Armin König

Verletzt und tief getroffen: Ein Bürgerpräsident gibt auf – Ein Opfer mehr im mörderischen Politikbetrieb

Mitten in der größten Finanzkrise der letzten Jahrzehnte tritt der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland zurück, weil er den Respekt vor dem Amt nicht gewahrt sieht. Es war kein Rücktritt mit Ansage, aber wer in den letzten Wochen aufmerksam die deutschen Qualitätszeitungen gelesen hat, der wusste, dass Horst Köhler angeschlagen war. Verletzt und tief getroffen gab der Bürgerpräsident am 31. Mai 2010 auf – ein Mann, der nie die Spiele der Politik mitspielen wollte, der aber von eben dieser Politik erst ins Amt gebracht worden war. Angela Merkel und Guido Westerwelle hatten ihn 2004 inthronisiert: Es blieb ihr bisher einziges Meisterstück. Heute wirkt der Rücktritt als weiteres Menetekel für Kanzlerin Merkel und ihre Partei. Die Demission ist aber auch ein Symptom für ein krankes System, das immer mehr fähige Menschen abschreckt. Eine Woche nach Roland Koch ein Opfer mehr im mörderischen Politikbetrieb – ein Opfer auch medialer Dauerattacken, die Köhler zermürbt haben. Wer will sich das auf Dauer noch antun? Die höchsten Ämter im Staate sind vergleichsweise schlecht bezahlt, die Repräsentanten stehen als öffentliche Personen unter Dauerbeobachtung und werden damit Freiwild für alle, vor allem für den Boulevard, aber zeitweise auch für Qualitätszeitungen.

Man braucht Erfahrung und Resilienz, um all die Anfeindungen zu überstehen. Erfahren kann man dies mittlerweile schon auf kommunaler Ebene. In der politischen Auseinandersetzung im 5-Parteien-System gilt Respekt nicht mehr, die persönliche Ehre spielt keine Geige mehr. Die Politik ist zum Haifischbecken geworden, in der einige Akteure keine Beißhemmungen mehr haben. Das ist die eine Seite der Betrachtungen.

Doch man darf die Schuld für den Köhler-Rücktritt nicht nur im System suchen. Köhler war gewiss kein schlechter Bürger-Präsident. Als politischer Präsident, der er auch sein wollte, machte er jedoch gravierende Fehler. In seiner kurzen zweiten Amtszeit häuften sich diese Patzer. In den letzten Wochen kulminierte die Entwicklung zu einem dramatischen Höhepunkt, der – im Nachhinein betrachtet – geradezu zwangsläufig angesteuert wurde.

Es war die „Süddeutsche“, die den Reigen kritischer Berichte schon vor dem fatalen Afghanistan-Radio-Interview eröffnete hatte, in der Köhler über mögliche deutsche Kriege aus handelswirtschaftlichen Interessen nachgedacht hatte. „Köhler allein zu Haus“ textete Nico Fried am 18. Mai in der SZ und zog dabei Köhlers ehrpusseliges Beharren auf protokollarische Finessen durch den Kakao. Als ich ihn las, dachte ich: Wie hält ein Bundespräsident das aus, so attackiert zu werden? Damals ging es um die Frage, ob Köhler bei der Amtseinführung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts zusammen mit Angela Merkel oder erst nach ihr beim Gericht eintreffen sollte, obwohl sie mit demselben neuen Airbus A319 der Bundeswehr nach Karlsruhe geflogen waren. Ich konnte es nicht fassen, dass die Kanzlerin vorfahren musste, damit das Staatsoberhaupt aus Gründen diplomatischen Brimboriums als Letzter beim Festakt eintreffen konnte. Nico Fried zu dieser protokollarischen Feinheit: „Diesmal legte man im Hause Köhler Wert darauf, dass bei der Ankunft des Bundespräsidenten die anderen Vertreter der Verfassungsorgane schon zugegen sein sollten: Ein besonderer Auftritt für den Präsidenten, wenn schon sonst nichts an ihm besonders ist. Die Anekdote wirkt fast symbolisch für die Bemühungen des Bundespräsidialamtes, Horst Köhler wenigstens zeremoniell als Staatsoberhaupt in Erinnerung zu halten.“ Der SZ-Korrespondent konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass sich die Frage der Erinnerung an Köhler schon so bald stellen würde. Noch ätzender aber ist der letzte Abschnitt Frieds, der den Finger in die Wunde legt – und damit den Blick auf die Kanzlerin lenkt: „Ob die Kanzlerin sich am vergangenen Freitag in Karlsruhe absichtlich einen Scherz auf Kosten Köhlers erlaubte? In ihrem Grußwort sprach sie vom fein gesponnenen Netz, das die Verfassungsorgane bildeten. Namentlich nannte sie dabei zuerst die Bundesregierung und dann den Bundespräsidenten, fügte aber süffisant hinzu: „Ich habe sie nicht in der protokollarischen Reihenfolge aufgezählt; das gebe ich zu.“

Wenn das kein Stich ins Herz war!

Schon damals erfuhren wir nicht nur von Unstimmigkeiten mit der Regierung, die schon länger bekannt waren, sondern auch von Zoff im Schloss Bellevue, von Personalveränderungen und Kündigungen. Am 23. Mai war in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Stellenanzeige für den Chef der Redenschreiber des Bundespräsidenten zu lesen, morgen sollte Petra Diroll ihren Job als neue Köhler-Sprecherin antreten, doch für ihn wird sie garantiert nicht mehr reden, denn Köhler trat heute nach einer PR-Desaster-Woche überraschend zurück.

Offizieller Anlass für den Rücktritt war das unsägliche Interview nach Köhlers Afghanistan-Besuch, in der der Präsident gegenüber dem Deutschlandradio Kultur und dem Deutschlandfunk von der Möglichkeit gesprochen hatte, dass Deutschland möglicherweise im Extremfall auch einen Krieg aus handelswirtschaftlichen Gründen führen müsse. Da war es wieder: das Linkische, das dem klugen Wirtschaftsfachmann und bürgerfreundlichen Quereinsteiger in staatspolitischen Fragen immer wieder die Tour vermasselte. Schon bei der inszenierten Vertrauensfrage von Gerhard Schröder und Joschka Fischer hielt Köhler eine Rede, deren Absurdität uns im Nachhinein um so stärker bewusst wird. Falsches Pathos, überzogene Dramatik – die Sprache des Präsidenten passte nicht zur Situation. Dabei ist das Reden doch eigentlich die große Stärke und fast das einzige Machtmittel eines Bundespräsidenten. Aber sind wir in diesem Punkt nicht doch zu kritisch mit unseren Präsidenten? Wer außer Richard von Weizsäcker war ein genialer Redner?

Köhler konnte die Herzen der Menschen gewinnen. Und er sprach vielen aus der Seele, wenn er die Gier der Finanzmogule kritisierte, die Verantwortungslosigkeit skrupelloser Bankmanager, die Verachtung des Sozialen in einer Ellbogengesellschaft, die nur noch Egoismen und Profite kennt. Noch in jüngster Zeit hat er die wohl wichtigste Rede seiner Amtszeit dazu gehalten.

Ich habe Köhler zweimal erlebt. Obwohl auch ich Polit- und Medienprofi bin, habe ich mich seine Rede, seinen Duktus, seine Nähe als wohltuend empfunden. Er hat nicht jedes Gesetz durchgewunken. Und er hat dem Volk Halt in schwierigen Zeiten gegeben – in der ersten Wahlperiode. Nach seiner Wiederwahl aber schien plötzlich alles anders. Als wir uns nach klaren Präsidentenworten sehnten, schwieg er lange. Die Finanzmarkt-Verwerfungen schienen auch ihm zuzusetzen. Er nahm erst sehr spät Stellung – aber dann klar. Verurteilt haben wir ihn wegen seiner Redepause nicht. Das hat nur die Bundestagsopposition in unangemessener Art getan. Angela Merkel hat sie deshalb zu Recht zurechtgewiesen. Wir hätten Köhler auch nie „Horst Lübke“ oder „Schlossgespenst“ genannt – wie es in hämischen Berichten hieß. Das war verletzend und höchst unfair.

Aber wahr ist auch dies: Ein Präsident muss da sein, wenn man ihn braucht. Selbst im Verteidigungsfall muss er an Bord sein. Köhler ging selbst von Bord, mitten in Turbulenzen, in seinem höchst persönlichen Verteidigungsfall. Das ist schade. Vielleicht wollte er sich nicht mehr verbiegen. Trotzdem hätte er aushalten sollen.

Ich erinnere mich an ein Erlebnis, das ich nie im Leben vergessen werde. Ich war Pressesprecher der CDU-Fraktion im saarländischen Landtag zu einer Zeit, als Oskar Lafontaine im Saarland gerade die Macht übernahm. Die CDU war orientierungslos, führungslos, machtlos. Und manche Politiker, für die ich sprechen sollte, waren schlicht überfordert – wie mein damaliger Fraktionschef „Jünter“ Schacht, ein liebenswürdiger, beliebter und beleibter Sozialausschüssler und CDU-Gewerkschafter. Ich war entsetzt, wie er bei Pressekonferenzen schwadronierte. Einzufangen war er dann nicht. Deshalb wollte ich zurück zu meiner Zeitung, von der ich gekommen war. Dort empfing mich Hans-Günter Adam, der stellvertretende Chefredakteur, ein netter, kompetenter, weißhaariger Journalist der alten Schule. Ich mochte ihn, auch weil er vom Sport kam. Vom Hobby-Bergsteiger Adam hatte ich nie ein lautes Wort gehört. Dieser nette, weißhaarige Mensch brüllte mich an: „Mann, König, haben Sie denn überhaupt kein Stehvermögen? Im Berg gibt es Situationen, da KÖNNEN Sie nicht zurück. Da gibt es nur einen Weg. Den nach vorn. Sie können jetzt nicht zurück. Nicht hier und nicht jetzt!“ Der Satz hat mein Leben mit geprägt.

Auch ich sah damals mein Ego verletzt. Aber ich durfte nicht zurück. Ich ging dann auch nie mehr zurück. Daran musste ich heute denken, als Horst Köhler in einem sehr bewegenden Statement seinen Rücktritt verkündete.

Die Bevölkerung hat wenig Verständnis dafür, dass ihr „Bürger-Präsident“ nun aufgegeben hat. Das war auch in zahlreichen Twitter- und Blogeinträgen am Rücktrittstag zu lesen. „Wegen sowas“ – Kritik aus Politik und Medien – macht doch der Bundespräsident nicht „den Lafontaine“. Aber „sowas“: das war nicht einfach nur die politische Kritik, mit der jeder leben muss, der sich auf dieses Spiel einlässt; es waren die Verletzungen, die Journalisten und Politiker ihm beigebracht hatten. Ihm, dem verfassungsmäßigen Präsidenten, zu unterstellen, dass er die Verfassung brechen würde, um aus wirtschaftlichen Gründen einen Krieg zu beginnen – das wollte er sich nicht vorwerfen lassen. Vielleicht hatte er in diesem Punkt sogar Recht, ich weiß es nicht. In Zeiten der Skandalisierung und der Quotengier zog er einen Schlussstrich, um sich selbst zu schützen. Ich habe Respekt vor einem guten Bürgerpräsidenten und diesem Schritt. Aber ich bedauere ihn auch.

Horst Köhler tut mir leid. Als Mensch. Als Bürgerpräsident.

Die zweite Amtszeit war ein Missverständnis. Staatspolitisch war der Rücktritt ein Fehler. Er schwächt das System, er schwächt die Demokratie. Auch deshalb gibt es keinen Grund für Häme. Und weil Horst Köhler kein schlechter Präsident war. Auch in Zeiten der Unübersichtlichkeit und der Krise hat er versucht, Orientierung zu geben. Am Ende ist er an sich selbst gescheitert. Leider. Und an einem unbarmherzigen System, das es immer schwerer macht, in Zukunft fähige Quereinsteiger oder Nachwuchskräfte zu gewinnen. Für die Demokratie ist dies gefährlich. Das macht mir große Sorgen…

Armin König