mit Zeichnungen von Tatjana Hauptmann. Zürich (Diogenes) 1981. 

„Deutsche Kolonien”. Hg. von Uwe Timm. München (AutorenEdition) 1981. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1986. 

„Die Piratenamsel”. Illustriert von Gunnar Matysiak. Köln (Benziger) 1983. Überarbeitete Neuausgabe: Zürich, Frauenfeld (Nagel & Kimche) 1991. 

„Lauschangriff“. Hörspiel. Westdeutscher Rundfunk 22.5.1984.

„Viele Wege führen nach Rom”. Film. Drehbuch und Regie. Westdeutscher Rundfunk. 1984. 

„Kerbels Flucht”. Film-Drehbuch. Regie: Erwin Keusch. ZDF. 1984.

„Der Mann auf dem Hochrad. Legende”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1984. Lizenzausgabe: Berlin, DDR, Weimar (Aufbau) 1985. 

„Morenga”. 3 Teile. Film-Drehbuch zusammen mit Egon Günther. Regie: Egon Günther. ARD. 1985.

„Der Schlangenbaum”. Roman. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1986. Lizenzausgabe: Berlin, DDR, Weimar (Aufbau) 1987. 

„Der Flieger”. Drehbuch. Regie: Erwin Keusch. 1986.

„Rennschwein Rudi Rüssel”. Ein Kinderroman mit Bildern von Gunnar Matysiak. Zürich, Frauenfeld (Nagel & Kimche) 1989. 

„Vogel, friß die Feige nicht. Römische Aufzeichnungen”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1989. Taschenbuchausgabe unter dem Titel „Römische Aufzeichnungen”: München (Deutscher Taschenbuch Verlag) 2000. (= dtv 12766). 

„Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes. Roman”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1989. 

„Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1993. 

„Die Entdeckung der Currywurst. Novelle”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1993. 

„Die Piratenamsel”. Hörspiel. Süddeutscher Rundfunk. 16. 4. 1994.

„Der Schatz auf Pagensand”. Mit Vignetten des Autors. Zürich, Frauenfeld (Nagel & Kimche) 1995. 

„Rennschwein Rudi Rüssel”. Drehbuch zusammen mit Ulrich Limmer. Regie: Peter Timm. 1995.

„Johannisnacht. Roman”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1996. 

„Die Bubi Scholz Story”. Berlin (Aufbau) 1998. 

„Die Bubi Scholz Story”. Film-Drehbuch. Regie: Roland Suso Richter. ARD. 1998.

„Nicht morgen, nicht gestern. Erzählungen”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1999. 

„Eine Hand voll Gras. Ein Drehbuch”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2000. (= KiWi 580). 

„Eine Hand voll Gras”. Drehbuch. Regie: Roland Suso Richter. 2000. 

„Rot. Roman”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2001.

„Am Beispiel meines Bruders“. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2003.

„Der Freund und der Fremde“. Eine Erzählung. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2005.

„Halbschatten. Roman über Marga von Etzdorf”. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2008.



Preise und Auszeichnungen:

Literaturförderpreis der Freien Hansestadt Bremen (1979); 

Deutscher Jugendliteraturpreis (1990) für „Rennschwein Rudi Rüssel”; 

Literaturpreis der Landeshauptstadt München (1990); 

Bayerischer Filmpreis (1996); 

Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2001); 

Tukanpreis der Landeshauptstadt München (2001); 

Stadtschreiber von Bergen-Enkheim (2002); 

Münchner Literaturpreis (2002); 

Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen (2003) für „Rot”.

Eric-Reger_Preis (2003) der Zukunftsintiatve Rheinland-Pfalz

Jakob-Wassermann-Literaturpreis (2006) der Stadt Fürth

Premio Mondello der Stadt Palermo und Premio Napoli (2006) für „Rot“.

Heinrich-Böll-Preis (2009)

(Bearbeitung nach: KLG/PEN-Autorenlexikon)

Copyright: 

Armin König, 66557 Illingen

Stand 31.12.2009