Armin König

Historisches und Kritisches: Von China und Polen über Pussy Riot bis Trump

Armin Königs Roundup internationaler politischer Politik – in Verbindung mit Rezensionen und lokalen Bemerkungen.

Die Welt ist alles, was der Fall ist. (Wittgenstein). 

 

Man hält die Nadel in die Erdbebenwarte der Zeit

23.4.2023

Politisches und Kritisches – das klingt nach Beliebigkeit. Das ist es aber nicht.

Die hier gesammelten Beiträge befassen sich mit spannenden Themen. Sie reichen von internationalen Beziehungen über geschichtliche Rückblicke, bedeutende Reden, staatsrechtliche Fragen wie die Massen-Verfassungsbeschwerde, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, den Machtmissbrauch durch Meta/Facebook, lokale Themen, Global Villages, IT-Fragen, Partizipation und vieles mehr.

Vom Essay über den wissenschaftlichen Beitrag über die Rezension von Büchern bis hin zur Notiz ist alles vertreten.

Man hält die Nadel in die Erdbebenwarte der Zeit, um all die Katstrophen zu erfassen, dann schreibt man.

Das hat Max Frisch schon so gemacht.

»Man halt die Feder hin, wie eine Nadel in der. Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben.«

So steht’s in Frisch »Stiller«.

Es ist einer meiner Lieblingsromane.

Frisch war mein Examensautor.

Ihm und Friedrich Dürrenmatt habe ich ich viel zu verdanken.

Armin König

 

China und wir (1)

Wehe, wenn die Daumenschrauben angezogen werden – Wir sitzen in der China-Falle

 

Plant China eine neue Weltordnung abseits gegenwärtiger Strukturen? Also mit eigenen Machtbündnissen, in denen es selbst die Hauptrolle spielt? Und wenn ja: wie? durch wen? mit welchen Mitteln?

Das sind schon vier umfassende Fragen, die zwar nicht so ohne Weiteres zu beantworten sind, derzeit aber von Leitmedien gestellt werden. 

Beim ZDF heißt es »Die neue Weltordnung – Wie umgehen mit China? Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht verschiebt die Koordinaten der Welt.« (12.2.2023)

»China und Xi streben nach neuer Weltordnung«, schreibt das Handelsblatt (3.3.2023) und beantwortet damit bereits die Frage »durch wen?«: Es ist Xi Jinping.

Die Taz, obwohl im Koordinatensystem ganz anders positioniert, ist in der China-Frage auf gleicher Linie wie das Handelsblatt: »Xi Jinpings neue Weltordnung« (15.9.22). Berichtet wird über den chinesisch-russischen Gipfel in Usbekistan. Fazit: »Xi Jinping und Wladimir Putin üben den Schulterschluss – und präsentieren ihre Vision einer alternativen Staatengemeinschaft.« (Taz, 15.9.22)

Und die Frankfurter Rundschau ist schon weiter in der Analyse: »So sieht Chinas Plan für eine neue Weltordnung aus. … Im Westen verfängt die Idee nicht«. (FR 25.2.23)

Auch in der angloamerikanischen Presse ist Chinas Hegemoniestreben ein Megathema.

So titelt »The Economist« in einem Special Report: »China wants to change, or break, a world order set by others. It may yet succeed, says David Rennie«. (The Economist 15.10.2022)

Ausführlich setzt sich auch »The Atlantic« mit Chinas Ambitionen auseinander: »How China Wants to Replace the U.S. Order. What began as a trade war and a tech war between Beijing and Washington is now an ideas war.« (13.7.2022)

Die Frage, ob bereits ein Kampf um eine »neue Weltordnung abseits gegenwärtiger Strukturen begonnen« hat, kann man eindeutig mit ja beantworten.

Was als Handels- und Technologiekrieg zwischen Peking und Washington begann, ist nun offensichtlich, so die internationale Presse, ein Krieg der Ideen.

Tatsache ist:

Seit Jahren hat Peking kontinuierlich die Grundlagen der globalen Ordnung untergraben: Institutionen, internationale Normen und liberale Ideale. Aber der chinesische Präsident Xi Jinping hatte zunächst noch keine umfassende Vision, wie eine von China geführte Alternative funktionieren könnte. Das ändert sich jetzt gravierend. Mit der OBOR-Vision (Neue Seidenstraße, One Belt, One Road) und der GSI-Initiative.

Xi hat seine Ideen für eine neue Weltordnung in die Global Security Initiative (GSI) eingebracht, eine Plattform von Prinzipien zu internationalen Angelegenheiten und Diplomatie, die, wie er argumentiert, die Welt in Chinas Sinne sicherer machen kann.

»Wir müssen zusammenarbeiten, um Frieden und Stabilität in der Welt zu erhalten«, erklärte Xi. »Die Länder der Welt sind wie Passagiere an Bord desselben Schiffes, die dasselbe Schicksal teilen.« Hinter den wohlgesetzten diplomatischen Worten steckt eine ernsthafte Bedrohung, für »The Atlantic« ist es sogar eine tiefe Bedrohung.

Die Initiative sei das Manifest eines Autokraten. Seine Prinzipien und Praktiken würden auf ein globales System hinauslaufen, das neue Maßstäbe setzt. Repressive, autoritäre Regime würden unter Chinas großem Mantel deutlich besser angesehen und behandelt als jetzt in einer US-dominierten Ordnung, die auf demokratischen Idealen beruht.

Die GSI gilt der jüngste und möglicherweise beunruhigendste Beweis dafür, dass die Konfrontation zwischen den USA und China zu einem echten Duell um die globale Vorherrschaft eskaliert.

Es ist ein Kampf um Normen, die alles regeln. Die USA und China kämpfen mit harten Bandagen, um zu definieren, wie Länder interagieren, um die Legitimität verschiedener Regierungsformen, um die globalen Handelsregeln und die Bedeutung der Menschenrechte.

Alles steht auf dem Spiel.

Alles.

Vor allem die Demokratie.

Aber nicht nur.

Es geht auch um Billionen-Geschäfte.

Um Wirtschaftshegemonie.

Um Abhängigkeiten.

Und deshalb ist dieser Kampf der Systeme so fundamental, so dramatisch, so bedeutsam für ganze Welt, auch wenn in Deutschland viele Wirtschaftsbosse und Politiker dies noch nicht erkannt haben.

Wer sind die Protagonisten dieses Dramas?

Wo finden diese Kämpfe statt?

Seit wann?

Wer zieht die Strippen und orchestriert das monumentale Werk?

Welche Ideologie steckt dahinter?

Um welche Monopole geht es?

Was bedeutet dies für Europa? Für Deutschland? Für Taiwan, Korea, Japan? Für Afrika?

Was bedeutet es für den Weltfrieden, wenn China anstrebt, mit allen Mitteln die Nummer eins zu werden?

Was bedeutet es für die Vereinten Nationen und traditionelle Bündnisse und Institutionen?

Ein gigantisches Themenbündel, das in Deutschland viel zu spät kritisch analysiert wurde.

Es gibt viele weitere wichtige Fragen.

Wo liegen die Risiken für China, wenn es eine solche Hegemonialstrategie nun ganz offen verfolgt? Das tut China ja offenkundig. Die Medienberichte belegen dies.

Ist die Weltmacht China einzuhegen? Und wenn ja: Wie? Funktioniert dies mit diplomatischen Mitteln? Oder muss wirtschaftlicher Druck die Diplomatie begleiten? Welche Rolle kann oder muss Europa dabei spielen?

War Deutschland zu lange naiv gegenüber China? Warum hat die Bundesregierung nicht gegen die relevante chinesische Beteiligung am Hafenterminal Tollerort interveniert und diese gewichtige Minderheitenbeteiligung interveniert? Stand oder steht Bundeskanzler Olaf Scholz, einst Bürgermeister der Hansestadt, unter dem Druck von Konzernen? Verfolgt Hamburg Interessen, die nicht deckungsgleich mit den Interessen Europas sind?

Welche Rolle spielt das chinesische Regime bei deutsch-chinesischen Joint Ventures in China (- gibt es einen Maulkorb, wenn es um Uiguren und Zwangsarbeit gibt -)? Wer hat das Sagen in diesen Gemeinschaftsunternehmen? Geht Profit über Moral? Ist das überhaupt zu ändern?

Wie weitet China seinen Einfluss in internationalen Organisationen aus? Welche Rolle spielen neue Organisationen und Institutionen, die unter chinesischer Führung gegründet wurden?   

Die Fragen sind weltpolitisch extrem spannend in einer Zeit gewaltiger Brüche und Verwerfungen, und sie sind durch denvon Russland völkerrechtswidrig geführten Ukraine-Krieg aus der Zone des Denkbaren in die Phase des Realen gerückt.

Wir müssen uns nolens volens damit auseinandersetzen.

In der Ampel-Regierung in Berlin haben sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock um den richtigen Kurs gegenüber China gestritten. Das war und ist nicht gut für das deutsche Ansehen und für Einfluss und Stärke des einstigen Export-Weltmeisters Deutschland. Wer intern streitet, kann nach außen nicht stark auftreten. Machtpolitisch ist ein solches Gezerre äußerst kontraproduktiv. In einer Zeit, in der geopolitische Machtverschiebungen und wirtschaftliche Interdependenzen immer komplexer werden, ist es von entscheidender Bedeutung, dass eine nationale Regierung mit einer vereinten Stimme spricht und eine kohärente Strategie verfolgt. Immerhin hat die deutsche Bundesregierung am 13. Juli 2023 endlich eine gemeinsame Strategie gegenüber China verabschiedet. Sie heißt: Wasch mich, aber mach mich nicht nass. Sie ist weder Fisch noch Fleisch. Jede und jeder musste gesichtswahrend aus dieser leidigen Diskussion in die Sommerpause kommen.

Scholz ist das schwankende Schilfrohr, der Wackler, der Anpassler. Baerbock ist die Forsche, die bis an die  Grenzen des in der  Diplomatie Erwünschten geht.

Aber was heißt hier: diplomatisch erwünscht?

Schon zu Helmut Kohls Zeiten wurde in Peking Klartext gesprochen, der den Kritikern zu Hause nicht klar genug war.

Wer sich mit Chinas neuer Rolle in der Welt und der Reaktion Europas intensiver auseinandersetzt, stellt fest, wie extremspannend und wichtig dieses Thema ist, das in den Nachrichten all die Jahre viel zu kurz gekommen ist.

Die deutsche Politik hat die China so sehr gehätschelt, bis 2009 sogar als Entwicklungshilfeland, dass es heute einen Riesen-Exportüberschuss gibt – nicht der Deutschen, sondern der Chinesen. Wir Deutsche haben ein gewaltiges Problem: Wir sind mega-abhängig geworden von einer autokratischen Macht, die jederzeit die Daumenschrauben anziehen kann.

Und die KP Chinas KANN Daumenschrauben anziehen. Sie hat mächtig viele Erfahrung in Verhaftungen, der blutigen Niederschlagung von Demonstrationen, Arbeitslagern für Minderheiten, militärische Drohungen, Spionage.

Wir waren zu naiv all die Jahre, viel zu gutgläubig. Nun sitzen wir in der China-Falle.

Ob man einschlägige Bücher liest, Zeitungsartikel recherchiert, wissenschaftliche Beiträge studiert, das Nato-Protokoll zur neuen Sicherheitsstrategie, kommt zu einem ziemlich eindeutigen Ergebnis:

Es gibt klare Anzeichen dafür, dass China eine neue Weltordnung abseits gegenwärtiger Strukturen anstrebt. Dies ist auf Chinas wachsende wirtschaftliche und politische Macht sowie   auf   seine   Bemühungen zurückzuführen, internationale Institutionen zu reformieren oder zu umgehen, um seine Interessen durchzusetzen.

China strebt tatsächlich seit der Wahl Xi Jinpings 2012 eine neue Weltordnung an, um die entscheidende globale Führungsrolle zu spielen, während die USA schwächeln. Die strategischen Interessen Xis umfassen die Schaffung von regionalen Wirtschaftsblöcken, den Ausbau von Handelsbeziehungen und Investitionen in Infrastrukturprojekte in anderen Ländern. Das Schlüsselprojekt schlechthin ist OBOR oder BRI, die Neue Seidenstraße (One Belt, One Road oder Belt & Road Initiative). Die gigantische Billionen-Dollar- Initiative umfasst den Bau von Verkehrs- und Infrastrukturprojekten wie  Straßen,  Brücken,  Eisenbahnlinien, Häfen und Energieanlagen in Asien, Afrika und Europa, wie es in diesem Umfang noch kein klassisches Vernetzungsprojekt gab. China plant nicht nur, China baut auch. Und China schafft damit Fakten. In Afrika sind es zum Beispiel Kenia, Tansania, Äthiopien. In Europa schafft China bei den großen Seehäfen Fakten. China hat den Hafen von Piräus in Griechenland gekauft und in eine wichtige Drehscheibe für den Handel zwischen Asien und Europa umgewandelt. Duisburg und Rotterdam sind zu wichtigen Handelsstützpunkten geworden. Die Investitionen, die China in diese Projekte getätigt hat, sind enorm und werden auf mehrere hundert Milliarden Dollar geschätzt. Die genaue Höhe der Investitionen ist jedoch schwer zu bestimmen, da sie oft in Form von Krediten und Finanzierungen erfolgen.

China setzt alle denkbaren Mittel ein, um seine Ziele zu erreichen, darunter wirtschaftliche Macht, politische Einflussnahmeund Technologie. Nicht ohne Grund haben die USA eine Bann über Huawei verhängt, das mit seiner Schlüsseltechnologie in der Telekommunikation alle Vorteile auf seiner Seite hat. Die USA befürchten, dass Huawei-Produkte für Spionagezwecke genutzt werden könnten. Es geht um Systeme der Telekommunikation wie 5G-Netzwerke, die als besonders sensibel und wichtig für die nationale Sicherheit angesehen werden. Es geht um hochsensible Daten und die Gefahr, dass die chinesischeautokratische Führung dies abfängt und auswertet und für Machtzwecke missbraucht.

Chinas massive Bemühungen auf allen internationalen Feldern, die eigene technologische Führungsrolle auszubauen, werden als entscheidend für die Schaffung einer neuen Weltordnung angesehen. Wirtschafts- und Militärexperten aus seriösen Thinktanks gehen davon aus, dass ein Kampf um eine »neue Weltordnung abseits gegenwärtiger Strukturen« begonnen hat.

Die USA, die EU und andere westliche Staaten sind besorgt über Chinas wachsende Macht und seinen Einfluss auf dieinternationale Ordnung. Den nutzen sie auch in UN- Organisationen, im Internationalen Gerichtshof, in nach außen hinunpolitischen Organisationen.

China arbeitet aber auch ganz klassisch mit Repression bis hin zu brutaler Unterdrückung von Oppositionellen(Hongkong-Aktivistinnen und -Aktivisten).

Die USA sprechen gar von geplantem kulturellem Genozid an der Minderheit der Uiguren, von Staatsterrorismus undUmerziehungslagern. Und deutsche Großkonzerne sind in dieser Frage keine Unschuldslämmer.

Die Protagonisten dieses Dramas sind China und andere aufstrebende Staaten, die eine größere Rolle in der internationalen Ordnung anstreben, und die sich China durchaus verbunden fühlen. Fast die Hälfte der Mitglieder der vereinten Nationen sind in chinanahen neuen Netzwerken, Verbünden und Abhängigkeiten. Dort wird auch der brutale AngriffskriegPutins gegen die Ukraine nicht so beurteilt wie im Westen. Und Xi zeigt mit seinen sorgsam zelebrierten Zusammentreffen mit dem russischen Präsidenten, dass er das Machtspiel auf die Spitze treiben kann. Es ist ein antiamerikanisches, antiliberales, antieuropäisches Machtgehabe.

Dass China seine Macht weiter ausbaut, um Taiwan zu überfallen und zu annektieren, gilt als gesicherte Erkenntnis der Militärs und der internationalen Sicherheitsexperten.

Die USA ihrerseits bieten im Verbund mit Australien, Japan, Südkorea und der NATO Paroli, wissend, dass die Situation eskalieren kann. Die Kämpfe um Hegemonie finden also auf verschiedenen Ebenen statt, einschließlich Handel, Technologie,politischer Einflussnahme und Sicherheit und im Weltraumsektor, der höchst spannend werden kann.

Eine Weltordnung liberaler Demokratien mit westlichen Werten scheint vielen Staaten nicht attraktiv genug. China undandere aufstrebende Mächte streben nach einer multipolaren Ordnung mit einer größeren Rolle für nicht-westliche Staaten mitautokratischen oder autoritären Regierungsformen. Demokratie ist nicht ihr Ding. Die Ideologie, die dahinter steckt, ist eineKombination aus nationaler Interessenpolitik und einer Ablehnung der westlichen Vorherrschaft und der westlichen Werte in der Weltordnung.

Meine Meinung:

Wir sitzen in der China-Falle und haben es jahrelang nicht wahrgenommen. Weil wir fixiert waren auf unser kleines deutsches Vorgärtchen

Lesetipp:

Generationen-Debatte

 

 

Gedenken zum 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto – Präsident Steinmeier auf Einladung von Präsident Duda am Denkmal der Helden des Ghettos 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender haben am 19. April in Warschau auf Einladung des polnischen Präsidenten Andrzej Duda gemeinsam mit dem israelischen Präsidenten Isaac Herzog an der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto teilgenommen. Präsident Duda hatte Bundespräsident Steinmeier als ersten deutschen Staatsgast eingeladen, vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos eine Gedenkrede zu halten.

Darüber hinaus nahm der Bundespräsident am Nachmittag an einem Gottesdienst in der Nożyk-Synagoge teil und führte bilaterale Gespräche mit Präsident Duda und Präsident Herzog.

Der Gedenktag endete am Abend mit einem Konzert israelischer und polnischer Musikerinnen und Musiker im Nationaltheater in Warschau.

Die Rede von Präsident Frank-Walter Steinmeier vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos

ZEIT GEZUNT CHAVEYRIM UN FREIND, ZEI GEZUNT YIDDISH FOLK, DERLOZT NISHT MER ZU AZELCHE CHURBOYNES.

[Lebt wohl, Freunde. Lebe wohl, jüdisches Volk. Lasst nie wieder eine solche Katastrophe zu.]

Es ist schwer, heute hier, wo einst das Warschauer Ghetto war, zu Ihnen zu sprechen. Und deshalb möchte ich nicht selbst beginnen, sondern eine der Heldinnen des Ghettos sprechen lassen, und zwar in der Sprache, die so viele Jüdinnen und Juden hier in Warschau, in Polen, in Europa gesprochen haben. In der Sprache, die Deutsche auslöschen wollten. Die Malerin Gela Seksztajn hat uns dieses erschütternde Testament hinterlassen, ehe sie und ihre kleine Tochter Margalit nach Treblinka deportiert wurden.

Es ist notwendig und doch so schwer, als Deutscher und als deutscher Bundespräsident hierher zu kommen. Die entsetzlichen Verbrechen, die Deutsche hier verübt haben, erfüllen mich mit tiefer Scham. Aber es erfüllt mich gleichzeitig mit Dankbarkeit und mit Demut, dass ich an diesem Gedenken teilhaben kann, als erstes deutsches Staatsoberhaupt überhaupt.

Verehrter Staatspräsident Duda, ich danke Ihnen für die Einladung, heute gemeinsam mit Ihnen und Ihren Landsleuten, gemeinsam mit Ihnen, verehrter Staatspräsident Herzog, gemeinsam mit Ihnen, verehrter Marian Turski, verehrte Krystyna Budnicka, verehrte Elżbieta Ficowska, mit Ihnen allen gemeinsam zu gedenken. Das bedeutet mir unendlich viel.

Als deutscher Bundespräsident stehe ich heute vor Ihnen und verneige mich vor den mutigen Kämpfern im Warschauer Ghetto. Ich verneige mich in tiefer Trauer vor den Toten.

„Mit eisernem Besen fegen die ersten kalten Tage jene fort, die schon jetzt auf der Straße leben, die all ihre Kleidung verkauft haben und schwach wie die Herbstfliegen sind. Vergebens die unglaubliche Lebenskraft der Warschauer Juden. Sie schreien und sie wehren sich bis zum Schluss, bis zur letzten Stunde und Minute, aber diese Stunde und Minute wird kommen.“

Diese Zeilen schrieb Rachela Auerbach, die selbst im Ghetto leben musste, in ihr Tagebuch. Wie viel Schmerz liegt in diesen wenigen Sätzen. Wie viel Trauer. Aber auch: wie viel Gefasstheit. Rachela Auerbach wusste, dass die Juden Warschaus verloren waren. Ihren Aufzeichnungen und denen der anderen Mitstreiter des Ringelblum-Archivs verdanken wir das Wissen, welche Gräueltaten die Nationalsozialisten hier verübt haben – und auch die Erinnerung an eine Welt, die sie ausgelöscht haben.

Eine Stadt wird zerstört und ein Volk wird zerstört“, schrieb Rachela Auerbach. Erschüttert liest man von dem Grauen, das die Menschen hinter den hohen Mauern des Ghettos durchlitten. Es ist ein Bericht aus der Hölle. Erschüttert liest man aber auch von der Kraft, der Menschlichkeit, dem Mut; all das bewahrten sich viele. Sogar Liebe gab es im Ghetto, wie der große Marek Edelman so berührend erzählt hat.

Die Leute um Mordechai Anielewicz, Marek Edelman, Jitzhak Zuckerman und viele andere, die Heldinnen und Helden des Warschauer Ghettos haben unvorstellbaren Mut gezeigt in dunkelster Nacht. Sie wollten ein Zeichen setzen: ihre Würde zu bewahren angesichts des sicheren Todes. Sie erhoben sich gegen brutales Unrecht, gegen Willkür, gegen Terror, gegen das Morden. Ihr Mut strahlte über Warschau hinaus und machte anderen Mut. Ihr Mut strahlt auch hinein in unsere Gegenwart heute.

Rachela Auerbach und Marek Edelman gehörten zu den wenigen Überlebenden des Ghettos. Zeugnis abzulegen, das sahen sie ihr Leben lang als ihre Aufgabe an. Rachela Auerbach in Israel, Marek Edelman hier in Polen. „Wir, die überlebt haben, hinterlassen Euch das, damit die Erinnerung […] nicht verloren geht.“ Das ist ihr Vermächtnis an uns: die Erinnerung zu bewahren und weiterzugeben. Damit nicht wieder geschieht, was einmal geschehen ist, wie es der große Primo Levi gesagt hat. Das ist der Auftrag an uns. Das ist der Auftrag, dem sich das POLIN-Museum verpflichtet hat: die Erinnerung zu bewahren an jüdisches Leben in Polen und Europa. Jüdisches Leben, das wieder aufgeblüht ist und auch in Zukunft blühen wird.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns erinnern. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Deutsche uns erinnern. Gela Seksztajn, Rachela Auerbach, Marek Edelman, Mordechai Anielewicz, Emanuel Ringelblum, wer kennt ihre Namen heute in Deutschland? Welche Verbrechen die Deutschen hier im besetzten Polen, hier im Warschauer Ghetto verübt haben, verdient mehr Raum in unserer Erinnerung.

Deshalb ist es mir so wichtig, heute hier bei Ihnen und mit Ihnen zu sein. Ich bin heute hier, um Ihnen zu sagen: Wir Deutsche wissen um unsere Verantwortung und wir wissen um den Auftrag, den die Überlebenden und die Toten uns hinterlassen haben. Wir nehmen ihn an. Für uns Deutsche kennt die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich. Sie bleibt uns Mahnung und Auftrag in der Gegenwart und in der Zukunft.

Deutsche haben Polen überfallen. Am 1. September 1939 überfielen sie Wieluń. Es war der Beginn des Zweiten Weltkriegs – vor vier Jahren haben wir in Wieluń und hier in Warschau gemeinsam daran erinnert. Ein Krieg, der weit mehr als 50 Millionen Menschen das Leben kosten sollte, darunter viele Millionen Polinnen und Polen. Ein Krieg, der hier und im Osten Europas zu einem mörderischen Vernichtungskrieg wurde. Ein Krieg, der in die Barbarei führte.

Deutsche haben das Menschheitsverbrechen der Shoah minutiös geplant und durchgeführt. Deutsche haben Europas Jüdinnen und Juden, die Jüdinnen und Juden Warschaus mit unvorstellbarer Grausamkeit und Unmenschlichkeit verfolgt, versklavt und ermordet. Dass der Hauptverantwortliche für die Vernichtung des Ghettos, der brutale und zynische Schlächter Jürgen Stroop, ausgerechnet aus der Stadt stammte, in der ich geboren bin, ist ein historischer Zufall. Aber das hat mich mit der Hölle des Warschauer Ghettos, den Opfern und dem teuflischen Täter und seinen Mittätern immer wieder in meinem Leben mich beschäftigen lassen. Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings auch, dass viel zu wenige andere Täter sich verantworten mussten nach dem Krieg.

Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben.

Lieber Präsident Duda, lieber Präsident Herzog, viele Menschen in Ihren beiden Ländern, in Polen und in Israel, haben uns Deutschen trotz dieser Verbrechen, trotz des Menschheitsverbrechens der Shoah Versöhnung geschenkt. Welch unendlich kostbares Geschenk war das! Ein Geschenk, das wir nicht erwarten konnten und nicht erwarten durften. Es war dieses Geschenk, das es überhaupt erst möglich machte, dass unsere Länder, dass Polen und Deutschland, dass Israel und Deutschland heute tiefe Freundschaft miteinander verbindet. Diese Freundschaft zwischen unseren Ländern – sie ist wahrlich ein Wunder-Werk! Sie ist ein Wunder nach den beispiellosen Verbrechen der Deutschen – und sie ist zugleich das Werk von Generationen, die vor uns Verantwortung getragen haben; das mutige, das mühevolle Werk von Israelis, Polen und Deutschen, die einander die Hände gereicht haben über den Abgrund der Vergangenheit hinweg – für eine bessere Zukunft.

75 Jahre nach der Gründung des Staates Israel, fast 60 Jahre nach dem Brief der polnischen Bischöfe, über 50 Jahre nach dem Kniefall Willy Brandts hier auf diesem Platz, fast 40 Jahre nach dem ersten Staatsbesuch Israels in Deutschland durch Deinen Vater Chaim Herzog, stehen wir heute, lieber Andrzej, lieber Buji, an diesem historischen Ort, in Erinnerung an die Ermordeten und in der Verantwortung für das Wunderwerk der Versöhnung. Ich weiß, dass uns alle drei dieses eine Bekenntnis verbindet: Wir müssen und wir wollen das Werk der Versöhnung bewahren und in die Zukunft führen.

Die wichtigste Lehre aus unserer Geschichte lautet: Nigdy więcej! !לעולם לא עוד Nie wieder! Nie wieder Rassenwahn, nie wieder entfesselter Nationalismus, nie wieder ein barbarischer Angriffskrieg. Nie wieder – darauf gründet unser gemeinsames Europa. Uns, die wir heute hier gemeinsam gedenken, uns verbinden der Glaube an unsere gemeinsame Zukunft und unsere gemeinsamen Werte: die Gültigkeit des Völkerrechts, das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Freiheit und Demokratie.

Wladimir Putin hat mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff auf ein friedliches, demokratisches Nachbarland diese Werte verhöhnt und die Grundlagen unserer europäischen Sicherheitsordnung zerstört. Der russische Präsident hat das Völkerrecht gebrochen, Grenzen in Frage gestellt, Landraub begangen. Dieser Krieg, er bringt den Menschen in der Ukraine unermessliches Leid, Gewalt, Zerstörung, Tod.

Sie in Polen, Sie in Israel, Sie wissen aus Ihrer Geschichte, dass Freiheit und Unabhängigkeit erkämpft und verteidigt werden müssen. Sie wissen, wie wichtig es ist, dass eine Demokratie sich wehrhaft zeigt.

Aber auch wir Deutsche haben die Lehren aus unserer Geschichte gelernt. Nie wieder, das bedeutet, dass es in Europa keinen verbrecherischen Angriffskrieg wie den Russlands gegen die Ukraine geben darf. Nie wieder, das bedeutet: Wir stehen fest an der Seite der Ukraine – gemeinsam mit Polen und anderen Bündnispartnern. Wir unterstützen die Ukraine humanitär, politisch und militärisch – gemeinsam mit Polen und unseren Bündnispartnern. Nie wieder, das bedeutet, dass wir, die liberalen Demokratien, stark sind, wenn wir gemeinsam und vereint handeln.

Das meine ich, wenn ich von unserer Verantwortung vor der Geschichte spreche. Wir Deutsche werden dieser Verantwortung für die Verteidigung von Frieden und Freiheit gerecht. Und ich bin überzeugt: Unsere Länder, unsere liberalen Demokratien sind in den vergangenen Monaten noch enger zusammengerückt, unsere Freundschaft steht heute auf einem noch stärkeren Fundament.

Hier auf diesem Platz, neben dem Ehrenmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto stehe ich in Trauer und Demut vor Ihnen. Ich bekenne mich zu unserer Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit und zu unserer Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft!

Herzlichen Dank.

[Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier]

 

„Ich bin heute hier, um Ihnen zu sagen: Wir Deutsche wissen um unsere Verantwortung und wir wissen um den Auftrag, den die Überlebenden und die Toten uns hinterlassen haben. Wir nehmen ihn an. Für uns Deutsche kennt die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich. Sie bleibt uns Mahnung und Auftrag in der Gegenwart und in der Zukunft.“ (Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in Warschau)

 

Manchmal muss man Selbstkritik üben – Zu meiner Polen-Kritik

Es war eine bemerkenswerte Rede, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Warschau gehalten hat. Sie hat mir bewusst gemacht, dass wir machmal allzu leichtfertig Polen kritisieren. Bei Israel bin ich viel vorsichtiger. Dabei war Polen eines der ersten Opfer der Vernichtungspolitik von Hitler und den Nationalsozialisten.

Wir wissen, dass das Saarland eine ganz wichtige Rolle bei den deutsch-polnischen Beziehungen gespielt hat und immer noch spielen sollte.

Das bedeutet aber auch, abzuwägen, wen man wie kritisiert.

Ich finde es lobenswert, dass Präsident Duda Präsident Steinmeier eingeladen hat, in Warschau vor dem Denkmal der Helden des Aufstands vom Warschauer Ghetto zu sprechen.    

Steinmeier ist sich dieser Verantwortung bewusst gewesen. Und er sprach beeindruckende Worte:

„Deshalb ist es mir so wichtig, heute hier bei Ihnen und mit Ihnen zu sein. Ich bin heute hier, um Ihnen zu sagen: Wir Deutsche wissen um unsere Verantwortung und wir wissen um den Auftrag, den die Überlebenden und die Toten uns hinterlassen haben. Wir nehmen ihn an. Für uns Deutsche kennt die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich. Sie bleibt uns Mahnung und Auftrag in der Gegenwart und in der Zukunft.

Deutsche haben Polen überfallen. Am 1. September 1939 überfielen sie Wieluń. Es war der Beginn des Zweiten Weltkriegs – vor vier Jahren haben wir in Wieluń und hier in Warschau gemeinsam daran erinnert. Ein Krieg, der weit mehr als 50 Millionen Menschen das Leben kosten sollte, darunter viele Millionen Polinnen und Polen. Ein Krieg, der hier und im Osten Europas zu einem mörderischen Vernichtungskrieg wurde. Ein Krieg, der in die Barbarei führte.

Deutsche haben das Menschheitsverbrechen der Shoah minutiös geplant und durchgeführt. Deutsche haben Europas Jüdinnen und Juden, die Jüdinnen und Juden Warschaus mit unvorstellbarer Grausamkeit und Unmenschlichkeit verfolgt, versklavt und ermordet. Dass der Hauptverantwortliche für die Vernichtung des Ghettos, der brutale und zynische Schlächter Jürgen Stroop, ausgerechnet aus der Stadt stammte, in der ich geboren bin, ist ein historischer Zufall. Aber das hat mich mit der Hölle des Warschauer Ghettos, den Opfern und dem teuflischen Täter und seinen Mittätern immer wieder in meinem Leben mich beschäftigen lassen. Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings auch, dass viel zu wenige andere Täter sich verantworten mussten nach dem Krieg.

Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben.“

Soweit der Rede-Ausschnitt von Frank-Walter Steinmeier. 

Es war eine kluge, empfindsame, verantwortungsvolle Rede, eindrücklich und eindringlich.

Sie hat mich animiert, wieder über die deutsch-polnischen Verträge und die deutsch-polnische Geschihte nachzudenken.

Auch auf diesem Blog war ich manchmal sehr schablonenhaft. 

Ich werde das künftig etwas sensibler angehen. 

Armin König

 

Zauberhaftes Krakau

Krakau ist eine faszinierende Stadt in Südpolen. Sie gilt als eine der schönsten Städte Europas. Mich hat sie begeistert. Die Stadt hat eine lange und reiche Geschichte, die bis ins 7. Jahrhundert zurückreicht. Mit seiner atemberaubenden Architektur, historischen Gebäuden und kulturellen Schätzen ist Krakau ein wahrhaft zauberhafter Ort, der Touristen aus aller Welt anzieht.

Krakaus Altstadt ist ein UNESCO-Weltkulturerbe und bietet eine Fülle von Sehenswürdigkeiten. Der Rynek Główny, der zentrale Marktplatz, ist einer der größten mittelalterlichen Plätze Europas und beherbergt das beeindruckende gotische Rathaus und die Marienkirche mit ihrem hohen Turm und dem berühmten Veit-Stoß-Altar.

Die Tuchhalle von Krakau ist ein faszinierendes historisches Gebäude, das einen Einblick in die reiche Geschichte und Kultur der Stadt bietet. Mit ihrer beeindruckenden Architektur und ihrer historischen Bedeutung ist die Tuchhalle ein unverzichtbares Ziel für Besucher, die Krakau erkunden möchten.

Die Tuchhalle von Krakau, auch bekannt als Sukiennice, ist ein historisches Gebäude im Herzen von Krakaus Altstadt und ein bedeutendes Wahrzeichen der Stadt. Die Geschichte der Tuchhalle reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück, als Krakau zu einem wichtigen Handelszentrum in Mitteleuropa wurde.

Die Tuchhalle wurde ursprünglich als Handelsplatz für Tuche und andere Waren genutzt. Hier trafen sich Händler aus aller Welt, um ihre Waren zu kaufen und zu verkaufen. Die günstige Lage an der Hauptstraße, die von Westen nach Osten durch Krakau verlief, machte die Tuchhalle zu einem wichtigen Handelszentrum und trug zur wirtschaftlichen Blüte der Stadt bei.

Im Laufe der Zeit wurde die Tuchhalle mehrmals umgebaut und erweitert. Im 14. Jahrhundert wurde das Gebäude im gotischen Stil umgestaltet und erhielt seine charakteristische Form mit Arkadengängen im Erdgeschoss und einem offenen Marktplatz im oberen Stockwerk. Im 16. Jahrhundert wurde die Tuchhalle im Renaissancestil umgestaltet und erhielt ihre heutige prächtige Fassade mit reich verzierten Giebeln und dekorativen Elementen.

Die Tuchhalle war nicht nur ein Handelsplatz, sondern auch ein Ort für gesellschaftliche Veranstaltungen und kulturelle Ereignisse. Es wurde als Ort für öffentliche Versammlungen, Feste und sogar als Theater genutzt. Es war auch ein Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle, die hier ihre Werke ausstellten oder sich zu Diskussionen und Debatten trafen.

Die Tuchhalle spielte auch eine wichtige Rolle in der politischen Geschichte von Krakau. Hier fanden wichtige Ereignisse statt, wie die Proklamation der polnischen Verfassung von 1791, die als eine der fortschrittlichsten Verfassungen ihrer Zeit gilt. Die Tuchhalle war also nicht nur ein Ort des Handels, sondern auch ein Ort des kulturellen Austauschs, der politischen Diskussion und der historischen Bedeutung.

Im Laufe der Jahrhunderte hat die Tuchhalle viele Herausforderungen überstanden, darunter Brände, Kriege und politische Veränderungen. Trotzdem hat sie ihre Bedeutung als Symbol für die Geschichte und Kultur von Krakau bewahrt. Heute ist die Tuchhalle ein beliebtes Touristenziel und ein lebendiges Zentrum für Handel und kulturelle Aktivitäten. Besucher können durch die Arkadengänge schlendern und lokale Kunsthandwerke, Souvenirs und kulinarische Köstlichkeiten kaufen.

Die Wawelburg ist eine weitere der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten in Krakau. Die Burganlage besteht aus einer Vielzahl von Gebäuden, darunter eine Kathedrale, ein Schloss und eine Reihe von Palästen. Hier können Besucher die Geschichte Polens hautnah erleben und die prächtigen Innenräume bewundern.

Krakau ist auch bekannt für seine jüdische Geschichte und Traditionen. Das jüdische Viertel Kazimierz ist ein wichtiger Teil der Stadt und ein Muss für alle, die sich für jüdische Geschichte und Kultur interessieren. Hier gibt es viele Synagogen, jüdische Friedhöfe und Museen, die die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Krakau dokumentieren.

Krakau ist auch ein Ort der Kunst und Kultur. Die Stadt beherbergt zahlreiche Museen und Galerien, darunter das Museum der Schönen Künste, das Museum der modernen Kunst und das Nationalmuseum. Besucher können auch das jährliche internationale Jazzfestival besuchen oder eine Aufführung in der Oper Krakau genießen.

Neben all seinen kulturellen und historischen Schätzen ist Krakau auch bekannt für seine gastronomischen Köstlichkeiten. Die polnische Küche ist reich an traditionellen Gerichten wie Pierogi, Bigos und Kielbasa, die in den zahlreichen Restaurants und Cafés der Stadt serviert werden. Besucher können auch die lokalen Märkte besuchen, um frisches Obst, Gemüse und andere kulinarische Schätze zu entdecken.

Insgesamt ist Krakau eine faszinierende Stadt, die es wert ist, besucht zu werden. Mit seiner atemberaubenden Architektur, historischen Gebäuden, kulturellen Schätzen und kulinarischen Köstlichkeiten ist es kein Wunder, dass die Stadt jedes Jahr Millionen von Touristen aus aller Welt anzieht. Wer Krakau besucht, wird von seiner Schönheit und Geschichte verzaubert sein.

 

14 schöne polnische Städte

 

Hier sind 14 schöne Städte in Polen mit kurzen Erklärungen:

 

  1. Warschau – Die Hauptstadt Polens ist eine pulsierende Metropole mit einer reichen Geschichte und Kultur. Besuchen Sie das Schlossplatz und das Königsschloss, den Kultur- und Wissenschaftspalast und den historischen Altstadtplatz.
  2. Krakau – Eine malerische Stadt mit einem mittelalterlichen Stadtkern, einer beeindruckenden Burg und vielen historischen Kirchen. Besuchen Sie auch das jüdische Viertel Kazimierz und das Salzbergwerk von Wieliczka.
  3. Danzig – Eine charmante Hafenstadt mit einer gut erhaltenen Altstadt und einem beeindruckenden gotischen Rathaus. Besuchen Sie auch die Marienkirche und den Langen Markt.
  4. Breslau – Eine lebhafte Stadt mit vielen Brücken und Kanälen, die oft als „Venedig des Nordens“ bezeichnet wird. Besuchen Sie die Jahrhunderthalle und die gotische Kathedrale von St. Johannes dem Täufer.
  5. Posen – Eine historische Stadt mit vielen Barock- und Renaissancegebäuden, darunter das Rathaus und der Dom von Posen. Besuchen Sie auch das Archäologische Museum und den Botanischen Garten.
  6. Lublin – Eine Stadt mit einer reichen jüdischen Geschichte und vielen mittelalterlichen Gebäuden, darunter das Schloss von Lublin und die Dreifaltigkeitskirche. Besuchen Sie auch das jüdische Viertel und das Museum für Folklore und Volkskunst.
  7. Toruń – Eine gut erhaltene mittelalterliche Stadt, die für ihre gotischen Kirchen und das Geburtshaus von Nikolaus Kopernikus bekannt ist. Besuchen Sie auch das Museum der Stadtgeschichte und das Lebkuchenmuseum.
  8. Białystok – Eine Stadt mit vielen historischen Gebäuden und einem prächtigen Palast aus dem 18. Jahrhundert. Besuchen Sie auch den Branicki-Palast und das Historische Museum.
  9. Zakopane – Eine beliebte Ski- und Wanderdestination in den Tatra-Bergen mit vielen traditionellen Holzhäusern und einer pulsierenden Kultur. Besuchen Sie auch das Tatra-Museum und den Gubałówka-Hügel.
  10. Kattowitz – Eine aufstrebende Stadt mit vielen modernen Gebäuden und einer interessanten Architektur. Besuchen Sie das Silesian Museum und die Nikiszowiec-Siedlung.
  11. Biskupin – Eine archäologische Stätte, die eine rekonstruierte eisenzeitliche Siedlung zeigt. Besuchen Sie auch das archäologische Museum und den Biskupin-See.
  12. Bydgoszcz – Eine Stadt mit vielen Grünflächen und Parks, darunter der Botanische Garten und der Myślęcinek-Park. Besuchen Sie auch das Museum des Militärs und der Geschichte und die Fara-Kirche.
  13. Szczecin – Eine Stadt mit vielen historischen Gebäuden und einer interessanten Mischung aus Architekturstilen. Besuchen Sie das Pommersche Herzogsschloss und das Nationale Museum.
  14. Krynica-Zdrój – Ein berühmter Kurort in den Karpaten

 

Die EU und Polen – ein schwieriges Verhältnis

  1. 2015: Amtsantritt der PiS-Regierung in Polen unter Führung von Jarosław Kaczyński.
  2. 2016: Die Europäische Kommission leitet ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Polen ein, bekannt als „Rechtsstaatsverfahren“.
  3. 2017: Das Europäische Parlament nimmt eine Resolution an, in der Sorge über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen geäußert wird.
  4. 2018: Die Europäische Kommission reicht eine Klage beim Europäischen Gerichtshof gegen Polen ein, wegen der Unvereinbarkeit einiger polnischer Gesetze mit dem EU-Recht.
  5. 2020: Die Europäische Kommission veröffentlicht den ersten Bericht über den Mechanismus für die Rechtsstaatlichkeit, in dem erneut Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit in Polen geäußert werden.
  6. Die EU kritisiert Polen wegen der Reformen im polnischen Rechtssystem, darunter Änderungen im Verfassungsgericht und im Justizwesen.
  7. Die EU äußert Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der polnischen Justiz, der Pressefreiheit und der Menschenrechte.
  8. Polen wird mit Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags und rechtlichen Schritten konfrontiert.
  9. Die EU betont die Wichtigkeit der Rechtsstaatlichkeit als Grundwert und Grundlage für die Zusammenarbeit in der EU.
  10. Polen weist die Vorwürfe der EU zurück und betont die Souveränität und Unabhängigkeit seines Rechtssystems.
  11. Die Beziehung zwischen der EU und Polen in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit bleibt komplex und angespannt.

 

Atomrocker Söder verantwortungsfrei: Freistaat-Bayernfürst will weiter kernkraftig kassieren, aber ohne bayerisches Endlager – Knalltütenpolitik

Eine glossierender Kommentar von Dr. Armin König

So ist er, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU): gnadenlos exhibitionistisch, verantwortungsfrei, wenn es um Existenzfragen wie Atomkraft geht, populistisch, rücksichtslos gegenüber anderen Bundesländern und Millionen Nicht-Bayern-Menschen. Sein neuester Vorschlag ist im Landtagswahlkampf so durchsichtig wie überflüssig: in Eigenregie im Freistaat Atomkraftwerke weiterzuführen. Natürlich weiß er, dass das ein bayerischer Schmarren ist, ein mia-san-mia-Unsinn, denn da müsste erst einmal das Grundgesetz geändert werden. 

Keine Windkraft, keine Leitungen, kein Endlager – so sind die Bayern

Und irgendwann merkt auch der größte Bayernfan: Der will uns auf den Fingerhakel-Arm nehmen.

Keine Windkraft, keine Leitungen, kein Endlager. Aber die Segnungen der Atom-Gewerbesteuer für bayerische Gemeinden und die künstlich runtersubventionierten Atom-Strompreise (ohne Endlagerkosten, ohne Folgekosten, ohne Nebenkosten) kassieren. 

Ach ja, Bayern ist mit 28  Millionen Euro an Eon beteiligt und kassiert eine schöne Eigenkapitalrendite. Auch aus Atomkraft. 

Noch wichtiger ist die Beteiligung an der Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind am Standort Garching beschäftigt. »Die Gesellschaft soll nach dem Ausstieg aus der Kernenergie zum deutschen kerntechnischen Kompetenzzentrum weiterentwickelt werden«, heißt es im Beteiligungsbericht des Freistaats Bayern. »Dabei soll sie auch verstärkt mit dem Rückbau der Kernkraftwerke und der Endlagerung der radioaktiven Abfälle befassen und zudem internationaler ausgerichtet und vernetzt werden. Als das Land mit den meisten kerntechnischen Anlagen, die in den nächsten Jahrzehnten zurückgebaut werden müssen, ist der Freistaat Bayern im besonderem Maße an der Weiterentwicklung und dem Erhalt der dafür nötigen Kompetenz in Deutschland interessiert.« 

Das sind dann die Eigeninteressen Bayerns, die kaum einer kennt.  

Anteil der Kernenergie am Gesamtstrombedarf in Deutschland 2022: rund 5 Prozent. 

Tatarenmeldungen aus CDU, CSU, FDP und Atomlobby sind Unsinn

All die Tatarenmeldungen der Atomlobby in Politik und Wirtschaft sind also rein interessegetrieben und haben nichts mit den tatsächlichen Notwendigkeiten zu tun. zu erinnern sei auch an die Probleme der französischen Atomenergie im  trockenen Supersommer.

Also: So läuft das nicht, Söder. Halt einfach mal den Rand und mach ordentlich deine MP-Arbeit. 

Die dazugehörige Meldung lautet: 

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat für Aufsehen gesorgt, indem er sich für eine Rückkehr zur Atomenergie ausgesprochen hat. Konkret forderte er, den Meiler Isar 2 in Landesverantwortung weiterzubetreiben und eine eigene Länderzuständigkeit für den Weiterbetrieb von Kernkraftwerken zu schaffen. Söder begründete seinen Vorstoß damit, dass bis zum Ende des Jahrzehnts jede Form von Energie genutzt werden müsse, solange der Übergang zu den Erneuerbaren nicht vollzogen sei.

Allerdings stößt diese Forderung auf heftigen Widerspruch. Kritiker werfen Söder vor, populistisch und verantwortungslos zu handeln, da Atomenergie ein hohes Risiko für die Umwelt und die Bevölkerung darstellt. Zudem müsste für eine Rückkehr zur Atomenergie das Grundgesetz geändert werden, was angesichts der starken Ablehnung in der Bevölkerung unwahrscheinlich ist.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass Bayern derzeit weder über ein Endlager für den Atommüll noch über ausreichende Infrastruktur für den Transport von Atomkraft verfügt. Auch die Segnungen der Atom-Gewerbesteuer für bayerische Gemeinden und die künstlich runtersubventionierten Atom-Strompreise würden kritisiert.

In diesem Zusammenhang fordern Kritiker Söder auf, sich auf seine Aufgaben als Ministerpräsident zu konzentrieren und sich nicht in populistischen Wahlkampfaktionen zu verlieren. Denn im Oktober wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Diskussion in den kommenden Wochen und Monaten entwickeln wird.

Quellen: dpa, Tagesschau, eigene Erfahrungen  

 

Junge Menschen in Polen sind für Unterstützung ukrainischer Geflüchteter

Wie junge Menschen in Polen zu Geflüchteten stehen und wie das mit ihrem polnischen Selbstverständnis zusammenhängt, untersucht ein neuer ZOiS Report (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien). Die meisten Befragten sind für die politische Unterstützung der Ukraine und für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten. Diese auch langfristig in Polen zu integrieren, ist nach dieser Umfrage des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien dagegen eine weniger akzeptierte Option. In Fokusgruppen zeigten sich Sorgen über die sozialen Herausforderungen, die sich ergeben könnten. Im März 2022 führte das ZOiS in Polen eine Online-Umfrage unter 2002 jungen Menschen im Alter von 16-34 Jahren durch. Die Ergebnisse zeigen eine hohe Aufnahmebereitschaft für ukrainische Geflüchtete unter jungen Pol*innen. „Fast die Hälfte der Befragten gaben an, Polen sollte so viele Geflüchtete aufnehmen wie nötig“, berichten die Autoren Félix Krawatzek und Piotr Goldstein. (Abb. 1) Auch für die politische Unterstützung der Ukraine gibt es breite Zustimmung, besonders im Hinblick auf humanitäre Hilfe. Daneben befürworten knapp 15% die Entsendung polnischer Soldat*innen in die Ukraine. In Bezug auf konkrete Angebote ergibt sich ein gemischtes Bild: Die größte Gruppe der Befragten kann sich nur eine zeitlich begrenzte Unterstützung ukrainischer Geflüchteter in Polen vorstellen und würde es vorziehen, wenn sie in ein anderes europäisches Land weiterreisen oder wieder in die Ukraine zurückkehren, wenn dies möglich ist. Die Aufnahmebereitschaft gegenüber ukrainischen Geflüchteten steht in einem scharfen Kontrast zu der überwältigenden Zustimmung zu den Pushbacks von mehrheitlich muslimischen Geflüchteten, die an der Grenze zu Belarus gestrandet waren. Diese versuchten und versuchen über Belarus, wohin das Lukaschenka-Regime sie 2021 gelockt hatte, nach Polen zu gelangen. (Abb. 2) Darüber hinaus gibt es nur wenig Unterstützung dafür, diesen Geflüchteten das Recht auf Asyl zu gewähren: Nur 9% der Befragten gaben an, dass jene Geflüchteten definitiv das Recht haben sollten, Asyl zu beantragen. Der Report untersucht politische Einstellungen, Wahlentscheidungen und die politische Mobilisierung junger Menschen. Neben der Beteiligung durch Wahlen beteiligten sich junge Pol*innen an Protesten, besonders in Reaktion auf die von der PiS-Partei initiierte Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung, aber auch im Zusammenhang mit den Verstößen der Regierungspartei gegen Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit. In der Umfrage ging es auch um die Meinungen junger Menschen zur polnischen Geschichte und zu Polens Platz in Europa, beides zentrale Aspekte für Vorstellungen von Identität. Junge Pol*innen drückten eine starke emotionale Verbundenheit mit Polen, mit ihrer Region und mit ihren Wohnorten aus. Eine Verbundenheit gibt es auch mit der Europäischen Union, Europa im Allgemeinen sowie mit Zentraleuropa, nicht jedoch mit Osteuropa, verstanden als eine Region, die auch die Ukraine und Belarus umfasst. (Abb. 3) Die Umfrage wurde kombiniert mit Erkenntnissen aus Fokusgruppendiskussionen, die helfen, die in der Umfrage identifizierten Trends zu erklären: „Was die kombinierte Analyse der Fokusgruppendiskussionen und Umfragedaten zeigt, ist das Ausmaß, zu dem Angst und Unsicherheit die Generation junger Pol*innen charakterisiert. Sie sehen sich gleichzeitig mit konkreten Herausforderungen und mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert, für die ihre Elterngeneration nur wenig Orientierungshilfe bieten kann“, schlussfolgern die Autoren des Reports. Stefanie Orphal (ZOiS)  

Deutsch-polnische Belastungen durch Corona-Pandemie

Elzbieta Opiłowska schreibt in „Resilienz grenzüberschreitender Zusammenarbeit im deutsch-polnischen Grenzgebiet in europäischer Perspektive“, veröffentlicht bei „Springer Wissenschaft“: „Die Covid-19-Pandemie und die zahlreichen Grenzbeschränkungen haben 2020/2021 zahlreiche soziale, wirtschaftliche und politische Folgen für die Grenzregionen mit sich gebracht. Die vorübergehende Schließung der Grenzen hat sich nicht nur auf das Leben der Grenzbewohner:innen ausgewirkt, deren Alltagspraktiken im transnationalen Raum eingebettet sind, sondern auch die Funktionsweise der institutionellen Akteure beeinflusst, die für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit verantwortlich sind.“ (Abstract Springer) Es ist anzumerken, dass es die polnische Regierung war, die einseitig die Beschränkungen an der Grenze zu Deutschland einführte. Die deutschen regionalen und lokalen Akteure erwiesen sich in der Krise als unterstützend.

Die polnische PiS-Regierung unter der indirekter Führung von Jarosław Kaczyński

Die PiS-Regierung unter der Führung von Jarosław Kaczyński trat ihr Amt im Jahr 2015 an. Bei ihrem Amtsantritt gab es mehrere zentrale Ansagen:

  1. Kritik an der vorherigen Regierung: Die PiS-Regierung kritisierte die vorherige Regierung, insbesondere die Bürgerplattform (PO), wegen angeblicher Korruption. Man warf der liberalen Bürgerplattform-Regierung  Missmanagement vor und versprach, gegen diese Missstände anzugehen.
  2. Nationalkonservative Agenda: Die PiS-Regierung betonte eine nationalkonservative Agenda mit Schwerpunkten wie Verteidigung der polnischen Souveränität, Stärkung der polnischen Familie, Förderung der polnischen Kultur und Traditionen sowie Schutz der polnischen Werte und Identität. Man kann dies auch „erzkonservativ“ nennen.
  3. Wirtschaftliche Maßnahmen: Die PiS-Regierung versprach, die Wirtschaft zu stärken und die Lebensbedingungen der polnischen Bürger zu verbessern, indem sie beispielsweise Sozialleistungen erhöht, das Rentensystem reformiert und Investitionen in die Infrastruktur des Landes fördert.
  4. Soziale Konservativismus: Die PiS-Regierung setzte sich für eine konservative soziale Agenda ein, die unter anderem restriktivere Abtreibungsgesetze, die Förderung von traditionellen Familienwerten und die Betonung der Rolle der katholischen Kirche in der Gesellschaft beinhaltete.
  5. Migrationspolitik: Die PiS-Regierung lehnte eine aktive Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten ab und betonte die Souveränität Polens in der Entscheidung über die Aufnahme von Asylbewerbern.

Diese zentralen Ansagen prägten die Politik und Maßnahmen der PiS-Regierung seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2015 und führten zu kontroversen Diskussionen und Auseinandersetzungen sowohl innerhalb als auch außerhalb Polens. Im Wahlkampfjahr 2015 verzichtete Kaczyński darauf, sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen zu lassen und nominierte stattdessen den bisher wenig bekannten Andrzej Duda, der die Wahl im zweiten Wahlgang gewann. Duda wurde als enger Vertrauter von Kaczyński angesehen (Bleistifthalter Kaczyńskis) und besuchte ihn sogar in seinem Privathaus. Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2015 trat Kaczyński nicht als Spitzenkandidat seiner Partei an, sondern überließ dies Beata Szydło, die zwar gemäßigter auftrat, sich später aber als ebenso harte Verfechterin rechtskonservativer Grundhaltungen outete. Im Wahlkampf äußerte Kaczyński Ablehnung gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen und warnte vor angeblichen Gefahren wie Krankheiten und der Entstehung von „Scharia-Zonen“. Diese Äußerungen basierten auf umstrittenen Behauptungen von „No-Go-Zonen“ in anderen Ländern durch einen Journalisten.

Rechtsstaatlichkeit: Aufbaumittel für Polen erst, wenn Bedingungen erfüllt sind

  • Europäisches Parlament kritisiert Kommission für ihre Zustimmung zum 35,4-Milliarden-Euro schweren Aufbauplan der polnischen Regierung
  • Aufforderung an den Rat, den Plan nicht zu billigen, bevor nicht alle Bedingungen erfüllt sind
  • Robuste Überwachungs- und Überprüfungsmechanismen für jeden einzelnen Schritt erforderlich
Das Europaparlament hat die EU-Kommission heftig kritisiert. Grund ist die Zustimmung der Kommission zum 35,4 Milliarden schweren Aufbaupkan der polnischen Regierung nach Corona. Die Parlamentarier forderten den Rat auf, den Plan nicht zu billigen, bevor nicht alle Bedingungen erfüllt sind. Die vollständige Einhaltung der EU-Werte sei eine Voraussetzung für die Finanzierung durch den Corona-Aufbaufonds, so die Abgeordneten. Die Meilensteine der Kommission reichten nicht aus.

In einer Entschließung, die mit 411 Stimmen gegen 129 bei 31 Enthaltungen angenommen wurde, äußert sich das Parlament „ernsthaft besorgt“ über die Zustimmung der EU-Kommission zum polnischen Aufbau- und Resilienzplan in Höhe von 35,4 Milliarden Euro.

Die Abgeordneten verweisen erneut auf die bestehenden und anhaltenden Verletzungender in Artikel 2 EUV verankerten Werte, darunter der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz, und bedauern, dass die Mittel aus der Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) den Menschen und Regionen in Polen aufgrund des Vorgehens der polnischen Regierung noch nicht zugutegekommen sind.

Kein Geld, solange die Einhaltung von EU-Recht und -Werten nicht garantiert ist

Die Abgeordneten bekräftigen, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sowie der Vorrang des Unionsrechts nicht als Druckmittel eingesetzt werden dürfen. Sie weisen darauf hin, dass die Einhaltung der EU-Werte eine Vorbedingung für den Zugang zum Aufbaufonds ist und dass der Mechanismus der Rechtsstaatlichkeit-Konditionalität uneingeschränkt auf die ARF anwendbar ist.

Sie fordern den Rat mit großem Nachdruck auf, den Aufbau- und Resilienzplan Polens erst dann zu billigen, wenn das Land die Anforderungen im Rahmen der ARF-Verordnung vor allem im Hinblick auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union vor Interessenkonflikten und Betrug, sowie alle länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, vollständig erfüllt hat.

Polen muss auch alle einschlägigen Urteile des EuGH und des EGMR umsetzen, bevor der nationale Aufbauplan genehmigt werden kann. Die Abgeordneten betonen auch, dass die Etappenziele und Zielwerte in Bezug auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union verwirklicht sein müssen, bevor ein erster Zahlungsantrag eingereicht werden kann.

Die Bedingungen der Kommission reichen nicht aus und müssen konsequent überwacht werden

Das Parlament würdigt den Beschluss der Kommission, als eine wesentliche Voraussetzung für die Freigabe von ARF-Mitteln festzulegen, dass die rechtswidrige Disziplinarkammer des Obersten Gerichts aufgelöst wird und die disziplinarrechtlichen Aufgaben einer anderen Kammer des Obersten Gerichts übertragen werden. Es muss ein solider Überprüfungsmechanismus für diesen Prozess eingerichtet sowie eine Probezeit festgelegt werden, um sicherzustellen, dass die entsprechenden Standards eingehalten werden.

Die Abgeordneten bedauern, dass die Fragen im Zusammenhang mit dem unrechtmäßigen „Verfassungsgerichtshof“ und dem unrechtmäßigen Landesjustizrat in den „Etappenzielen“ nicht behandelt werden. Sie fordern die Kommission auf, in dieser Angelegenheit unverzüglich ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Schließlich erinnern sie daran, dass die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung beim Einsatz von EU-Mitteln kontinuierlich bewertet werden müssen, auch um Rückschritte zu vermeiden. Die Kommission muss davon absehen, Finanzmittel auszuzahlen, und gegebenenfalls Mittel wiedereinziehen, wenn diese Bedingungen nicht mehr erfüllt sind.

Hintergrund

Im Jahr 2017 leitete die Kommission ein Verfahren nach Artikel 7 ein, um dem möglichen Risiko eines Verstoßes gegen die EU-Werte in Polen zu begegnen. Das Parlament hat den Rat seither wiederholt zum Handeln aufgefordert und im Jahr 2020 vor weiteren Rückschritten gewarnt. Die Abgeordneten haben wiederholt gefordert, dass der Konditionalitätsmechanismus aktiviert wird, um den EU-Haushalt vor Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in Polen zu schützen.

Polnische Chronik

Die Präsidentschaftswahl in Polen im Jahr 2020 war ein bedeutendes politisches Ereignis, das die politische Landschaft in Polen geprägt hat. Hier sind einige der wichtigsten Daten der polnischen Politik nach der Präsidentschaftswahl 2020:

    1. Juni 2020: Präsidentschaftswahl: Amtsinhaber Andrzej Duda von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gewinnt die Präsidentschaftswahl gegen Herausforderer Rafał Trzaskowski von der Bürgerplattform (PO) in einer knappen Stichwahl.
    1. August 2020: Amtseinführung: Andrzej Duda wird für seine zweite Amtszeit als Präsident Polens vereidigt.
  • November 2020: Verfassungsgerichtsentscheidung: Das von der PiS dominierte Verfassungsgericht entscheidet, dass Abtreibungen aufgrund von Fetalfehlbildungen verfassungswidrig sind, was zu landesweiten Protesten und Kritik führt.
  • Dezember 2020: EU-Haushalt und Rechtsstaatlichkeit: Die EU-Staats- und Regierungschefs einigen sich auf einen neuen Haushalt für 2021-2027, der erstmals die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit als Bedingung für den Zugang zu EU-Finanzmitteln vorsieht. Polen und Ungarn lehnen dies jedoch ab und blockieren vorübergehend die Annahme des Haushalts.
  • Januar 2021: Verschärfung der Abtreibungsgesetze: Die polnische Regierung unter der Führung der PiS verschärft die Abtreibungsgesetze weiter, was zu landesweiten Protesten und internationaler Kritik führt.
  • Juli 2021: LGBT-freie Zonen: Mehrere polnische Gemeinden erklären sich zu „LGBT-freien Zonen“, was zu internationaler Kritik führt und als diskriminierend gegenüber der LGBTQ+-Gemeinschaft angesehen wird.
  • September 2021: Parlamentswahlen in Polen: Lokale Parlamentswahlen finden in Polen statt, bei denen die PiS ihre Position als stärkste politische Kraft behauptet, jedoch ihre absolute Mehrheit verliert.

Duda hat auf Polarisierung gesetzt und damit Polen gespalten

27. Juni 2020 Die erste Runde der polnischen Präsidentschaftswahl ist vorbei. Nun steht die Stichwahl an.

Es ist Juli 2020, nur wenige Tage vor der Stichwahl an.

Wir stellen fest, dass Amtsinhaber Andrzej Duda ein Scharfmacher ist, der sein Land gespalten hat.

Homophob, illiberal, hetzend ist er durch Polen gezogen, um seinen Herausforderer Rafal Trzaskowski niederzuringen – mit üblen Mitteln. Muss man das so machen? Das war ähnlich wie bei Trump in den USA. Damit hat er bis in die Städte und Gemeinden hinein verheerende Signale gesandt.

Die Hasspredigten gegen Schwule und Lesben gehörten mit zum Wahlkampf-Instrumentarium – und waren übel und gefährlich.

Positiv ist, dass Rafal Trzaskowski, der liberale Oberbürgermeister von Warschau, viel besser abgeschnitten hat als viele erwartet haben.

Es gibt also noch immer und immer deutlicher das moderne, aufgeklärte Polen, das sich nicht vor den Karren von homophoben Scharfmachern spannen lässt. Da bewegt sich etwas, das wollen wir gern unterstützen, und ich bin mittlerweile sicher, dass es wichtig war, VOR dieser Wahl von Seiten der Partnergemeinden klar Farbe zu bekennen gegen jegliche Diskriminierung.

Duda ist ein Erzkonservativer, ein Amerika-Fan, ein Trump-Verehrer.

Dass Duda der erste Staatschef war, der nach dem Corona-Lockdown ins Weiße Haus kommen durfte, kam ja nicht von ungefähr.

Da sind sich zwei Illiberale, zwei Rechtsnationale im Geiste, begegnet.

Der Spiegel schreibt über den ziemlich skrupellosen Duda: „Auf Andrzej Duda war Verlass: Nicht selten wird er „Kaczynskis Kugelschreiber“ genannt, denn er hat bisher fast jedes noch so umstrittene Gesetz unterschrieben. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski ist der wahre Machthaber in Polen, der aus seinem Büro im PiS-Haus an der Warschauer Nowogrodzka-Straße die Staatsgeschicke lenkt. Er gilt auch als Vater jener Justizreform, die Polen in Europa viel Kritik eingebracht hat. Wegen Verstößen gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist in Brüssel ein EU-Verfahren anhängig, an dessen Ende Polen theoretisch sogar seine Stimmrechte in europäischen Gremien verlieren könnte.“

Was das alles mit uns zu tun hat?

Illingen hat eine Partnergemeinde in Polen.

Sie heißt Tuchów und liegt in Kleinpolen (Malopolska). Auch für uns als Partnergemeinden ist es schwer, dass Duda nicht nur extrem polarisiert, sondern auch Menschen wegen ihrer sexuellen Oreinteirung ausgrenzt. Uns macht sorgen, dass er die polnische Gesellschaft gespalten hat und dass dies bis in die Gemeinden reicht, in denen manchmal merkwürdige Beschlüsse gefasst werden, inakzeptable Beschlüsse.

Sowas geht unter die Haut, das steckt man nicht einfach weg.

Aber zum ersten Mal ist die PiS mit dieser Strategie gescheitert. Das ist gut so.

Deshalb sollte man auch in der Europa-Politik auf Seiten der Kommission, des Europaparlements und des Ministerrats klare Kante gegen Kaczynski und seine autoritären Mitstreiter zeigen.

Ich bin  Verfechter  einer Bürger-Partnerschaft. Da haben wir gerade Polen gegenüber eine besondere Verantwortung. Dazu stehe ich.

Ich habe noch erlebt, wie die Polenverträge verhandelt wurden. Kultur, Umwelt, Klimaschutz, Freundschaft, Vereinsbegegnungen – das ist eine Ebene, die funktioniert. Bei unserer Partnerschaft hatte Partei-Politik zwei Jahrzehnte keine Rolle gespielt. Ich hoffe, wir können das wieder korrigieren, was falsch gelaufen ist.

Was mich hoffen lässt, ist die Tatsche, dass es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen bei der Stichwahl aussieht. Rafal Trzaskowski hat gute Chancen gegen Andrzej Duda.

Meine Kollegin Magda Marszalek hatte also Recht, als sie mir schrieb: Lieber Armin, nicht alle denken so wie die PiS.

Übrigens spielt die katholische Kirche in dieser Frage auch eine ziemlich üble Rolle. Da ist die Deutsche Bischofkonferenz gefragt. Ganz gleich wie die Stichwahl ausgeht werden wir viel Arbeit haben, um zu heilen, was bei der ideologischen Auseinandersetzung kaputtgegangen ist. Ich sehe mich in der Verantwortung, Brücken zu bauen und auch in Tuchow für Toleranz zu werben.

Armin König  

Hintergrundinfo Andrzej Duda

Polens Präsident Andrzej Duda ist eine prominente Figur in der europäischen politischen Landschaft und wird oft als Rechtsnationalist bezeichnet. Geboren am 16. Mai 1972 in Krakau, Polen, trat Duda in den 1990er Jahren in die Politik ein und ist Mitglied der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die als konservativ und nationalkonservativ gilt. Duda wurde 2015 zum Präsidenten gewählt und trat 2020 seine zweite Amtszeit an. Seine Präsidentschaft hat sowohl in Polen als auch international Kontroversen ausgelöst. Duda hat in seiner politischen Karriere für eine Vielzahl von kontroversen Themen und politischen Ansichten gestanden. Eine seiner Hauptprioritäten ist die Verteidigung der traditionellen Familienwerte und der katholischen Kirche in Polen. Er hat sich gegen die Gleichstellung von LGBTQ+-Rechten ausgesprochen und Bemühungen zur Einführung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften abgelehnt. Duda hat auch Maßnahmen zur Einschränkung der Abtreibungsrechte unterstützt und versucht, das Abtreibungsrecht in Polen weiter zu verschärfen, was zu landesweiten Protesten geführt hat. Als Präsident hat Duda auch die Gewaltenteilung in Polen in Frage gestellt. Seine Regierung hat umstrittene Justizreformen durchgeführt, die von Kritikern als Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz angesehen werden. Insbesondere hat Duda die Ernennung von Richtern und die Umstrukturierung des Verfassungsgerichts unterstützt, was zu Vorwürfen geführt hat, dass er die Macht der Exekutive über die Judikative stärken möchte. In Bezug auf die Außenpolitik hat Duda enge Beziehungen zu den USA betont und sich für eine stärkere NATO-Präsenz in Osteuropa eingesetzt. Er hat auch eine harte Haltung gegenüber Russland eingenommen und die Unterstützung für EU-Sanktionen gegen Moskau bekräftigt. Darüber hinaus hat Duda oft den Schutz der nationalen Souveränität Polens betont und die Interessen seines Landes gegenüber der EU verteidigt. Allerdings hat Duda auch Kritik an seiner Präsidentschaft erfahren. Seine politischen Ansichten und Maßnahmen werden von vielen als intolerant und spaltend angesehen. Kritiker werfen ihm vor, die Meinungsfreiheit einzuschränken, die LGBTQ+-Rechte zu diskriminieren und die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben. Darüber hinaus wird Duda von seinen politischen Gegnern beschuldigt, nationalistische und populistische Rhetorik zu nutzen, um seine politische Basis zu mobilisieren und die polnische Gesellschaft zu spalten. Insgesamt ist Andrzej Duda als Präsident Polens ein kontroverser und polarisierender politischer Präsident. Während er von Rechtsnationalen für seine nationalistischen Ansichten und seine Verteidigung traditioneller Werte gelobt wird, wird er von vielen Kritikern für seine  diskriminierenden, menschenrechtswidrigen Ansichten und Attacken in Bezug auf LGBTQ+-Rechte, Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung zu Recht heftig kritisiert. Seine Präsidentschaft hat zu politischen Spannungen in Polen und zu internationalen Kontroversen geführt, insbesondere in Bezug auf seine Haltung zu LGBTQ+-Rechten und Justizreformen. Duda bleibt jedoch eine prominente Figur in der polnischen Politik und hat weiterhin eine politische Basis, die ihn unterstützt.  

Hintergrundinfo Tuchow

Tuchów ist eine kleine Stadt in der Region Kleinpolen (Małopolska) in Polen und ist die Partnergemeinde der saarländischen Gemeinde Illingen in Deutschland. Sie liegt etwa 60 Kilometer östlich von Krakau, einer der bekanntesten und größten Städte Polens. Die katholische Kirche spielt eine wichtige Rolle in Tuchów und in der gesamten Region Kleinpolen. Polen ist bekannt für seine starke katholische Tradition, und Tuchów bildet da keine Ausnahme. Die Kirche hat eine prägende kulturelle und soziale Bedeutung in der Gemeinde, und religiöse Feiern und Veranstaltungen sind ein integraler Bestandteil des täglichen Lebens in Tuchów. Das Kloster in Tuchów ist ein weiteres bedeutendes religiöses Zentrum in der Stadt. Es ist bekannt für seine Wallfahrtskapelle, die der Muttergottes von Tuchów gewidmet ist. Das Kloster zieht viele Pilger und Gläubige an, die dort für spirituelle Einkehr und Gebet kommen. Es gibt jedoch auch Stimmen, die das Kloster als Ort der Ewiggestrigen betrachten, da es für konservative religiöse Ansichten bekannt ist und in der Vergangenheit für umstrittene politische Äußerungen einiger seiner Mitglieder kritisiert wurde. In Bezug auf die Bürgermeister von Tuchów sind mir die Namen Marius Rys, Adam ??? und Magdalena Marszałek nicht bekannt. Es ist möglich, dass es in der Zwischenzeit Veränderungen in der politischen Führung der Stadt gegeben hat. Was Tuchów an Sehenswürdigkeiten auszeichnet, ist unter anderem seine Altstadt mit gut erhaltenen Gebäuden aus dem 18. und 19. Jahrhundert, darunter die Pfarrkirche St. Katharina mit ihrem barocken Interieur. Es gibt auch das Schloss von Tuchów, ein Renaissancebau aus dem 16. Jahrhundert, das heute ein Museum beherbergt. Die Stadt ist auch von landschaftlicher Schönheit umgeben, mit malerischen Hügeln und Wäldern, die sich ideal für Outdoor-Aktivitäten eignen. Mariusz Rys und Adam Drogoś sind die ehemaligen Bürgermeister von Tuchów, während Magdalena Marszałek die derzeitige Bürgermeisterin ist.          

 

CHRISTINA VON HODENBERG
DAS ANDERE ACHTUNDSECHZIG – Ein 68 der Frauen

Über ’68 ist doch eigentlich alles gesagt, alles geschrieben – oder? Wir kennen die Helden, die erbitterten Gegner, den Kampf gegen Nazi-Väter, die Rebellion der Jugend gegen das Verschweigen der braunen Vergangenheit. So schrieben es die bisherigen Chronisten.

Alles gesagt, alles geschrieben über 1968? Ganz und gar nicht! Christina von Hodenberg beweist es mit ihrem kompakten, spannenden, gegen den Strich der bisherigen Geschichtsschreibung gebürsteten Buch „Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte“.

In fünf Haupt- und zwei Rahmen-Kapiteln beschreibt sie die Achtundsechziger Bewegung unter einem weiblichen Blickwinkel. Grundlagen waren alte Tonaufnahmen auf über 600 Tonbändern, die die Professorin für Europäische Geschichte an der Queen Mary University und Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in London im Keller des Psychologischen Instituts der Heidelberger Universität entdeckte. Das ist ein Glücksfall. Auf diesen Tonbändern fanden sich Interviews mit Senioren, die seit 1965 aufgezeichnet worden waren.


Dazu schreibt sie: „Die Tonaufnahmen, die ich hörte, erschütterten mein Bild von Achtundsechzig“. (9)

Systematisch sammelte sie Interviews aus und zu dieser Zeit, ließ sie auf einem alten UHER-Universal-5000-Tonbandgerät ablaufen, verschriftete sie und stellte Erstaunliches fest: „Die Stimmen, die ich hörte, kamen aus den Jenseits meiner vermeintlich gesicherten Kenntnisse von Achtundsechzig“. (9) Was Christina Hodenberg an O-Tönen hörte, passte nicht ins bisherige publizistisch vermittelte Weltbild der 68er und der 68er Jahre.

Es war alles ein bisschen anders, unspektakulärer auch.
Manche Kritiker haben ihr angekreidet, dass sie damit Mythen zerstört hat.
Aber als objektive Historikerin hatte sie keine andere Wahl.

Ihr Kapitel befassen sich mit dem „Schah-Besuch in Bonn und Berlin“ (19), den Stereotypien „von Kriegskindern und Nazieltern“ (45), der „Rolle der Alten“ (Trau keinem über 60?“) und der Geschlechterfrage.

Dieses fünfte Kapitel unter dem Titel „Achtundsechzig war weiblich“ (103) ist ein Schlüsselkapitel des Buchs. Die Frauen der 68er Bewegung seien zu Unrecht vergessen oder beiseitegedrückt worden, schreibt die Historikerin:
„Der feministische Teil der Studentenproteste wird geringeschätzt und als Nebenaspekt des politischen, männlichen Achtundsechzig betrachtet“. (107) Als kritische Leserin stellt sie fest: „Unsere Bücher über Achtundsechzig zeigen auf dem Umschlag junge Männer, allen voran Rudi Dutschke, Daniel-Cohn-Bendig, Fritz Teufel und Rainer Langhans“. (107) Als Kontrast zitiert sie Gretchen Dutschke Klotz, dies es „furchtbar“ fand, „dass mich so viele nur als ‚Frau von Rudi‘ gesehen haben“ und sich „nur für Rudi interessierten“. (111) Dabei verstand der den Drang der Frauen nach Unabhängigkeit gar nicht, auch nicht Gretchens Widersprüche – und nicht den Ärger und den „Reibungspunkt“, dass Dutschke eine „Geringschätzung von Hausarbeit“ (111) an den Tag legte, wie viele andere Männer der Studentenbewegung auch.

Die „privaten Auseinandersetzungen um die Emanzipation der Frauen“ waren eben keine „Hintergrundkulisse“ (110), sondern zentral.

So klingt Hodenbergs Schlussfolgerung sensationell:

„Vielleicht müssen wir den Charakter von 1968 als historisches Ereignis anders begreifen, wenn wir das Private gleichgewichtig neben das Öffentliche stellen. Wie schwer wiegen die klassisch politischen Motive der Protestbewegung – der Protest gegen die fortdauernde NS-Belastung, die Kritik des Kapitalismus, der Konsumgesellschaft und des Imperialismus – neben dem Versuch der Frauen, die Geschlechterrollen, die Lebensläufe und die Familien zu verändern? Nicht zufällig ist das westdeutsche 1968 schon häufiger als ‚Lebensstilrevolution‘ gedeutet worden, neben der die fehlgezündete politische Revolte bis zur Bedeutungslosigkeit verblasst“. (110)


Das ist gewagt, originell und erhellend (Isabell Trommer in der Süddeutschen Zeitung), ja sensationell (Wolfgang Hellmich in der Neuen Zürcher Zeitung).


Es gibt aber auch Kritiker, die von Hodenberg vorwerfen, ihr Material methodisch ungenau bearbeitet zu haben. Christoph Möllers hat dies in der FAZ ausgeführt. Es geht ja nicht darum, ob sich „der Weltgeist den Bedürfnissen des Buchmarkts fügt“. Wenn dem so wäre, wäre der Weltgeist bisher ein Mann gewesen, vor allem bei historischen Crossover-Büchern. Methodisch kann man ihr nichts vorwerfen, inhaltlich schon gar nicht.

Ich finde es erfreulich, dass Hodenberg in ihrer Entmythologisierung von #68 auf angloamerikanische Art ihr Material erzählerisch aufbereitet. Das steht im Gegensatz zur oft ermüdenden und keineswegs notwendigen deutschen Fußnoten- und Anmerkungswüste. Wir haben es hier nicht mit einer Dissertation zu tun.

Wo es aber um historische Narrative geht, auch um deren Zertrümmerung, genügen der Anmerkungs-Apparat und Literaturliste voll und ganz den Ansprüchen der Wissenschaft. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass die besten und erfolgreichsten Geschichtsbücher der letzten Jahre von angloamerikanischen Autoren geschrieben wurden.

Möllers kriegt dann doch noch die Kurve. „Zu den wichtigsten Anliegen des Buches gehört es, eine Epoche für die ein Haufen junger Männer emblematisch geworden ist, den Frauen zurückzugeben, ohne die sie nicht möglich gewesen werden.“ Und dass Hodenberg die alten Tonbänder als Kern einer alternativen Mentalitätsgeschichte des Jahres 1968 verwendet habe, sei ein gelungener Einfall.

Christina Trommer (SZ) lobt Hodenbergs methodischen Ansatz, anhand von archivierten Tonband-Interviews drei Generationen in den Blick genommen zu haben: die Revoltierenden selbst, ihre Eltern und ihre Großeltern. Dabei habe sie entdeckt, dass viele gesellschaftliche Wandlungen schon zuvor eingesetzt hatten, dass 1968 auch provinziell und heterogen war und auch der Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Geschichte begrenzt.

Fazit:


Dieses Buch ist richtig wichtig – auch für die Männer aus der „68er- und Folge-Generation“, übrigens indirekt auch für die Geschichte der Sozialdemokratie (schließlich landeten nicht wenige 68er-Revoluzzer bei der SPD, wo sie später Karriere machten).
Es ist ein wichtiges Buch gegen den männlichen Absolutheitsanspruch auf #68, der die Studentenrevolte nach 50 Jahren endlich geschlechtergerecht einordnet und erzählt. Für Historiker und historisch Interessierte ist es eine wahre Fundgrube.

Christina von Hodenberg rückt wichtige Frauen wie Gretchen Dutschke-Klotz, Helke Sander, Sigrid Damm-Rüger und Florence Hervé in den Focus – neben Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit und Hannes Heer.

Der Verlag ist sehr zu loben für dieses Projekt. „Das andere Achtundsechzig“ ist ein Volltreffer.

Nur ein Satz war mir etwas dick aufgetragen: Die Verlagsbehauptung von C.H. Beck, es sei „die erste wahre Gesellschaftsgeschichte der Revolte von 1968.“ Andere haben auch ihre Verdienste.

Dr. Armin König

 

Streit beim CDU-Landesparteitag an der Saar über die so genannte WerteUnion

17.11.2017

Landesparteitage haben immer zwei, manchmal drei Funktionen:

Sie sind das höchste Beschluss- und Wahlgremium und geben den Mitgliedern bzw. deren Delegierten die Möglichkeit, Rechenschaft zu fordern, per Stimmzettel Vertretungsmacht auf Zeit zu verleihen oder Quittungen zu verteilen und Themen zu setzen.

Sie sind natürlich auch die Hoch-Zeit für Vorsitzende, die sich präsentieren und inszenieren und feiern lassen können.

Und sie sind Foren der Auseinandersetzung.

Denn Politik ist auch Meinungskampf.

Das ist ein fundamentales Prinzip der Demokratie, vielfach durch Verfassungsgerichte und -wissenschaftler bestätigt und ausgelegt. Und da ich Politik immer auch als Kommunikation im Meinungskampf betrachte, ganz im Sinne von Habermas, kann ich nichts Falsches daran erkennen, mich bei einem Landesparteitag in einer Rede pointiert in einer Frage zu äußern, in der es um fundamentale Werte der CDU geht. Die Menschen in Illingen wissen, dass ich klare Aussagen mache. Und wenn ich Fehler gemacht habe, korrigiere ich sie – und mich. Wenn es aber darum geht, dass im politischen Meinungskampf Leute, die vorher die große Konfrontation in fundamentalen Fragen gesucht haben, plötzlich empfindlich reagieren, dann ist das zwar menschlich verständlich, aber leider ein bisschen wehleidig. Folgendes ist geschehen: Es hat in den Tagen vor dem CDU-Landesparteitag zwei, drei größere Geschichten gegeben: Alex Zeyer hat sich als Vorsitzender der Jungen Union sehr pointiert und offensiv zu einer Kommunalreform geäußert und dabei sowohl die Gemeinden und ihre Bürgermeister als auch Innenminister Klaus Bouillon attackiert. Weil das in der Sache falsch war, haben Markus Hoffeld und ich dem jungen Heißsporn scharf widersprochen. Wobei ich es gut finde, dass Alex das Thema angestoßen hat. Er weiß aber, dass es in der Küce manchmal sehr heiß werden kann. Wer die Hitze nicht aushält, darf nicht in die Küche gehen, wenn dort scharf gebraten wird. Dann hat die Saarbrücker Zeitung berichtet, eine kleine konservative Gruppe unter der Führung von Stefan Rabel habe sich den Namen Werte-Union gegeben, wolle einen konservativeren Kurs der CDU und wolle die offizielle Anerkennung als Vereinigung. Sie trage den Untertitel Freiheitlich-Konservativer Aufbruch und sei gegen ein „Weiter so“ in der Union. Einer der Protagonisten ist ein ehemaliger AfD-Funktionär. Ich finde das skandalös, und das habe ich auch so gesagt. Wenn eine solche Kleingruppe die großen Schlagzeilen sucht auf Kosten der Gesamt-CDU und der Mitglieder, die explizit für christlich-demokratische und christlich-soziale Werte stehen, dann darf sie sich über eine knallharte Antwort nicht beschweren. Und wenn der Haupt-Verantwortliche dann nicht beim Landesparteitag anwesend ist, den er zwei Tage vorher mit seinem Riesenartikel schon mal aufgemischt hat, dann ist das nicht meine und nicht unsere Schuld. Nur weil Herr Rabel andere Verpflichtungen hat, ist der Fehdehandschuh ja nicht aus der Welt. Deshalb sollten die Verteidiger des Protagonisten jetzt mal den Ball flach halten. Natürlich können sie mich gern kritisieren. Liveauftritte am Mikrofon haben eigene Gesetze. Da kann einem leidenschaftlichen Debattenredner wie mir auch mal eine Bemerkung durchrutschen, die nicht gentlemanlike ist. Ich nehme also den live gesprochenen „frustrierten Ex-Abteilungsleiter“ ohne Umschweife zurück. Alles Andere bleibt. Ich hätte sogar noch viel schärfer einsteigen müssen. Denn dass diese Gruppierung die Traute hat, sich in Anlehnung an die rechtsgerichtete österreichische Partei „Freiheitlich-Konservativ“ nennt, ist mehr als nur ein Spiel mit Begriffen. Das ist ein Spiel it dem Feuer. Ich sage nur „Biedermann und die Brandstifter“. Hier ist nun wirklich Meinungskampf angesagt. Da geht es ums Eingemachte. Und ich lasse mir als überzeugter Christ, als sozialer Christdemokrat und bürgeraktiver, direkt gewählter Bürgermeister von keinem rechts angehauchten Kreis die Grundwerte streitig machen. Und das gilt auch für all die anderen Delegierten, die auf dem Boden des Grundgesetzes, der saarländischen Verfassung, der zehn Gebote und vielleicht auch der Bergpredigt oder der Katholischen oder Evangelischen Soziallehre stehen. Da muss ein Stefan Rabel schon aushalten, wenn ich sage „zieh dich warm an“. Und wenn seine Anhänger (darunter ein Ex-AfD-Funktionär) dann schreien, ich wolle im Gauland-Stil Rabel jagen, dann ist das schlicht falsch, dummdreist und böswillig. Trumps brutale Pläne

Handel einschränken, Klima gefährden, Abkommen brechen, Drecksemissionen erhöhen
Donald Trumps Team hat einen Plan für die ersten 200 Tage seiner Präsidentschaft ausgearbeitet. Demnach wird vor allem die künftige Handelspolitik der USA vor einem Umbruch stehen. Neue Handelsabkommen sollen zuerst den Interessen der amerikanischen Arbeiter und Unternehmen dienen. Wenn es aber keine Verträge auf Augenhöhe sind, machen sie für die Vertragspartner keinen Sinn. Trumps Grundaussage ist vor allem protektionistisch und nationalistisch. Neu ausgehandelte Abkommen sollten vor allem dem Wohl von US-Firmen dienen. Er redet von unfairen Importen und Handelspraktiken. Dass Trump ähnlich argumentiert wie die TTIP-Gegner in Europa, ist aber eher Zufall. Denn im Kern haben Trump und die TTIP-Gegner völlig unterschiedliche Philosophien. Statt multilateraler Verträge plant der künftige US-Präsident nach eersten Konzepten nur noch bilaterale Abkommen.
Das transpazifische Partnerschaftsabkommen TPP soll gecancelt werden. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) will Trump neu verhandeln oder ebenfalls gleich ganz annullieren, was so leicht nicht sein dürfte. So will Trump gleich am ersten Tag seiner Präsidentschaft klären lassen, welche Auswirkungen der Rückzug aus dem Freihandelsabkommen haben würde. Mexiko und Kanada würden unverzüglich über Änderungswünsche informiert. Dazu zählten unter anderem Umwelt- und Sicherheitsstandards.
Dazu werde auch untersucht, wie sich diese rigide Handelspolitik auf die Mittelschicht, den Fertigungs- und Dienstleistungssektor sowie auf ausländische Investitionen in die Vereinigten Staaten auswirken würde.
Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA ist am 1. Januar 1994 in Kraft getreten. Es wurde 1992 zwischen den USA, Kanada und Mexiko geschlossen. Das Abkommen zielt auf eine zollfreie Handelszone für Waren und Dienstleistungen ab. Mit Inkrafttreten des Freihandelsabkommens wurden tatsächlich zahlreiche Zölle abgeschafft, viele weitere wurden zeitlich ausgesetzt. Das Abkommen ging aus dem Kanadisch-Amerikanischen Freihandelsabkommen von 1989 hervor. NAFTA ist neben dem Europäischen Wirtschaftsraum EWR die größte Freihandelszone der Welt. Allerdings gibt es in der NAFTA-Zone weder eine Freizügigkeit von Arbeitnehmern wie in der EU noch Institutionen mit supranationalem Charakter.
NAFTA enthält Regeln zum Investitionsschutz – ein sehr umstrittenes Thema wie bei TTIP und CETA – und sieht die Möglichkeit vor, Investitionsschiedsverfahren einzuleiten, falls die Gewinnerwartungen der Unternehmen durch neue Gesetze geschmälert werden.
Dass Trump NAFTA trotzdem ändern will, ist erstaunlich und entweder populistisch motiviert, um Wähler zu ködern, oder tatsächlich national-protektionistisch.
Der Trump-Plan bricht mit den globalisierungsfreundlichen Flügeln der demokratischen und der republikanischen Partei. Der neue Präsident will die diplomatische Handelspolitik der letzten Jahrzehnte rückgängig machen und stattdessen eine Strategie nach dem Motto „America-First“ und „Make America great again“ verfolgen.
Umwelt- und Sicherheitsstandards sind dem Trump-Team ein Dorn im Auge, waren es schon im Wahlkampf, deshalb überrascht es nicht, dass gerade diese Bereiche ins Visier geraten. Einschlägig sind in diesem Zusammenhang das North American Agreement on Environmental Cooperation (NAAEC) für Umweltbelange und das North American Agreement on Labor Cooperation (NAALC) für Arbeitsrechte.
Außerdem will der neue Präsident in den ersten 100 Tagen prüfen, ob China als Währungsmanipulator einzustufen sei und entsprechend Druck gegen die Asiaten aufbauen.
Nach erster Einschätzung ist es der Versuch, protektionistische Handelspolitik mit der Brechstange zu machen oder zumindest zu propagieren.
Besorgnisse gibt es unter Umweltschützern in der ganzen Welt, dass eine Trump-Administration sich komplett aus de Klimaschutz verabschiedet. Diese Absicht hat Trump während des gesamten Wahlkampfs gebetsmühlenartig wiederholt. Trump twitterte am 6.11.2012: »The concept of global warming was created by and for the Chinese in order to make U.S. manufacturing non-competitive.« Er verfolgt Verschwörungstheorien und will Regeln nicht akzeptieren.
So will er das Pariser Klimaschutzabkommen abschaffen, kann dies aber zunächst gar nicht. Ein Leugner des Klimawandels soll die US-Umweltbehörde leiten.
Der Vertrag ist völkerrechtlich verbindlich. Deshalb kann Trump bis zum Ende seiner vierjährigen Amtszeit nicht einmal die Beteiligung der USA am Pariser Klimaschutzabkommen zurückziehen. Möglichkeiten, das Abkommen zu hintertreiben und zu torpedieren gibt es viele: So könnte Trump, der im Wahlkampf erklärt hatte, der Klimawandel sei eine Erfindung der Chinesen, entscheiden, dass die USA die Zusagen zur Emissionsverringerung einfach nicht einhalten. Außerdem könnte er die Vertragspartnerschaft der USA an der UN-Klimarahmenkonvention kündigen, was ungefähr ein Jahr dauern würde.
Die Klimarahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) ist das internationale, multilaterale Klimaschutzabkommen der Vereinten Nationen. Ihr Ziel ist es, eine gefährliche anthropogene – also eine vom Menschen verursachte – Störung des Klimasystems zu verhindern. Die UNFCCC wurde 1992 im Rahmen der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro ins Leben gerufen und trat zwei Jahre später in Kraft. Mittlerweile haben 195 Staaten die UNFCCC ratifiziert und damit nahezu alle Staaten der Welt. Ein Ausscheiden der USA wäre ein ebenso starkes wie verheerendes Signal.
In der Klimarahmenkonvention haben sich die Staaten nicht nur darauf geeinigt eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems zu verhindern, sondern auch eine entsprechende Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen zu erreichen. Das soll auf einem Level geschehen, welches den natürlichen Ökosystemen eine Anpassung erlaubt, welche die Nahrungsmittelproduktion sicherstellt und nachhaltiges ökonomisches Wachstum erlaubt (Artikel 2 der Klimarahmenkonvention).
Was eine „gefährliche“ Störung des Klimasystems genau bedeutet, lässt die Konvention offen. Im Jahr 2010 auf der 16. Vertragsstaatenkonferenz in Cancún beschlossen die Vertragsstaaten, den globalen Temperaturanstieg auf unter zwei Grad Celsius gegenüber vorindustrieller Zeit zu begrenzen.
Katastrophal in der Wirkung wäre das Ausbleiben des Geldes, das die USA als Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels aufbringen wollten. Unter Obama hatte das Land 800 Millionen Dollar jährlich dafür zugesagt. Einer Verringerung dieser Mittel müsste der US-Kongress zustimmen. Angesichts der republikanischen Mehrheit dürfte dies kein Problem sein.
Der Paradigemnwechsel könnte also radikal und brutal sein – so wie wir Trump bisher kennengelernt haben. Die Folgen sind unabsehbar: »Politikwissenschaftlich gesehen, ist der Fall Trump hochspannend. Er wird konkret zeigen, inwieweit es dem Regierungschef einer modernen Demokratie tatsächlich möglich ist, hinsichtlich langfristiger und komplexer Probleme von weltweiter Bedeutung den von seinem Vorgänger sowie den Führungen vieler anderer Nationen eingeschlagenen Kurs radikal zu ändern. « (Ulf von Rauchhaupt, FAZ v. 16.11.2016: Klimaschutz Schtonk!)
Zu den wichtigsten Ziele des Trump-Teams gehört es, den Clean Power Plan der Umweltschutzbehörde abzuschaffen. Nach diesem Ökoplan sollten vor allem die Kohlendioxidemissionen reduziert werden. Das hätte bedeutet, dass viele Kohlekraftwerke hätten abgeschaltet werden müssen. Vermutlich wird dies jetzt nicht geschehen. Wenn es stimmt, dass fossile Brennstoffe unter Trumps Präsidentschaft eine bedeutende Rolle spielen, dann ist dies ein verheerendes Signal für Klimaschützer in aller Welt.
Unterdessen hat Chinas kommunistische Führung eine scharfe Warnung in Richtung Trump abgeschlossen. falls Trump, wie im Wahlkampf angekündigt, China zu einem „Währungsmanipulierer“ erkläre und bis zu 45 Prozent Strafzölle auf chinesische Güter erhebe, werde es zu einem Handelskrieg kommen. In diesem Fall werde China „Gegenmaßnahmen“ ergreifen, die den gigantischen Handel zwischen China und den USA lahmlegen würden. Demnach würden sich Chinas Reaktionen auf Trumps angekündigten Protektionismus nicht in Strafzöllen oder Importbegrenzungen erschöpfen.
Trump hatte im Wahlkampf immer wieder chinesische Importe für Arbeitsplatzverluste verantwortlich gemacht und Peking betrügerische Methoden in der Handelspolitik unterstellt.

Armin König   Von Pussy Riot bis Graffiti – die Reize unkonventioneller Partizipation Die Einen sind desillusioniert von der Entwicklung des Digitalen und der digitalen Partizipation und Revolution – das gilt insbesondere für den Virtual-Reality-Papst Jaron Lanier, die Anderen forschen noch munter und testen die Chancen politischer Partizipation „jenseits der Konventionen“. Wir wollen nicht von vornherein die Bedenkenträger-Rolle spielen. Aber auch hier bemächtigen sich Konzerne der bisher so basisdemokratischen Elemente. So jedenfalls haben es Dorothée de Nève und Tina Olteanu festgestellt. Aber sie sehen auch Chancen. Ihr Buch ist ohnehin ein „Work in Progress“, und so soll an dieser Stelle ein Zwischenbericht über die Forschungen gegeben werden. Es geht dabei auch und vor allem um Protestformen, die in den letzten Jahren für Schlagzeilen gesorgt haben. Pussy Riot, Flashmobs und Occupy Wallstreet sind die spektakulärsten ‚Vertreter dieser „politischen Partizipation“ jenseits der Konventionen. Hohe Aktualität, hohe Relevanz und innovative strategische Potenziale kennzeichnen diese unkonventionellen Partizipationsformen – von Graffiti über Predigten, LeserInnenbriefe, Paypal-Unterstützung, Facebook- und Twitterkommunikation. Damit werden auch neue Akzente im Forschungsfeld gesetzt – für die Herausgeberinnen Olteanu und de Nève war dies nicht nur eine wissenschaftliche Herausforderung. Für sie „eröffneten die eigenen Recherchen und der neuentdeckte Zugang zu anderen Quellen der empirischen Forschung neue Erkenntnisse und waren nicht zuletzt mit einem nicht zu unterschätzenden Spaßfaktor verbunden.“ (7) Es ist selten, dass PolitikwissenschaftlerInnen diese Lust am Forschen so offen bekennen. Aber warum soll Wissenschaft nicht auch Spaß machen? Gründe gibt es genug für die beiden Forscherinnen. „Dies gilt besonders für die eigene Fotodokumentation der Graffiti, die wir seit 2005 betreiben, aber auch für die Recherchen zu Flashmobs und die Lektüre von LeserInnenbriefen und Predigten.“ PD. Dr. Dorothée de Nève ist Politikwissenschaftlerin und lehrt an der Fernuniversität Hagen als Vertretungsprofessorin im Lehrgebiet „Staat und Regieren“. Forschungsschwerpunkte sind politische Partizipation, Governance und Zivilgesellschaft sowie Politik und Religion. Dr. Tina Olteanu ist Politikwissenschaftlerin. Sie ist Universitätsassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien im Bereich Transformationsprozesse in Mittel-, Ost – und Südosteuropa. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Demokratieforschung, Transformations-, Partizipations- und Korruptionsforschung. Zusammen mit weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beackern sie das weite Feld der unkonventionellen Partizipation. Dass diese sehr facettenreich ist und dass in Twitterzeiten auch eher private Instrumente allgemeinpolitisch relevant werden können, wird in dem Sammelband eindrucksvoll beschrieben. An die Stelle klassischer konventioneller Beteiligungsmöglichkeiten sind vielfach neue Formen getreten, die den AkteurInnen mehr Einfluss gewähren. Die Aufsätze im Sammelband präsentieren Teilergebnisse der Forschung. Konventionen beleben Im Aufsatz „Protest bis zur letzten Instanz – Massenverfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht“ untersucht Christian Schreier das konventionelle Instrument der Verfassungsbeschwerde in einem neuen Kontext. Als „Massenverfassungsbeschwerde (MVB)“ (29) gewinnt sie eine völlig neue Relevanz und trägt damit dazu bei, „durch Störung des politischen Machtkreislaufs Handlungsdruck“ (29) durch zivilgesellschaftliche Akteure aufzubauen. Wichtig ist dabei vor allem die Kommunikation der MVB über Massenmedien, um auf diesem Weg „die Implementation eines Gesetzes oder einer Rechtsnorm zu verhindern“ (29). Die MVB gilt mittlerweile als etabliertes Instrument, mit dem die Zivilgesellschaft auf innovative Form gesellschaftliche Anliegen mit hoher Relevanz vermitteln und damit Kontrolle ausüben kann. Ursprung der Massenverfassungsbeschwerde in Deutschland war die Verabschiedung des Volkszählungsgesetzes 1983. Kurz vor dem Stichtag der Zählung am 27. April 1983 setzte eine Protestbewegung ein, die von der Bundesregierung und den Parlamentsfraktion stark unterschätzt wurde. Eingereicht wurden schließlich 1314 Verfassungsbeschwerden. Die Kritik richtete sich vor allem gegen die Absicht des Gesetzgebers, Volkszählungsdaten zum Abgleich für die Melderegister zu verwenden. Protestiert wurde aber auch gegen Art und Umfang des Fragebogen und der Fragen, weil diese Rückschlüsse auf die Identität des Befragten zuließen. Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 15. Dezember 1983 war die Volkszählung aufgrund einer einstweiligen Verfügung des Gerichts zunächst ausgesetzt. Das Gesetz wurde schließlich in Teilen für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt. Zwar der Protest ins Leere, weil „die Volkszählung damit nicht vom Tisch war, sondern einige Zeit später unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben stattfinden“ (31) konnte. Aber das Bundesverfassungsgericht nahm die Massenverfassungsbeschwerden zum Anlass, seinerseits „die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Datenschutzes umfassender zu prüfen.“ (Präambel des BVerGs-Urteils 1 BvR 209; 269; 362; 420; 440; 484/83 vom 15.12. 1983) Es etablierte auf Initiative der zahlreichen Verfassungsbeschwerden ein eigenständiges Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitrechts. Das war Meilenstein und Paradigmenwechsel zugleich. „Die öffentliche Aufmerksamkeit sorgte dafür, dass politische Akteure es nicht riskieren konnten, sich öffentlich gegen diese Entscheidung zu positionieren, ohne die Gefahr einzugehen, von der Öffentlichkeit abgestraft zu werden.“ (32) Erfolg hatte auch die MVB gegen die Vorratsdatenspeicherung. Zunächst erließ das BVerfG im März 2008 eine einstweilige Verfügung. Im März 2010 wurde das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung endgültig gestoppt. In Folgeverfahren hat das Bundesverfassungsgericht allerdings deutlich gemacht, dass es sich auch durch MVBs nicht instrumentalisieren lässt, etwa bei der MVB von Apotheken gegen das Beitragssicherungsgesetz und gegen den Zensus 2011. Massenverfassungsbeschwerden sind ein konventionelles Mittel, das bei innovativem Einsatz und kompetenter juristischer Vertretung hohe mediale Aufmerksamkeit, eine längerfristige Beeinflussung der Entscheidungsträger und eine hohe Mobilisierungswirkung bei beschränktem finanziellen Mitteleinsatz verspricht. „Die InitiatorInnen übernehmen dabei die klassische zivilgesellschaftliche Funktion der Themenanwaltschaft für ein spezifisches Thema und einen begrenzten Zeitraum“. (42) Unverkennbar ist die Nähe zu innovativen partizipatorischen Planungsansätzen wie der Anwaltsplanung. MVB tragen damit zur Gewaltenkontrolle und zur Gewaltenteilung bei. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Vertrauen in die neutrale Rolle des BVerfG als eigenständiges Verfassungsorgan, dem „kein machtpolitisches Kalkül unterstellt“ (46) wird. Um Rechtsmobilisierung für politische Zwecke geht es auch im Aufsatz von Gesine Fuchs: Sie untersucht „Strategische Prozessführung als Partizipationskanal“ (51) Der Ansatz ist also umfassender als die Massenverfassungsbeschwerde. Es geht darum, Rechtsschutz und strategische Prozessführung zum Agenda-Setting und zum Kippen umstrittener Normen zu nutzen. „Dadurch lässt sich dann idealerweise politischer Druck für sozialen oder gesetzgeberischen Wandel erzeugen“ (51). Die Autorin nennt in diesem Zusammenhang die „Gleichstellung von Frau und Mann im Erwerbsleben“ (59), das Antidiskriminierungsrecht insgesamt, das Thema Transsexualität und das weite Feld von Natur- und Umweltschutz. Sie sieht Erfolgsaussichten vor allem, wenn prägnante Einzelfälle musterhaft dazu führen, über die Klage von kleinen Minderheiten oder Einzelpersonen politische Outcomes zu erzielen, die politische Paradigmen verändern. Meist wird strategische Prozessführung von Organisationen und politisch engagierten AnwältInnen unterstützt, die auf Lücken im Gesetz, bisher ungelöste Probleme grundsätzlicher und grundrechtlicher Art und auf die fehlende Umsetzung verfassungs- und europarechtlicher Fragen abzielen. „Strategische Prozessführung ist nicht auf Massenmobilisierung angewiesen“ (69) und findet meist im Kontext mit Empowerment von Teilen der Zivilbevölkerung und Öffentlichkeitsmobilisierung statt. In diesem Bereich sind noch große Forschungsdesiderate festzustellen. Der Aufsatz von Daniel Baron untersucht „Politische Partizipation durch Losentscheid“, ein aus historischer Sicht konventionelles Verfahren. Solche „aleatorischen Rekrutierungsverfahren“ (75) – gewissermaßen „politische Lotterien mit dem Ziel, eine möglichst große Anzahl an BürgerInnen an politischen Beratungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen“ (75) – ersetzen die demokratische Wahl durch den Zufall. Was auf den ersten Blick völlig außergewöhnlich erscheint, ist auch in der Moderne durchaus erprobt, etwa bei aleatorischen Rekrutierungsverfahren für „Planungszellen, Bürgerhaushalte, Deliberative Opinion Polls“ (82). Völlig neu ist dagegen die Idee eines „European House of Lots“ (88), eines Lossystems für eine zweite europäische Kammer mit Gesetzes-, Initiativ- und Vetorecht. Themenblock 2: Konventionen politisieren Zu den klassischen unkonventionellen Formen der politischen Partizipation gehören LeserInnenbriefe. Untersucht wird ihre Funktion unter dem Untertitel „BürgerInnen melden sich zu Wort“ (105 ff.) von Dorothée de Nève. Sie kommt zum Ergebnis, dass LeserInnenbriefe „ein unaufwändiges und vergleichsweise kostengünstiges Partizipationsinstrument“ (110) sind, dass sie zum „Agenda-Setting“ (110) und zu Meinungsbildungsprozessen beitragen können. Während die LeserInnenbriefe für die Redaktionen lange Zeit eher die Funktion von Lückenfüllern und der Stärkung der Blattlinie hatten, gelten sie heute viel eher als viel beachtetes Instrument, um Interessen zu artikulieren, das Verhalten von Behörden zu kritisieren, politische Institutionen zu kontrollieren und BürgerInnenthemen öffentlich zu kommunizieren. „Interessant sind in diesem Kontext nicht nur neue Themenangebote, die möglicherweise in der medialen Öffentlichkeit ansonsten wenig Beachtung finden, sondern auch neue Interpretationsangebote, wenn beispielweise bestimmte Sachverhalte in einen individuellen, neuen thematischen Zusammenhang gestellt werden“ (109). Allerdings bleibt für BürgerInnen das Problem der Gatekeeper. „Zahlreiche Einmischungsversuche der BürgerInnen bleiben erfolglos, weil sich die Redaktionen entscheiden, die Briefe nicht oder nur in gekürzter bzw. veränderter Form zu publizieren.“ (124) Der LeserInnenbrief in seiner Partizipationswirkung ist also direkt, praktisch einsetzbar und unaufwändig, seine Erfolgsaussichten sind zwar begrenzt. Positiv ist aber die „weitverbreitete Nutzung dieses Instrumentes“ (124). Predigten als Form der politischen Partizipation“ werden ebenfalls von Dorothée de Nève unter dem Titel „Anfangen aufzuhören“ unter die Lupe genommen. Sie spielten bisher als Quelle der Partizipationsforschung keine nennenswerte Rolle. Zentrales Thema dieses unkonventionellen Ansatzes sind Predigten zu Fukushima und zum Tsunami vom 11. März 2011. Insgesamt werden 19 Predigten analysiert, die im März und April 2011 in christlichen Kirchen in Deutschland gehalten wurden. Das Verhältnis zwischen Politik und Religion geht von einer „Interdependenz von Religion und politischer Partizipation“ (149) aus. Allerdings gilt der Adressatenkreis als begrenzt: „Die Predigten erreichen nur einen ausgewählten Kreis der GottesdienstbesucherInnen und durch die mediale Weitervermittlung dann zusätzlich einen etwas erweiterten Kreis anderer Interessierter“. (170) Diese aber haben die Chance zur Selbstverständigung, zur Identitätsstiftung, zur Willensbildung. „Denn Predigten erheben den Anspruch, die Willensbildung einer spezifischen, d.h. wertorientierten und religiösen Perspektive zu betreiben“ (171), wie de Nève schreibt. Die exklusiven Tendenzen sind dabei aber auch nicht zu vernachlässigen. Zwischenfazit ist, dass es „neue Aufgaben für die künftige Forschung“ (171) gibt, die die Politikwissenschaft vor beachtliche Herausforderungen stellt. „Graffiti – Schmiererei oder politische Partizipation?“ lautet das Thema für Tina Olteanu. Ergänzt wird dieser Aufsatz durch „visuelle Interventionen“ von tatsächlichen Graffiti. Mit der dokumentarischen Bildanalyse wird die Funktion der Graffiti untersucht, die keineswegs nur ein kulturwissenschaftliches Phänomen, sondern auch politisch-gesellschaftlich relevant sind. Die politikwissenschaftliche Analyse wird ergänzt durch Interviews mit drei AktivistInnen aus Deutschland und Österreich. Eine entscheidende Rolle spielt „die visuelle Präsenz im öffentlichen Raum“ (180), meist dort, wo dies offiziell nicht erwünscht ist. „Die Il-/Legalität ist damit auch Teil der transportierten Botschaft“. (180) Das Fazit der Autorin: Der Kreis der Graffiti-Produzenten ist klein, der Kreis der Rezipienten dagegen unbegrenzt. „Dadurch wird auch eine Öffentlichkeit für randständige Themen hergestellt“. (199) Partizipationstechnisch gibt es Verbindungen zu anderen Beteiligungsformen. „Durch Tendenzen der Kooptation von Graffiti durch etablierte politische Akteure wie Parteien und Werbeindustrie verlieren Graffiti ihren subversiven Charakter und stehen an der Schwelle zur Konvention. (199) Themenblock 3: Konventionen erfinden Die Beiträge im dritten Themenblock richten sich insbesondere auf das innovative Potenzial unkonventioneller Partizipationsformen. Sara Göttmann untersucht, ob die mittlerweile so verbreiteten Flashmobs noch unkonventionell sind oder ob die Schwelle zum Konventionellen bereits überschritten ist: „Und alle so: ‚Yeaahh’ – Flashmobs als Form politischer Partizipation“. (231ff.) Vom „Yeaahh-Flashmob am Hamburger Gänsemarkt über die offizielle Campact-Kampagne gegen die Kopfpauschale bis hin zum „Bud-Spencer-Tunnel“-Online-Flashmob reichen die untersuchten Flashmob-Formen. Sie werden als zeitgeist-geprägte „Bereicherung des Spektrums von Partizipationsmöglichkeiten“ (250) gesehen, die flexibles „Selbst-Handeln“ (251) ermöglichen. Pauschale Urteile sind nicht möglich. Vom Spaß-Flashmob über den politischen Protest bis hin zum konkreten gesellschaftlichen Handeln gibt es viele Variationen dieses unkonventionellen Mittels, Öffentlichkeit herzustellen. „Kopiert, kommerzialisiert, kooptiert: Die Aneignung von Partizipationsformen jenseits der konventionen durch Wirtschaftsakteure“ lautet der Titel eines Beitrags von Eva Maria Hinterhuber und Simon Möller. Werbung spielt im Sinne des Guerilla Marketing „mit Motiven, die sie zivilgesellschaftlichen Kontexten entleiht“. (205) Das kann für beide Seiten problematisch werden. Wenn aus politischem Protest ein harmloser modischer Catwalk wird, ein Laufsteg der Eitelkeiten für unangepasste Diesel-Jeans-Trägerinnen, ist dies auch eine Auseinandersetzung um Deutungshoheit zwischen Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Das führt zu Spannungen, weil es eine „Auseinandersetzung um Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ (207) und um Moral zwischen unangepassten zivilgesellschaftlichen Kapitalismuskritikern und kommerzbestimmten Wirtschaftakteuren ist. Als weiteres Beispiel wird eine Kampagne des Stromkonzerns Entega genannt, der im Sinne des Guerilla-Marketings unter Nutzung sozialer Netzwerke eine Schneemann-Demo gegen Klimawandel initiiert hatte, dabei aber rein geschäftliche Interessen zur Neuerschließung des Berliner Markts im Sinn hatte. Dieses Beispiel zeigt auch die Gefahren, die die Usurpation von unkonventionellen zivilgesellschaftlichen protestformen für wirtschaftliche Zwecke hat. Der „wirtschaftliche Nutzen geht hier auf Kosten zivilgesellschaftlicher Akteure und deren politischem Anliegen“ (215), was schließlich zu heftigen Gegenprotesten führt. Die Aktion wird so zum Rohrkrepierer. Andererseits entwertet die kommerzielle Imitation unkonventioneller zivilgesellschaftlicher Partizipationsformen unter Umständen die unverfassten politische Aktionsformen. Unter dem Titel „Occupy Wall Street – Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf demokratische Repräsentation und politische Partizipation“ beschäftigt sich Stefanie Wöhl mit neuen Protestformen, die „Ausdruck einer zukünftigen Lebensweise“ (262) werden könnten. Es geht dabei um Agenda-Setting gegen die Finanzwirtschaft, um Mobilisierung und um mehr politische und soziale Teilhabe der Zivilgesellschaft. Das Fazit von Wöhl: „Als unkonventionelle Formen politischer Partizipation haben diese sozialen Bewegungen die öffentliche Aufmerksamkeit eine Zeitlang medial auf Probleme sozialer Ungleichheit, politische und soziale Ausgrenzung und mangelnde politische Steuerung der Finanzmärkte gelenkt.“ (274) Die Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit ist also offensichtlich gelungen. Das gilt nicht für die Realisierung der politischen Forderungen. Fazit Ein unkonventionelles Wissenschaftsbuch zu unkonventionellen Partizipationsformen mit erfrischend neuen Ansätzen und Sichtweisen. Größter Nachteil: Es ist ein Work-in-Progress-Buch, das angesichts der rasanten Entwicklungen auf diesem Gebiet nur eine Momentaufnahme sein kann. Ungeachtet dessen ist die Lektüre anregend und erhellend. Denn es zeigt auf, dass es tatsächlich erhebliche Potenziale unkonventioneller Partizipationsformen gibt – was nicht zuletzt daran ablesbar ist, dass sich sogar die Wirtschaft diese Formen durch Kopie und Umformung zu Eigen macht. Armin König   Selbst denken in Zeiten des großen Brodelns In Krise, Literaturüberblick, Partizipation, Politikwissenschaft, Sachbuch on September 27, 2014 at 10:31 pm Ein Literaturüberblick Das große Brodeln „It’s the end oft he world as we know it and I feel fine“ (REM) Nichts ist mehr, wie es war, wir leben in turbulenten, unsicheren Zeiten und erleben gerade das „Ende der Welt, wie wir sie kannten“ (Leggewie/Welzer). Müssen wir uns fürchten? Die Popgruppe R.E.M. gibt das Motto vor: „It‘s the end of the world as we know it and I feel fine,“ sangen die US-Rocker schon 1987, und seither ist die Welt zwar nicht untergegangen, aber sie hat sich tatsächlich dramatisch verändert: Erst das Ende das Sozialismus, dann der Fall der Mauer, das Ende der DDR, die Globalisierung, die radikale Ökonomisierung der Welt, der 9. September 2001, die Weltwirtschafts- und Finanzkrise, Klimawandel, Fukushima, auf nationaler Ebene schließlich Stuttgart 21, Energiewende, Bankenkrise, Schuldenbremse … – und kein Ende der Turbulenzen in Sicht. „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, und ich fühle mich gut“, singt R.E.M. – eine bemerkenswerte Einstellung. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass Krisen auch Chancen sind. Krisen bieten Gelegenheiten, alte, festgefügte Ordnungen aufzubrechen und Neues zu wagen. Außerdem ändern sich Machtverhältnisse. Für Bürger, die es leid sind, nur Zuschauer in einem Spiel zu sein, das ihnen nicht gefällt, ist dies eine Gelegenheit, endlich richtig mitzumischen. Ob das nicht übertrieben ist? Schließlich ist ein Dorf nicht die Welt (Dürrenmatt) und Gresaubach nicht Griechenland. Andererseits: Nie hatten deutsche Kommunen so hohe Liquiditätskredite wie in diesen Tagen. Rund 44 Milliarden Euro an Kassenkrediten haben die Städte und Gemeinden in Deutschland angehäuft (Bertelsmann Finanzreport 2013). Ob die kommunalen Milliardenkredite je zurückgezahlt werden, steht in den Sternen. Dramatisch ist die Lage im Saarland, kaum besser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, wo sich Kommunen ebenfalls gigantisch (und meist ohne eigenes Verschulden) verschuldet haben. Und auch Hessen zieht nach. Auch dort finanzieren Kommunen immer mehr laufende Ausgaben durch Liquiditäts- oder Kassenkredite. Das sind die Dispo-Kredite der Städte und Gemeinden. Schuldzuweisungen von Bundes- und Landespolitikern sind scheinheilig: Bund und Länder haben den Kommunen Last aufgebürdet, unter denen diese schier erdrückt werden. Trotzdem führt kein Weg an einer Rückführung dieser Schulden vorbei. Die Folge sind Haushaltssicherungskonzepte, massive Einschnitte in kommunale Leistungen und eine Existenzgefährdung der kommunalen Selbstverwaltung. „Kassenkredite gelten als Kern der kommunalen Finanzkrise, weil sie ausschließlich der Liquiditätssicherung dienen. Sie wurden zum Symbol der zunehmenden Handlungsunfähigkeit der Städte und Gemeinden, da mit steigenden Kassenkrediten auch der Raum für Investitionskredite und damit Bau und Instandhaltung von Straßen, Schulgebäuden und sonstiger städtischer Infrastruktur enger wird.“ (Bertelsmann 2013b) Damit nicht genug: Überlagert werden diese Finanzprobleme vom demographischen Wandel, der regional sehr unterschiedlich verläuft. Schrumpfung, Alterung, Leerstände sind vor allem in Ostdeutschland Alltag, doch inzwischen hat es auch die Hälfte der westlichen Bundesländer erwischt. Während die Negativ-Effekte des demografischen Wandels im auch finanziell schwer gebeutelten Saarland flächendeckend auftreten, sind es in Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vor allem die dünner besiedelten ländlichen Gebiete. Auch Städte in den alten Montan- und Industrieregionen schwächeln oder zeigen unverkennbar Symptome eines beschleunigten Niedergangs. Die Ergebnisse des Zensus haben viele Stadt-Verantwortliche schockiert: Ihnen sind tausende Einwohner über Nacht abhanden gekommen. Auch die, die bisher den Kopf in den Sand gesteckt haben, sind nun in der Wirklichkeit angekommen: Weniger Einwohner heißt weniger Kaufkraft, schwächere Infrastrukturauslastung, Leerstände, steigende Entsorgungsgebühren, höhere Kosten, niedrigere Schlüsselzuweisungen und oft auch höhere Verschuldung. Zwar versuchen viele Kommmunen, mit Einsprüchen und Klagen gegen den Zensus zu den alten Berechnungszahlen zurück zu kommen, doch das wird kaum gelingen. Und selbst wenn es gelänge: Das Rad der Entwicklung drehen sie auch mit Klagen nicht zurück. All die „Urbaniker“, die erwartet haben, dass es die Einwohner nun in die Städte zieht, werden auch enttäuscht. Der große Sog ist ausgeblieben. Oft kommen die sozial Schwachen, die Migranten, die Hartz-IV-Empfänger. Das erhöht die Sozialkosten, die dann von den Umland-Gemeinden über die Kreisumlage finanziert werden müssen und dann auch einst gesunde Kommunen in den Ruin treiben. Die Berechnungsgrundlagen der Umlagesysteme sind aus den Fugen geraten und müssten endlich beklagt werden, damit sie gerichtlich revidiert werden. Derweil bleibt der schrumpfende Mittelstand notgedrungen im Eigenheim im suburbanen oder ländlichen Raum. Denn weil dort die Eigentumswerte durch die vielen Leerstände sinken – eine typische Angebots-Nachfrage-Relations-Reaktion –, und in den Städten die Mieten und die Kosten für Eigentumswohnungen steigen, ist der prophezeite Umzugsboom vom Land in die Stadt ausgeblieben. Theorie und Praxis klaffen auseinander, Planungen sind nur begrenzt belastbar. Gleichzeitig stellen die Bürgerinnen und Bürger immer höhere Ansprüche. Anke Oxenfarth formuliert es so: „Kein Zweifel, es brodelt geräuschvoll. Nicht nur in den USA, Spanien und Israel, auch hierzulande erhebt sich Volkes Stimme lauter und öfter als in den Jahren zuvor. Nach Fukushima demonstrierten Zehntausende on- und offline für den Atomausstieg, die Hamburger Schulreform scheiterte am erbitterten Widerstand gut situierter Eltern und der Generationen übergreifende Protest gegen Stuttgart 21 hält trotz Schlichtung weiter an. Initiativen wie „Occupy Wall Street“ stoßen auf Sympathien und finden schnell Nachahmer in anderen Ländern.“ (Oxenfarth 2011: 7) Vorbei die Zeit, als man sich auf alte Rezepte verlassen konnte, auf die Profis in Politik und Institutionen, auf Experten und Investoren. Vorbei die Zeit, als Wachstum garantiert war. Vorbei die Zeit, als es immer nur aufwärts ging. Die Ressourcen sind endlich, der demographische Wandel führt gerade bei uns zu Schrumpfung und Alterung, zu Krisen und Problemen. Kein Wunder, dass sich die Bürgerinnen und Bürger empören. Autoren wie der kürzlich gestorbene Philosoph Stéphane Hessel haben dieses „Empört euch!“ (Hessel 2011) ja auch weltweit gepredigt. Und die Bürger in der Twitter- und Netzwerkgesellschaft (Manuel Castells) haben dieses „Empört euch!“ gierig aufgesogen. „Wirklich verwunderlich ist der Unmut der Bürger(innen) nicht, kracht es doch seit geraumer Zeit ordentlich im gesellschaftlichen Gebälk.“ Schreibt Anke Oxenfarth (2011: 7). Und fügt treffend hinzu: „Auffallend ist eher die neue Kreativität und Entschiedenheit der Proteste. Die Protestierenden sind es leid, dass die Politik mehr Rücksicht auf Lobbyinteressen nimmt als auf die legitimen Bedürfnisse des Volkes. Angesichts der sich verschärfenden ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisen und der damit einhergehenden Ungerechtigkeiten scheint eine Toleranzgrenze erreicht zu sein. Viele Menschen in den alten Demokratien möchten mehr tun, als nur alle paar Jahre bei Wahlen ihre Kreuzchen zu machen. Insbesondere bei weitreichenden Planungen und Entscheidungen vor ihrer Haustür wollen sie stärker mitreden und mitgestalten.“ (Oxenfarth 2011: 7) Das ist auch sinnvoll und notwendig. Um es mit Claus Leggewie und Harald Welzer zu formulieren: „Eine Gesellschaft, die die Krise verstehen und meistern will, kann sich nicht mehr auf Ingenieurskunst, Unternehmergeist und Berufspolitik verlassen (die alle gebracht werden), sie muss – das ist die zentrale These […] – selbst eine politische werden. Eine Bürgergesellschaft im empathischen Sinn, deren Mitglieder sich als verantwortliche Teile eines Gemeinwesens verstehen, das ohne ihren aktiven Beitrag nicht überleben kann. Auch wenn diese Zumutung so gar nicht in die Zeit hineinzupassen scheint: Die Metakrise, mit der wir zu kämpfen haben, fordert mehr, nicht weniger Demokratie, individuelle Verantwortungsbereitschaft und kollektives Engagement“. (Leggewie/Welzer 2009: 13-14). Und damit sind wir mittendrin im Thema: Die Stichworte lauten Bürgergesellschaft, Verantwortungsbereitschaft, kollektives Engagement, Kreativität, mitreden, mitgestalten, entscheiden. „Selbst denken“ empfiehlt Harald Welzer (2013). Im Klappentext udn in den Handlungsanweisungen dazu heißt es lapidar: „1. Alles könnte anders sein. 2. Es hängt ausschließlich von Ihnen ab, ob sich etwas verändert.“ Es geht also keineswegs nur um Zeiten des Zorns und des Unmuts, um Protest und Widerstand. Es geht darum, Demokratie weiter zu denken“, um es mit den Worten von Paul Stefan Roß zu sagen, einem der profiliertesten Kenner der Bürgergesellschaft. Und dabei geht es ganz wesentlich um die Kommunen, um die den Bürgern am nächsten ist, wo der Ärger sich Bahn bricht, wo die Probleme kulminieren. Andere Ebenen entscheiden, die Kommunen haben am Ende das Desaster falsche Entscheidungen auszubaden. Natürlich ist der Widerstand von Einwohnerinnen und Einwohnern nicht zu verachten. Nach Zeiten der Couch-Potatoes, der Resignation, der Selbstbezogenheit gibt es wieder „Spaß am Widerstand“ (Leggewie/Welzer 186). Indem sie sich nicht mehr als Masse Mensch von Profipolitikern und Verwaltungen behandeln lassen, werden aus diesen Menschen aktive Bürgerinnen und Bürger. Und dort müssen wir wieder ansetzen, am alten Bürger-Ideal, das schon die Aufklärer um Immanuel Kant vertreten haben. Oder modern gesagt: „Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus gleichberechtigten Mitgliedern bestehen, die das Gemeinwesen unabhängig von Geschlecht, Glaube, Herkunft und Einkommen gestalten können. Der Idee nach sind Demokratien aktive Systeme, die vom Interesse, der Achtsamkeit und dem Engagement ihrer Mitglieder getragen werden.“ (Leggewie/Welzer 192) Genau dort wollen wir ansetzen. Es geht um „Bürgerbeteiligung 3.0“ (2011), um Partizipation als „Prinzip der Politik“ (Gerhardt 2007). Bürgerbeteiligung ist nicht lästig, auch wenn viele Politiker und Verwaltungen dies noch so sehen, sondern lebensnotwendig für unsere Demokratie. Bürgergesellschaft hat Zukunft, auch und gerade in Zeiten des Zorns, der Krise und des Umbruchs. Und diese Zukunft der kooperativen Demokratie in der Bürgergesellschaft, der Bürgergemeinde, der Bürgerstadt hat gerade erst begonnen. „Die Potenziale der Bürgergesellschaft sind noch längst nicht entwickelt“. (v.d.Leyen 2008:10) Es sind ungeheure Ressourcen, die unter der Oberfläche schlummern. Man kann sie zum Teil aktivieren, aber nur dann, wenn man der Versuchung widersteht, sie zu instrumentalisieren, das ist mittlerweile nachgewiesen. Die Zahlen sind beachtlich, wie der Freiwilligensurvey belegt. „23,4 Millionen Menschen engagieren sich in unserem Land freiwillig in unterschiedlichsten Organisationsformen und Bereichen. Die Vielzahl der Engagierten und die Vielfalt der Formen veranschaulichen die Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements und seiner Förderung, aber auch die Größe der Aufgabe. Ob es um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, den demografischen Wandel, die Reform des Sozialstaates oder die Mitgestaltung in unserer Demokratie geht: Überall eröffnet bürgerschaftliches Engagement neue Denk- und Handlungsperspektiven.“ (v.d.Leyen, 10). Literatur Bertelsmann Stiftung (2013): Kommunaler Finanzreport 2013. Einnahmen, Ausgaben und Verschuldung im Ländervergleich. Gütersloh: Bertelsmann. Bertelsmann Stiftung (2013b): Die Finanzkrise spitzt sich zu. Kommunaler Finanzreport der Bertelsmann Stiftung: Große strukturelle Unterschiede zwischen den Bundesländern. http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-384B3FC7-E7446EEB/bst/hs.xsl/nachrichten_117698.htm Dettling, Daniel (Hg.) (2008): Die Zukunft der Bürgergesellschaft. Herausforderungen und Perspektiven für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ; Festschrift für Warnfried Dettling. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Castells, Manuel (2003): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Stuttgart: UTB. Gerhardt, Volker (2007): Partizipation. Das Prinzip der Politik. München: Beck. Hessel, Stéphane (2011): Empört euch! Berlin: Ullstein. Hessel, Stéphane / Vanderpooten, Gilles (2011): Engagiert euch! Berlin: Ullstein. König, Armin (2011): Bürger und Demographie. Üartizipative Entwicklungsplanung für Gemeinden im demographischen Wandel ; Potenziale lokaler Governancestrategien in komplexen kommunalen Veränderungsprozessen. Merzig: Gollenstein. Leggewie, Claus / Welzer, Harald (2010): Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt/Main: Fischer. Leyen, Ursula von der (2008): Grußwort der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. In: Dettling, Daniel (Hg.): Die Zukunft der Bürgergesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 8-16. Oekom e.V. (Hg.)(2011): Bürgerbeteiligung 3.0. Zwischen Volksbegehren und Occupy-Bewegung. München: Oekom. Oxenfarth, Anke (2005): Werte schöpfen. Ideen für nachhaltiges Konsumieren und Produzieren. München: Oekom. Oxenfarth, Anke (2011): Editorial. In: Oekom e.V. (Hg.)(2011): Bürgerbeteiligung 3.0. Zwischen Volksbegehren und Occupy-Bewegung. München: Oekom. S. 7. Rosenbladt, Bernhard von (2009): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Freiwilligensurvey 1999. Gesamtbericht. Wiesbaden: VS-Verlag. Soeffner, Hans-Georg (Hg.) (2010): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Wiesbaden: VS-Verlag. Welzer, Harald (2013). Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt/M.: S. Fischer.   Tumult am Sonnenhang von Armin König Wie sich Ereignisse wiederholen, obwohl es doch heißt, Geschichte wiederhole sich nicht! Hier meine ich den Ungarn-Aufstand und die Ost-Ukraine. Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Ich habe heute in Enzensbergers Buch „Tumult“ gelesen und bin darin auf den Namen eines DDR-Schriftstellerfunktionärs gestoßen, der sich 1986 umgebracht hat; den Namen „Hans Koch“ habe ich gegoogelt und bin bei einem Buch von Udo Scheer über Reiner Kunze gelandet. Scheer war Gründungsmitglied des oppositionellen Arbeitskreises Literatur und Lyrik Jena, der in den 1970er Jahren in Jena eines der wichtigsten Zentren der Jugendkultur war und im Sommer 1975, mehr als ein Jahr vor der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, verboten wurde. Er schreibt sehr offen über die rücksichtslose Unterdrückung mutiger Schriftsteller durch den Schriftstellerverband und durch Funktionäre wie Hans Koch. Bei Udo Scheer lesen wir, dass Reiner Kunze zunächst ein systemkonformer, ehrgeiziger Dozent der Journalistenhochschule Leipzig gewesen sei (Helga Novak nannte ihn einen stalinistischen Einpeitscher), dann aber immer häufiger in Widerspruch zur offiziellen Linie geraten sei. Das hatte Folgen. Scheer schreibt: „In die erste schwere Auseinandersetzung innerhalb der Fakultät gerät Reiner Kunze 1956. Er kennt zum Aufstand in Ungarn die Argumentation aus dem Neuen Deutschland und aus Parteigruppenversammlungen. Die ganze Schuld läge bei westlichen und ungarischen reaktionären Kräften“. Es ist genau die russische Argumentation, die wir heute mit Blick auf den Maidan in Kiew hören, und es sind die Putin-Versteher, die Argumente nachbeten, die es schon nach dem Ungarn-Aufstand 1956 im Stalinismus gegeben hat. Scheer schreibt weiter über Kunzes Probleme mit der offiziellen Lesart: „Der Hochverräter Imre Nagy und die Petöfi-Renegaten hätten versucht, die volksdemokratische Ordnung zu stürzen und eine Restauration des Kapitalismus herbeizuführen. Damit hätten sie den Weltfrieden gefährdet. Durch die brüderliche Hilfe sowjetischer Truppen und durch die revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung unter Janos Kádár sei Ungarn gerettet worden.“ Man erstarrt, wenn man die alten Indoktrinationen mit den aktuellen russischen vergleicht, wo die nützliche Separatisten das Spiel des Kreml spielen. Geschichte wiederholt sich nicht? Vielleicht. Manchmal doch. Literaturhinweise: Hans Magnus Enzensberger: Tumult. Udo Scheer: Reiner Kunze. Dichter sein: Eine deutsch-deutsche Freiheit Reiner Kunze: Am Sonnenhang.   Kulturinfarkt-Geschwurbel Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel, Stephan Opitz: Der Kulturinfarkt: Von Allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention. Albrecht Knaus Verlag. 288 Seiten. ISBN-13: 978-3813504859. Anfangs habe ich mich noch gefreut über die kritische Herangehensweise der vier Kulturkenner, doch spätestens bei ihren ressentimentgeladenen Bemerkungen über Kunst und Bürgertum war Schluss. „Der Kulturinfarkt“ ist für mich ein höchst ärgerliches, konzeptloses Buch voller Redundanzen, das zehn Jahre zu spät marktwirtschaftlichere Strukturen in der Kultur fordert. Wohin die Bertelsmannisierung der Öffentlichen Hand führt, wissen wir inzwischen. Der Markt macht halt doch nicht alles besser. Und eine unsichtbare lenkende Hand des Marktes gibt es schon gar nicht. Alles, was zählt, ist Profit, sonst nichts. Das wäre ein sehr einseitiges und allzu billiges Kulturverständnis. Aber es wäre immerhin eine Meinung. Die ist nicht nur erlaubt, sogar erwünscht. Nur: In einem 30-Seiten-Traktat zu 2,50 Euro hätte man die ganze Polemik viel knackiger, schlüssiger und aufreizender formulieren können. Sie wäre dann zwar nicht richtiger, aber immerhin zielsicherer geworden: Als eine böse, schmerzende Attacke auf einen vielfach lahmenden Kulturbetrieb. Stattdessen ist ein verschwurbelter, überflüssiger und zu teurer Langweiler auf den Markt gekommen. Thema verfehlt, Chance verschenkt. Schade. AK Wider die Egologie des Kapitalismus – Schirrmachers Vermächtnis Frank Schirrmacher (2013): Ego. Das Spiel des Lebens. München: Karl Blessing Verlag. Schirrmachers Vermächtnis Niemand hätte erwartet, dass „Ego“ Frank Schirrmachers Vermächtnis sei. Dass er im Alter von 54 Jahren aus dem Leben gerissen wurde, hat Freunde, Bewunderer und Gegner völlig überrascht. Mit seinem Tod hat niemand gerechnet. Für Alter Ego Schirrmacher war das „Spiel des Lebens“ viel zu kurz. Schirrmacher, dieser brillante Schreiber, dieser weitsichtige Intellektuelle mit dem Gespür für Themen der Zeit, der polarisiert hat wie kein anderer Publizist unserer Zeit, hat mit „Ego“ ein Buch hinterlassen, mit dem er gegen die Diktatur des homo oeconomicus wetterte. Und er wurde ernst genommen, weil er als Herausgeber der FAZ gerade das Leitmedium des ökonomisch durchrationalisierten Menschen repräsentierte. Dass er damit vielen Kritikern des Kapitalismus aus der Seele sprach, versteht sich von selbst. Nimmt man Schirrmachers „Ego“ jetzt – nach dem plötzlichen Tod des Autors und angesichts des Kriegs in der Ukraine und des gestörten europäisch-russischen Verhältnisses, aber auch angesichts der heftigen Debatte um TTIP – erneut zur Hand, wird man an der einen oder anderen Stelle zusammenzucken. Schirrmacher legt Mechanismen offen, die auch hilfreich bei der Erklärung aktueller politischer Phänomene sind. „Wer heute über den Lebensstil und den astronomischen Zahlenwahn der Wall-Street-Physik den Kopf schüttelt, die Männlichkeitsrituale, die Brunftschreie, anhand deren man registrieren kann, dass Trader ihr ‚Killing‘ gemacht haben, wer in den später bekannt gewordenen E-Mails von Investmentbanken liest, wie man dort unter Umständen ganze Volkswirtschaften über die Klinge springen ließ, der konnte diese Verhaltensweisen für Pathologien des ‚Tiers im Manne‘ halten: So ist er der Mensch, wenn er ganz bei sich selbst ist. Das Gegenteil aber ist der Fall. Es sind exakt die Verhaltensweisen, die in den Fünfzigerjahren – vor allem unter amerikanischen Physikern, Militärs und Ökonomen – synthetisch produziert worden sind.“ (Schirrmacher 2013: 79) Erstaunlich, diese fundamentale Kultur-, Wirtschafts- und Gesellschaftskritik ausgerechnet in Büchern des einstigen Feuilletonchefs und späteren FAZ-Herausgebers zu lesen. Zahlenwahn, Männlichkeitsrituale an der Börse, Brunftschreie der Gordon Geckos, Killing Trader, Wall-Street-Physik – das klingt schon hammerhart nach Macho-Produktion und inszenierter Männlichkeit in einem eiskalten Spiel, bei dem Milliarden bewegt und vor allem Macht ausgeübt wird. Das sind Produkte einer amerikanischen „Spieltheorie“, mit der die Gegner um jeden Preis in Schach gehalten wurden. Sie spielen noch immer eine fundamentale Rolle im Krieg der Top Dogs (Urs Widmer). Urs Widmer lässt in „Top Dogs“ den Manager Urs Biehler die Philosophie der Wirtschaftskrieger erklären: „Im Krieg brauche ich andere Männer als im Frieden. Heute brauche ich Generäle, die als allererste in den Dschungel gehen. Die draufhalten können. Heute gibt es echte Tote! Sie müssen mit dem Flammenwerfer in die Konkurrenz rein und die ausräuchern. Sonst sind SIE dran. Churchill war im Frieden eine Niete. Aber im Krieg war er ein As. Heute sind wieder die Churchills gefragt.“ (Widmer 21) Natürlich kennt Schirrmacher „seinen“ Urs Widmer. Er hat dessen Bücher und Herausgeberschaften rezensiert und kommentiert. Und er hat die Gesetzmäßigkeiten des Marktes und der angewandten Spieltheorie studiert. An dieser Stelle ist er ganz nah bei Widmers Top Dogs. „Es ging im Kalten Krieg um das Leben von Menschen, aber da der Atomkrieg nie ausbrach, entwickelte sich in den egoistischen Logiken, wie Paul Edwards mit einer Fülle von Beispielen belegt, schon in den damaligen Thinktanks der gleiche Größenwahn für Zahlen und die gleiche Ungewöhnlichkeit des Verhaltens.“ (Schirrmacher, 79) Die großen Zahlen sind das Eine, das Siegen-Wollen das Zweite. Es geht aber um mehr. Schirrmacher beschreibt es an Hand der Automaten des Viktorianischen Zeitalters, die er in Beziehung zur heutigen Automatisierung setzt: „Kombinieren, entschlüsseln, enttarnen, überführen und vollständig die Perspektive des anderen durch Beobachtung einnehmen – sobald der Mensch auch nur in die Nähe digitaler Technologien kommt, will er offenbar sofort in die Köpfe der anderen Menschen eindringen, sei es durch Detektive oder Algoritmen“. Und schon sind wir bei Google und Facebook. „Bei allen Menschen entdeckt man dann Türen, die in ihr Inneres führen, oder gläserne Schädeldecken wie die Automaten des großen Spielzeugautomatenerfinders Vaucanson.“ (Schirrmacher 134) Ist das nicht der eigentliche Sinn von Google, Facebook und Co, Menschen zu entschlüsseln und in ihre Köpfe einzudringen, um sie so zu manipulieren und zu beherrschen? Jaron Lanier hat dies in seiner scharfsichtigen Analyse „Wem gehört die Zukunft?“ prägnant dargestellt. Man soll deshalb auch die Mahnungen Schirrmachers ernst nehmen, denn sie sind keineswegs abwegig: „Maschinen haben die Macht, gesellschaftliche Normen zu produzieren, ohne sie kommunizieren und ohne sie begründen zu müssen. Sie können, wie die Technikgeschichte gezeigt hat, wirksamer sein als gesetzgebende Apparate.“ (127) Das ist die Optimierung von Max Webers Bureaucratie-Modell mit Hilfe der Macht maschinell wirksamer Algoritmen. Aber selbst dieses System lässt sich noch optimieren. Dabei geht es laut Schirrmacher „nicht um Ressourcen, Bodenschätze, Produkte, sondern nur um eines: um die alchemistische Umwandlung der Seele in jeden nur wünschbaren Stoff.“ (211). Google hat dies perfektioniert, und die Menschen huldigen die Suchmaschine täglich milliardenfach. Dabei geht es „nicht mehr um die Manipulation der Dinge durch Wissenschaft, sondern um die Manipulation der Seele durch eine Art digitale Alchemie“ (Schirrmacher 211). Wer entdeckt solche Gesetzmäßigkeiten? Wie kommt er darauf? Durch Kombination? Durch Intuition? Frank Schirrmacher konnte sich auf Intuition und Kombination verlassen. Er war ein Magier, ein Alchimist, ein Druide des 21.Jahrhunderts. Und er hat Entwicklungen beschrieben, die kein Anderer so beschrieben hat. Er bietet uns aber auch den Ausweg an: „Nach Lage der Dinge kann er nur darin bestehen, die Ökonomisierung unseres Lebens von einem mittlerweile fest in die Systeme verdrahteten Mechanismus des egoistischen und unaufrichtigen Menschenbildes zu trennen.“ (286) In Deutschland wäre die Reaktion sogar „ganz einfach: nicht mitspielen. Jedenfalls nicht nach den Regeln, die Nummer 2 uns aufzwingt. Es ist eine Entscheidung, die nur der Einzelne treffen kann – und die Politik. Die Chancen in Deutschland stehen gut, weil es die Realwirtschaft ist, die immer noch der Motor seines Wohlstands ist.“ (287) Zu den von Schirrmacher vorgeschlagenen pragmatischen Schritten gehören der Aufbau europäischer Suchmaschinen ebenso wie „eine Neudefinition und Umbenennung von Datenschutz‘“. (287) Und schließlich ist es ja nicht verboten, selbst zu denken. Schirrmacher würde es gefallen, wenn wir alle zu Selbst- und Freidenkern würden. Und hier noch einmal die Politbuch-Kritik zu „Ego“: Ego – Es wächst ein neues soziales Monster heran Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Leben Auf der Grundlage einer gewagten Prämisse hat Frank Schirrmacher seinen Bestseller „Ego“ geschrieben. “Es wächst ein neues soziales Monster heran, das aus Egoismus, Misstrauen und Angst zusammengesetzt ist und gar nicht anders kann, als im anderen immer das Schlechteste zu vermuten. Und nichts, was man sagt, bedeutet noch, was es heißt.” Da hat nun einer wirklich Mut gehabt. Und zwar ein Top-Journalist aus dem Tempelbezirk des Neoliberalismus. Chapeau! dass einer der prominentesten Tempelritter aus dem Heiligen Gral des medialen Neoliberalismus die Courage und die Chuzpe hat, einen solchen Totalverriss der egoistischen neoliberalen Wirtschaft zu schreiben und damit vor allem der Managerkaste in die Suppe zu spucken, die die schwarze Milch der Egotripper seit Jahr und Tag als Wahrheitsserum schlürft. Aber es gibt auch ernsthafte Kritik an Schirrmachers Sachbuch/Erzählung/Traktat. Es ist ein grelles Buch. Frank Schirrmachers „Ego – Das Spiel des Lebens” hat heftige Reaktionen provoziert und Kritiker und Leserschaft gespalten. Das Thema trifft einen Nerv, Kapitalismuskritik verbindet sich mit dem großen Unbehagen an einer radikalen Ökonomisierung und Digitalisierung der Welt. Das Buch besteht aus zwei Teilen und handelt vordergründig von der Spieltheorie, hintergründig von der Entstehung eines Monsters, das den Menschen zu einer nicht mehr selbst handlungsfähigen fremdgesteuerten Maschine macht. Teil 1 heißt „Die Optimierung des Spiels” und beginnt mit dem für das ganze Buch wegweisenden Satz „Das Militär sucht eine Antwort auf die Frage, wie man sich egoistisch verhält”. Laut Schirrmacher haben US-Militärs und -Ökonomen unter dem Dach der „Rand Corporation” zu Beginn der Fünfzigerjahre die „Spieltheorie” entwickelt, um das Verhalten der Sowjetunion und der Kommunisten im Kalten Krieg voraussagen zu können. Und als der (kalte) Krieg zu Ende ist, zieht es die gefühlskalten Mathematiker-Spieler an die Wall Street, und dort sind sie im Kampf der Neoliberalen erst recht gut aufgehoben. Nun, im Echtzeit-Handel der Automaten, kommt ihre große Stunde. Niemand hält sie und ihre mathematisch durchgestylten Monster auf. Ihr Handeln passt zur Ideologie des Neoliberalismus, nach der Menschen im Sinne Adam Smith’s vor allem aus egoistischen Motiven handeln und sich am Eigeninteresse orientieren. Konsequenterweise folgte auf die Optimierung des Spiels die „Optimierung des Menschen” (Teil 2), nachdem Schirrmacher zuvor in 22 Schlagzeilen-Kapiteln Begriffe wie „Prophezeiung”, „Monster”, „Massaker”, „Android”, „Schizophrenie”, „Politik”, „Matrix”, Big Data und Unterwerfung eingeführt hatte. In den Gebrauchsanleitungen für das Leben haben die „Alchemisten” die „Verwandlung der Seele”, die schöpferische Zerstörung mit „Death Dating” und „Reengeneering” alternativlos vorgesehen, bevor erst das „Du” im „Massenwahn” der „Auslöschung von Zeitsequenzen” zum Opfer fällt, bis am Ende nur noch „Ego” steht. Und an der Stelle sagt Schirrmacher: Stopp. Schluss mit dem Wahnsinn. Nicht mehr mitspielen! Es ist an der Zeit. Schirrmachers Befund: Wir alle sind nur noch Marionetten von Spielern, die mit uns machen, was sie wollen. „Das Monster” Spieltheorie, für den Kalten Krieg entwickelt, hat sich in Wirtschaft und Alltag ausgebreitet. Emotionen werden ausgeblendet. Gewinnen kann nur, wer egoistisch seine Bahn zieht: An der Wall Street, in den Hedgefonds, in den Großkonzernen, bei Verträgen, im Sport, im Alltagsleben, im Beruf. In unseren Haushalten hat das emotionslose Monster „Nr. 2″, unser egoistisches Alter Ego, längst Einzug gehalten, um auch uns zu manipulieren. Mega-Ego „Nr. 2″ will angeblich „in die Köpfe der Menschen eindringen, um Waren und Politik zu verkaufen.” Dieses egoistische Wesen, das nur auf seinen Vorteil aus ist, scheint ja tatsächlich überall präsent. Der Homo oeconomicus beherrscht und manipuliert alles. Wir denken aber erleichtert: Endlich schreibt ein Kronzeuge aus dem Tempeldistrikt der kapitalistischen Weltanschauung – FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher –, was wir alle immer schon lesen wollten: dass das nicht „unser“ Wirtschaftssystem ist. Das ist nicht die Soziale Marktwirtschaft, von der die Deutschen immer schwärmten. Es ist ein anglikanisch-amerikanischer Zombie. Schirrmacher lässt daran keine Zweifel. Wo Kooperation durch blanken Egoismus verdrängt ist, wo Menschen zu Maschinen werden, Algoritmen Emotionen ersetzen, wo Wirtschaft nichts Anderes als eiskalter Krieg ist, bleibt nur noch Monster-Ökonomie. Schirrmachers Kritik am Homo Oeconomicus ist beißend, sie ist knallig vorgetragen, und sie ist im Kern richtig. Das ist das Gute an Schirrmachers Philippika gegen die Diktatur der Zahlenfetischisten und Börsenspekulanten, der Spieltheoretiker und der Wallstreet-Krieger, der Controlling-Fanatiker und Algoritmen-Tyrannei im 21. Jahrhundert. Auch als Steinbruch für Kapitalismuskritiker kann Schirrmachers “Monster-Maschinen”-Stürmerei gut genutzt werden. Das haben Christian Schlüter (FR), Andreas Zielcke (SZ) und Thomas Assheuer (ZEIT) lobend herausgestellt. Aber das Buch hat auch erhebliche Schwächen: Es ist zu lang, phasenweise unstrukturiert und oft effekthascherisch. Cornelius Tittel hat in der WELT in einem Fundamental-Verriss das Buch des FAZ-Herausgebers regelrecht auseinandergenommen. Kalt lächelnd stellt er Schirrmachers Kompetenz als Zeithistoriker in Frage, um schließlich auf die entscheidende Schwäche des Buches einzugehen: die „Verteufelung der Spieltheorie als Waffe der mad scientists im Kalten Krieg”. Recht hat Schirrmacher schon mit der Behauptung, dass die Spieltheorie vor allem die nonkooperative Verhaltensweise im Blick hat. Aber es gibt eben auch die kooperative Variante, auch wenn es dafür keinen Nobelpreis gab. Tittels kleine Sottise: „Die Vorstellung, die Spieltheorie mache aus Menschen Monster, kann sich also nur entwickeln, wo die Vernunft schläft.” Auch Schirrmachers „Referenz-Monster” John Nash und Kenneth Binmore lässt WELT-Kritiker Tittel nicht als solche gelten. Nash sei sehr krank gewesen, wie auch der oscarprämierte Film „A Beautiful Mind” erzählt habe, und Binmore setze sich für Fairness im Sinne John Rawls ein. Punkt für Tittel. Der kritisiert mit Recht Schirrmachers wenn nicht schlampiges, so doch selektives Zitieren, das auch mir unangenehm aufgefallen ist und kommt zum Schluss: „Wo man auch bohrt, es sind denkbar dünne Bretter, aus denen Schirrmacher ein windschiefes Gedankengebäude zimmert.” Ich kann trotzdem Tittels Totalverriss ganz und gar nicht teilen! Mir imponiert Schirrmachers Buch. Und das Thema ist topaktuell Fazit Schirrmacher hat eine gewagte Prämisse zur Grundlage eines provokativen Buchs gemacht. Respekt, dass einer der prominentesten Tempelritter aus dem Heiligen Gral des medialen Neoliberalismus den Mut hat, einen solchen Totalverriss der egoistischen neoliberalen Wirtschaft zu schreiben und damit vor allem der Managerkaste in die Suppe zu spucken, die die schwarze Milch der Egotripper seit Jahr und Tag täglich gierig trinkt. Dass Egoismus in vielen Lebensbereichen prägend geworden ist, dass Algoritmen Emotionen verdrängt haben, dass Menschen sich als Marionetten fühlen, all dies ist treffend beschrieben. Der Rest ist Essay und Feuilleton. Man kann ja aussteigen, wie Schirrmacher treffend schreibt. Besprochenes Buch: Frank Schirrmacher (2013): Ego. Das Spiel des Lebens. München: Karl Blessing Verlag. Ergänzende Literatur Urs Widmer: Top Dogs. Dr. Armin König   Kommunale Intelligenz Gerald Hüther – Kommunale Intelligenz. Potenzialentfaltung in Städten und Gemeinden. Edition Körber-Stiftung. 12 € Das ist mal eine Überraschung: Ein renommierter Hirnforscher fordert uns auf, den „Erfahrungsraum Kommune wiederzubeleben und radikal umzudenken.“ Das ist eine Revolution: Nicht mehr die „bedeutenden“ Bundes- und Landespolitiker werden als die wichtigen Player angesehen, sondern die Basisarbeiter(innen) in den Kommunen. Hüther plädiert für ermutigende und inspirierende Kinder- und Jugendarbeit. „Dazu brauchen Kinder und Jugendliche hinreichend offene und komplexe Freiräume zum eigenen Entdecken und Gestalten. Vor allem aber brauchen sie Menschen, die bereits über ein breites Spektrum an Erfahrungen verfügen und mit denen sie sich emotionale verbunden fühlen, die sie wertschätzen und die sie als Orientierung bietende Vorbilder für ihre eigene Weiterentwicklung akzeptieren.“ Recht hat er. Wer als Jugendlicher in den 1970er Jahren sozialisiert wurde, hat genau dies erlebt – zum Teil natürlich auch in Abgrenzung und im Kampf gegen Erwachsene, die aber ihrerseits Raum zum Kämpfen und Abarbeiten boten. Vitalität, Begeisterungsfähigkeit, Mobilisierung, Freiräume – all dies klingt natürlich ganz anders als die Formeln, die Center-Manager, Event-Manager und andere Stromlinien-Ökonomisierungs-Manager verkünden. Und es klingt anders als die Totspar-Forderungen, die von Bund und Land und von der Wirtschaft gegenüber den Kommunen erhoben werden… Kommunale Intelligenz lohnt sich. Gerald Hüther hat ein gut lesbar, wichtiges kleines Buch zu einem bedeutenden Thema geschrieben. Noch ist es ein Nischenthema. Vielleicht wird daraus ja ein neuer Trend. Armin König   Geburtenrückgang und Familienpolitik In Politikwissenschaft on März 2, 2013 at 11:44 pm Martin Bujard: Geburtenrückgang und Familienpolitik. Ein interdisziplinärer Erklärungsansatz und seine empirische Überprüfung im OECD-Länder-Vergleich 1970 – 2006. Nomos Verlagsgesellschaft(Baden-Baden) 2011. 443 Seiten. ISBN 978-3-8329-6406-1. 69,00 EUR, CH: 99,00 sFr. Reihe: Wirtschafts- und Sozialpolitik – Band 5. Der demographische Wandel rückt zunehmend in den Fokus des Forschungsinteresses und der Politik. Das Forschungsfeld ist riesig, die Forschungsdesiderate sind noch groß. Zu den spannenden Themen politischer Steuerung gehört die Frage, ob familienpolitische Maßnahmen auf mittlere oder lange Sicht Effekte auf die Geburtenrate haben. Bisher ist dies umstritten. Schlüssige Antworten auf diese Fragen sind aber wichtig und drängend, denn die OECD-Staaten geben für Familienförderung enorme Summen aus. Der Politikwissenschaftler Martin Bujard untersucht die Ursache des Geburtenrückgangs in einer sehr ambitionierten Studie. 28 Länder werden über vier Jahrzehnte und anhand von 51 Faktoren analysiert. Der Autor, der als Koordinator der Arbeitsgruppe „Fertilität und Familienpolitik“ viele Erfahrungen mit dem Forschungsfeld sammelte, nutzt dabei einen breiten interdiszipliniären Ansatz. Sein Ziel ist es, zu erklären, warum es zum „Zweiten Geburtenrückgang“ gekommen ist, wie die Unterschiede des Fertilitätsverhaltens innerhalb der OECD-Länder zu interpretieren sind und welchen Einfluss die Familienpolitik hatte und in Zukunft haben könnte. Bujard erläutert zunächst die Geburtenentwicklung in den 28 OECD-Ländern. Bei einem Blick auf Europa wird ein Nord-Süd-Gefälle mit höheren Geburtenraten im Norden und niedrigeren im Süden deutlich, wobei Frankreich mit relativ hohen Geburtenraten etwas aus diesem heuristischen Rahmen fällt. Extrem niedrig sind die Fertilitätsraten in Osteueropa, Südeuropa, Ostasien, aber auch in den deutschsprachigen Ländern, die nur knapp über der „Lowest-Low-Fertility Country“-Grenze liegen. Der empirische Befund belegt, dass „der Rückgang in den 1970er Jahren besonders stark war, er sich bis zum durchschnittlichen Tiefpunkt im Jahr 2002 … noch fortsetzte und die Geburtenraten sich seitdem minimal erholen – auf einem extrem niedrigen Niveau.“ (25) Nach umfangreichen theoretischen und empirischen Modellierungen kommt Bujard zum spannendsten Kapitel: den politikberatenden Maßnahmen. Dabei geht es vor allem um „zukünftige familienpolitische Optionen“ (65). Die sind zum Teil umwälzend. So kommt Bujard zum Schluss, dass der Familienlastenausgleich „neu justiert werden“ (393) sollte. Er schlägt weit reichende Veränderungen vor: „Ein deutlicher Ausbau des Kindergelds ist insbesondere für Mehrkindfamilien von Bedeutung, entsprechend sollte ein Erhöhung des Transfers für dritte und weitere Kinder Priorität haben.“ (393) Bujard spricht sich für einen Umbau des Ehegattensplittings, den er als „Fremdkörper einer modernen Familienpolitik“ (393) bezeichnet, zu einem Familiensplitting aus. Alternativ wäre auch ein Anstieg der Kinderfreibeträge denkbar – parallel zu einer Erhöhung des Kindergelds. Generell sei „eine noch stärkere Berücksichtigung der Erziehungsleistungen in Rente- und Pflegeversicherung aus sozial- und gesellschaftspolitischen Erwägungen sinnvoll.“ (393) Vor allem für Frauen, die nicht berufstätig sind und nicht einzahlen, könnte dies einerseits einen rentenpolitischen und finanziellen Ausgleich von Erziehungsleistungen über Transferleistungen ermöglichen und andererseits „dem Anspruch auf Offenheit gegenüber Lebensmodellen gerecht … werden“, ohne dass Fehlanreize wie das Betreuungsgeld gesetzt würden. Diskussion und Fazit Die Dissertation ist sehr fundiert. Theorie, Empirie und Politikberatung sind überzeugend miteinander verbunden. Erstmals gibt es Hinweise auf „eine mittel- bzw. langfristige Erholung der Geburtenraten“ (410), auch in Deutschland, allerdings sind diese noch spekulativ. Bujardbegründet die positiven Signale einerseits mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, andererseits mit statistischen Effekten, die allerdings nur in einem Teil der „Low-Fertility-Country“ nachweisbar sind. Zu Recht verweist er darauf, dass gerade demographische Prognosen „immense Unsicherheit“ (410) bergen. Mag die neue Bedeutung der Familienpolitik für die demographische Entwicklung auch positiv eingeschätzt werden, so bleibt „die negative Wirkungskraft von Determinanten ökonomischer Art“ (411) und soziokultureller Provenienz. Auch die Einschränkungen der familienpolitischen Entwicklungsmöglichkeiten durch die Finanz- und Schuldenkrise in Europa wird realistisch eingeschätzt. Das Buch ist sehr ambitioniert und umfangreich. Der ganzheitliche und interdisziplinäre Ansatz ist schlüssig, die Schlussfolgerungen sind sauber hergeleitet und überzeugend. Leser sollten Erfahrungen mit statistischen Methoden und Grundzügen der Wissenschaftstheorie haben. Dr. Armin König   Die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung – gibt’s die? Barbara Remmert, Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2012. 214 Seiten. ISBN 978-3-17-022012-6. 25,00 EUR. Reihe: Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs – Band 39. Haben die deutschen Kommunen im Zeitalter der Globalisierung noch eine Chance? Welche Entscheidungsspielräume bleiben den mehr als 100.000 Frauen und Männern in den Stadt- und Gemeinderäten in Deutschland, wenn immer mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagert werden, während die Folgen internationaler und nationaler Beschlüsse, Richtlinien und Gesetze lokal wirksam werden? Wie wirkt es sich auf die Motivation der Stadt- und Gemeinderäte aus, wenn die Aufgaben immer komplexer und die Finanzausstattung immer schlechter wird und die Bundesregierung nicht einmal bereit ist, dies anzuerkennen? Welche Folgen haben demografischer Wandel und Migration, Energiewende und Digitalisierung? Können Kommunen diese Herausforderungen meistern? Wie sollen sie damit umgehen, dass ihnen der Bundesumweltminister nun auch noch die Aufgabe des Radwegebaus zuschieben will, obwohl die Kommunen schon für die bisherigen Pflichtaufgaben nicht genug Geld haben? Das sind ja nicht die einzigen Probleme. Elemente der direkten Demokratie sind ausgeweitet worden. Das hat die Macht urgewählter Bürgermeister und Landräte gestärkt und Gemeinderäte geschwächt. Welche Perspektiven gibt es für zukunftsorientierte Kommunalpolitik angesichts dieser rasanten Veränderungen? Auf etwas mehr als zweihundert Seiten sind zentrale Aufgaben kommunaler Zukunftsgestaltung von namhaften Experten der Kommunalwissenschaft und der kommunalpolitischen Praxis in knapper Form dargestellt und diskutiert worden. Wer dieses Buch liest, lernt Aufgabenstruktur, Probleme und Chancen der Kommunalpolitik kennen. Er oder sie versteht, warum die kommunalen Haushaltsdefizite die Perspektiven der Kommunalpolitik massiv einschränken, warum vor allem die Länder gefragt sind, diese Finanzprobleme gemeinsam mit Städten und Gemeinden zu lösen und dass sich die Kommunalpolitik auch selbst an der Konsolidierung beteiligen muss. Wenn sie dies tut, wird Kommunalpolitik auch weiterhin Chancen haben, trotz Globalisierung, Europäisierung, trotz Demografie und Finanzkrisen. Es bleiben nach wie vor viele Handlungsmöglichkeiten, weil die Handelnden den Bürgerinnen und Bürgern nirgendwo so nah sind wie auf kommunaler Ebene. Dort geht es um Daseinsvorsorge und praktische Lebenslagen, um Problembewältigung und Quartiersgestaltung. Wer sich ehrenamtlich betätigen will, findet dafür eine Fülle guter Gründe. Wer als Bürgermeisterin oder Bürgermeister kandidieren will, erfährt, wie man in sechs Wochen den Chefsessel im Rathaus erobert und in acht Jahren wieder verlieren kann. Aufschlussreich ist Elmar Brauns Praxistest Kommunalpolitik in Verbindung mit Hans-Georg Wehlings Erkenntnis, dass gute Bürgermeister viel gestalten und Jahrzehnte Anführer und Friedensstifter sein können. Natürlich kann dieses kleine Buch nur Appetithappen liefern. Kommunalpolitik ist viel zu komplex, um all die großen Themen zur Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung in dreizehn mehr oder weniger kurzen Artikeln abzuhandeln. Aber das Buch macht Lust auf mehr. Und wer schon aktiv ist, kann viel darüber lernen, wie man als Lokalpolitiker Fehler vermeidet, um möglichst lange Freude an seinem Engagement zu behalten. Damit auch die Bürgerinnen und Bürger Freude daran haben. Dr. Armin König   Praxiswissen für Kommunalpolitiker Uwe Brandl: Praxiswissen für Kommunalpolitiker. Erfolgreich handeln als Gemeinde-, Stadt-, Kreis- und Bezirksrat. Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm (Heidelberg) 2014. 4. Auflage. 477 Seiten. ISBN 978-3-7825-0548-2. 19,95 EUR. Rezensent: Armin König   Thema und Hintergrund   Nirgendwo ist Politik den Menschen so nah wie in der Kommune. In keinem anderen politischen Feld sind so viele ehrenamtliche Akteure engagiert wie in der Kommunalpolitik. Sie bilden nicht nur die Basis der kommunalen Selbstverwaltung, sondern auch das Fundament der politischen Entscheidungsebenen in Deutschland. Durch die über 100.000 Bürgerinnen und Bürger, die eigenverantwortlich  kommunalpolitische Entscheidungen treffen, ist das demokratische System in Deutschland geerdet. Das schafft Commitment. Doch so wichtig die beruflichen und privaten Erfahrungen der lokalen Politiker sind, so wichtig sind auch kommunalpolitische Kompetenzen. Angesichts der enorm gestiegenen Komplexität der kommunalen Selbstverwaltung ist es notwendig, dass Mandatsträger mit fundiertem Fachwissen ausgestattet sind. Dieses Standardwerk liefert seit mehr als zehn Jahren dieses Fachwissen.  

Herausgeber

Dr. Uwe Brandl ist 1. Bürgermeister der Stadt Abensberg und Präsident des Bayerischen Gemeindetages. Dr. Thomas Huber ist leitender Ministerialrat in der bayerischen Staatskanzlei und Stadtrat in Rosenheim. Prof. Dr. Jürgen Walchshöfer ist 1. Bürgermeister a.D. der Stadt Dinkelsbühl.  

Entstehungshintergrund

Das „Praxiswissen“ ist 2002 zum ersten Mal erschienen. Schnell ist es zum Standardwerk geworden, obwohl es zunächst vor allem die bayerische Rechtslage darstellte. Das Buch lässt sich aber auch in allen anderen deutschen Bundesländern gut anwenden, zumal mittlerweile viele Elemente der süddeutschen Kommunalverfassungen Standard in Deutschland geworden sind.  Mit der vorliegenden vierten Auflage berücksichtigen Herausgeber und Autoren den neuesten Rechtsstand und geben aktuellen Themen (Europa und die Kommunen) und Trends (Bürgerdialog und Energiewende) den nötigen Raum.  

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in sieben Teile gegliedert. Damit sind alle relevanten Bereiche der Kommunalpolitik abgedeckt.   Teil 1 ABC der kommunalen Praxis Am Beginn dieses Standardwerks steht ein ABC der kommunalen Praxis. Dieses knackige Stichwortverzeichnis ist vor allem in der praktischen Ratsarbeit hilfreich. Wesentliche Begriffe aus der kommunalen Selbstverwaltung werden auf 48 Seiten erläutert. Das reicht von der Abfallwirtschaft über das Einfügungsgebot des Baugesetzbuches bis hin zur Zweitwohnungssteuer. Wer in einer Ratssitzung schnell nachschlagen will,  was Bedarfszuweisungen sind, wo Befreiungen nach Baugesetzbuch geregelt sind, und was es mit dem Konnexitätsprinzip auf sich hat, der wird hier schnell fündig. Teil 2 Die kommunale Selbstverwaltung In acht Kapiteln werden die wesentlichen Punkte der kommunalen Selbstverwaltung und der verfassungsmäßigen Verankerung im Grundgesetz erläutert. So erfahren die Leserinnen und Leser, was kommunale Gebietskörperschaften sind, wie kommunale Zusammenarbeit funktioniert, welche Formen der interkommunalen Kooperation es gibt, wie das Verhältnis zwischen Staat und Kommunen gesetzlich geregelt ist und welche Rolle Europa mittlerweile für die Kommunen spielt. In diesem Kontext wird erläutert, warum die Kommunen zunehmend von Europa betroffen sind, welches die Grundzüge des Europarechts sind, wie sich der EU Binnenmarkt und die Wettbewerbsregeln auf die kommunale Ebene auswirken und welche Fördermittel genutzt werden können. Schließlich werden die Aufgaben der kommunalen Spitzenverbände beschrieben. Eine Zusammenfassung erleichtert den kompakten Überblick.   Teil 3 Der kommunale Mandatsträger Dieser dritte Teil ist einer der Schwerpunkte des Buches und ist vor allem für Einsteiger ausgesprochen hilfreich. Im ersten Kapitel erfahren die Mandatsträger die wesentlichen Grundlagen zum Verhältnis zwischen Bürger und Mandatsträger, zur Durchführung von Wahlen samt Listenaufstellungen, und zur Rolle von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden. Außerdem wird beschrieben, welche sonstigen Mitwirkungsmöglichkeiten für die Einwohnerinnen und Einwohner existieren und was die Bürger von Mandatsträgern erwarten. Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Kommune wird in knapper Form erläutert. Schließlich werden in einem Exkurs die Pflichten der Bürgerinnen und Bürger beschrieben. Damit sind bereits wesentliche Grundlagen der praktischen Kommunalpolitik aufgezeigt. Kapitel zwei behandelt vor allem aus bayerischer Sicht die Stellung des Mandatsträgers. Es geht dabei um Aufgaben und Zuständigkeiten, um das Recht in Sitzungen und kommunalen Gremien, um ganz praktische Themen wie Besoldung, Entschädigung und Versorgung sowie um Haftungsfragen. Auch die steuerliche Behandlung von Aufwandsentschädigungen wird aus bayrischer Sicht dargestellt, kann jedoch zum großen Teil auf Kommunen in anderen Bundesländern übertragen werden. Im dritten Kapitel geht es um die Arbeit des Mandatsträgers in der Gemeinde. Dabei wird zunächst klargestellt dass der Gemeinderat kein Parlament ist, obwohl die Medien oft diesen (falschen) Begriff gebrauchen. Anschließend werden die Ausschussbildung in Gemeinderäten, die Rolle der politischen Parteien, die wichtige Aufgabenverteilung zwischen Gemeinderat und Bürgermeister, die immer wieder zu Konflikten führen kann, sowie der kommunale Entscheidungsprozess beschrieben. Geschäftsgang von Sitzungsunterlagen, Sitzungsverlauf, Geschäftsordnung, Abwicklung einer Tagesordnung, kommunale Entscheidungsprozesse, Rolle der Medien und vieles mehr wird hier ganz praktisch beschrieben. Fundamental ist auch der Exkurs über die Satzung als Ausdruck der Rechtssetzungshoheit der Städte und Gemeinden. Wer dies alles als Mandatsträgerin oder Mandatsträger weiß, kann bereits gut mitmischen in der kommunalen Politik. Kapitel vier befasst sich mit der Arbeit des Mandatsträgers im Landkreis.   Teil 4 Die Kommunen als eigenständige Körperschaft Dies ist der thematische Schwerpunkt des Buches, der sich mit den inhaltlichen Aspekten kommunaler Politik und Policyfragen beschäftigt. Im ersten Kapitel steht die Selbstverwaltung der Kommunen im Mittelpunkt. Es geht zunächst grundsätzlich um Umfang und Abgrenzung der kommunalen Aufgaben, um den eigenen Wirkungskreis der Städte und Gemeinden, um kommunale Pflichtaufgaben sowie freiwilliger Aufgaben und übertragenen Wirkungskreise. Schließlich werden Themen wie die Rechts- und Fachaufsicht beschrieben. Besonders gewichtet werden zentrale Themen kommunaler Arbeit. Dazu gehören Schule und Bildung, Kulturarbeit und Kulturförderung, der  Umweltschutz, Straßen und Verkehr, soziale Aufgaben, Kinder Jugend und Familie, das Gesundheitswesen, Bauen und Stadtentwicklung, Freizeit und Sport, Fremdenverkehr sowie Sicherheit und Ordnung. Zu den schwierigsten Themen überhaupt für kommunale Mandatsträger, aber auch für Medien sowie für interessierte Bürgerinnen und Bürger (und zuweilen auch für die Hauptamtlichen in den Rathäusern) gehören Finanzfragen. Deshalb ist es erfreulich, dass in Kapitel zwei in diesem vierten Teil der Finanzhoheit der Kommunen besondere Bedeutung beigemessen wird. Dass das Buch topaktuell ist, beweist bereits das erste Unterkapitel: „Die Kommunalfinanzen in Bedrängnis“ (209). Zutreffend wird kritisiert, wie die Kommunen zunehmend finanziell stranguliert werden: „Wichtiger Bestandteil des kommunalen Selbstverwaltungrechts ist die Finanzhoheit der Gemeinden, kreisfreien Städte, Landkreise und Bezirke. Sie gibt den Kommunen im Rahmen der Gesetze die Befugnis, sich die notwendigen Mittel zu beschaffen und über deren Verwendung zu entscheiden.“ (209) Der Umfang der kommunalen Haushalte dürfte inzwischen bei rund 40 Milliarden € liegen. Das ist ein enormer wirtschaftlicher und finanzieller Faktor in Deutschland. Trotz dieser enormen gesamtwirtschaftlichen Relevanz regionalwirtschaftlichen Handelns wird darauf in der Bundes- und Landesgesetzgebung kaum Rücksicht genommen. „Die Finanzhoheit der Kommunen wird jedoch in den letzten Jahren durch die Übertragung immer kostenintensiverer Leistungsgesetze, vor allem im Sozial- und Jugendhilfebereich, eingeschränkt.“ (209) Treffend wird dies erklärt, wie sich diese Lastenübertragungen auf die so genannten Kreisumlagen auswirken, die in den letzten Jahren massiv gestiegen sind und den Kommunen in Verbindung mit weiteren Umlagen einen Großteil ihrer Ausgaben rauben. Anschließend werden der Begriff der Abgaben, die Rechtsgrundlagen der Gewerbesteuer, die Bedeutung dieser wichtigen Einnahme für die Kommunen, die praktische Behandlung der Gewerbesteuer in den Unternehmen sowie die für Kommunen wichtige Frage der Zerlegung des Gewerbesteuermessbetrags erläutert. Auch Themen wie die Gewerbesteuerumlage und die Zukunft dieser kommunalen Einnahmeart werden in knapper Form beschrieben. Es folgen als weitere fundamentale Themen der kommunalen Finanzwirtschaft die Grundsteuer A und B, die Einkommensteuer sowie der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer. Auch die Hundesteuer und die Zweitwohnungssteuer werden dargestellt. Darüber hinaus erfahren die Kommunalpolitiker alles Wichtige über Beiträge (Erschließungsbeiträge, Ausbaubeiträge oder Kurbeiträge). Erläutert werden die Rechtsgrundlagen von Gebühren (z.B. Benutzungsgebühren). Und schließlich steht als wesentliche landespolitische Frage der kommunale Finanzausgleich mit seinen bayerischen Vorsitzenden im Mittelpunkt der Darlegungen. Verglichen mit dem großen und breiten Feld der Finanzwirtschaft ist die Personalhoheit der Kommune sehr überschaubar. Beschrieben werden in Kapitel drei die Personalplanung und die Personalhoheit sowie die wesentlichen Unterscheidungsmerkmal der unterschiedlichen Gruppen von Kommunalbediensteten (z.B. Beamte, Beschäftigte, geringfügig Beschäftigte, 275-280). Seit jeher gehört das Bauen in den Städten und Gemeinden zu den wichtigsten und spannendsten Themen der Kommunalpolitik, das auch die ehrenamtlichen Politiker besonders reizt. Es wird in Kapitel vier dieses vierten Teils umfassend abgehandelt. Da die Planungshoheit „zu den Kernbereichen der kommunalen Selbstverwaltung“ ( 283) gehört, bedeutet dies, dass die Mandatsträger mit ihren Entscheidungen die bauliche Entwicklung ihrer Stadt oder Gemeinde maßgeblich mitbestimmen. Dabei spielen Flächennutzung und Bebauungspläne eine ganz wesentliche Rolle. Darüber hinaus sind vor allem die Mandatsträger, aber auch die Verwaltung gefordert, wenn es um das Einvernehmen bei Einzelbauvorhaben geht. Und auch bei Freistellungen von Festsetzungen des Bebauungsplans spielt die Gemeinde eine wesentliche Rolle. Da das Praxisbuch das kaum überschaubare Feld des Baurechts nur kursorisch beschreiben kann, geben die Autoren (wie in vielen anderen Kapiteln) gute Tipps zur Vertiefung. Das betrifft vor allem die Spezialisten in den Räten, die in den Bauausschüssen aktiv sind. Nicht minder kompliziert ist das Vergaberecht, das im fünften Kapitel kursorisch abgehandelt wird. Die Mandatsträger und die interessierte Öffentlichkeit erfahren in einem knappen Überblick die wesentlichen Ziele und Grundsätze des Vergaberechts, des Vergabeverfahrens sowie die Folgen bei Verstößen, die für Kommunen sehr teuer werden können. Das kommunale Marketing rundet als Schlusskapitel den vierten Teil ab. In diesem Kapitel geht es um die Notwendigkeit von kommunalem Marketing im Wettbewerb, aber auch um Demographie und gesellschaftlichen Wandel. Wichtig ist, dass sich Kommunen in diesem schwierigen Umfeld behaupten.   Teil 5  Die kommunale Wirtschaft Für die Kommunen ist die wirtschaftliche Betätigung mittlerweile von erheblicher Bedeutung. Sie gehört aber auch zu denen umstrittensten Themen der politischen Diskussion. Hier werden vor allem ideologische Debatten geführt. „Immer dann, wenn die öffentlichen Kassen unter besonderem Sparzwang stehen, verstärkt sich die Diskussion, ob und gegebenenfalls inwieweit Aufgaben, die bisher von der öffentlichen Hand erfüllt wurden, privaten Unternehmen zur Erledigung übertragen werden können oder sollen.“ (387) Deshalb ist es wichtig, dass auch die Mandatsträger die wesentlichen Kernpunkte wirtschaftlicher Betätigung der Städte und Gemeinden kennen. So beschreibt das erste Kapitel zunächst die kommunale und private Aufgabenerledigungen und deren Rahmenbedingungen. Fundamentale Fragen wie die Daseinsvorsorge, die Subsidiaritätsklausel und die Diskussion, ob Private günstiger wirtschaften als Kommunen runden das Kapitel ab. In den weiteren Kapiteln dieses fünften Teils geht es um Zulässigkeitsvoraussetzungen für die wirtschaftliche Betätigung der Kommunen, um einzelne Formen wie Regiebetrieb, Eigenbetrieb und Kommunalunternehmen sowie um kommunale Unternehmen in Privatrechtsform. Erörtert werden außerdem Steuerrecht, Personalwesen, Vergabewesen sowie die Vor- und Nachteile des Kommunalunternehmens gegenüber dem Eigenbetrieb.   Teil 6 Reformbestrebungen In zwei Kapiteln werden Grundzüge von Verwaltungsreformen sowie Phasen der Reformprozesse inklusive Mitarbeiterbefragung und Bürgerbefragung erörtert. So werden die Organisation des Veränderungsprozesses, die Ziele sowie die Umsetzung von Projekten beschrieben. Da Reformideen Motivation und Akzeptanz erfordern und umsetzbar sein müssen (435), spielt auch das Thema Reform-Controlling eine Rolle in diesem Kapitel.   Teil 7  Aktuelle Trends In sieben Kapiteln werden die wichtigsten kommunalpolitischen Trends des 21. Jahrhunderts beschrieben. Am Anfang steht das wohl wichtigste Thema, der demographische Wandel, der durch Schrumpfung, Alterung und Heterogenisierung gekennzeichnet ist. Zutreffend und verständlich werden die wichtigsten Charakteristika beschrieben. Die Autoren empfehlen den Kommunalpolitikern, die je eigene lokale Situation genau unter die Lupe zu nehmen. „Nicht alle Kommunen sind in gleicher Weise vom demographischen Wandel betroffen, weil die Ergebnisse des generativem Verhaltens von jeweils unterschiedlichen Wanderungsbewegungen überdeckt werden. Deshalb ist es für jede Kommune unerlässlich, die jeweiligen ortsspezifischen Verhältnisse präzise zu erfassen und zu analysieren, um daraus die Zukunftsaussichten abzuleiten.“ (441) Trotz aller regionalen Probleme durch Alterung, Schrumpfung und ausbleibendes Wachstum wird der demographische Wandel als Chance betrachtet. Ob er dies wird, liegt an den Akteuren vor Ort. Kapitel zwei befasst sich mit den Problemen des ländlichen Raums – auch im Kontrast zu Metropolregionen – und mit Möglichkeiten zur Stärkung dieses schwächelnden Raums und seiner Regionen. Interessant sind die positiven Aspekte, die die Autoren sehen. „Es spricht viel dafür, dass das „Leben auf dem Land“  gegenüber dem in der großen Stadt wieder mehr Zuspruch finden kann, weil das „Landleben“ mehr Mitwirkung des Einzelnen am öffentlichen Leben ermöglicht und Überschaubarkeit des Lebensraums sowie intakten Natur und Umwelt bietet.“ (450).  Das ist eine bemerkenswert positive Sicht der Dinge. „Der  ländliche Raum dürfte damit dem angesichts der Globalisierung stärker werdenden Wunsch nach Heimat und Identifikation eher entsprechen können als große Städte und Verdichtungsräume. (450) Extrem knapp ist leider das dritte Thema Kinder und Bildung ausgefallen. Zwar verweisen die Autoren darauf, dass „gerade wegen der demographischen Entwicklung die Familien- und Bildungspolitik in den Mittelpunkt kommunalpolitischer  Überlegungen getreten sei“ (450), doch reicht eine Seite kaum, um dies kommunalpolitisch signifikant und ausreichend zu erläutern. Es ist aber auch die einzige Schwäche dieses Buches. In den weiteren Kapiteln werden die Trendthemen Public Private Partnership, Bürgerdialog (Bürgersprechstunden Bürgerforen, Bürgerbefragungen, Digitale Plattformen, Facebook, Twitter und Co, Radio, TV und Infobroschüren), „Energiewende vor Ort“ und „Arbeit und Cluster“ dargestellt. Ein Stichwortverzeichnis schließt dieses außerordentlich nützliche Standardwerk ab.   Fazit „Praxiswissen für Kommunalpolitiker – Erfolgreich Handeln als Gemeinde-, Stadt-, Kreis- und Bezirksrat“ ist ein sehr wertvolles Arbeitsinstrument für Kommunalpolitiker. Dieses Standardwerk für politisch Aktive liefert auch Medienvertretern und der interessierten Öffentlichkeit umfassende Grundlagen kommunaler Politik, und es ist auch für professioneller Rathausmitarbeiter nützlich. Das Buch ist zwar in Bayern entstanden und ist auf das bayerische Kommunalrecht abgestimmt, es kann aber bundesweit als Referenzwerk benutzt werden. „Praxiswissen für Kommunalpolitiker“ ist uneingeschränkt empfehlenswert.  

Europa nicht ohne uns – Wie das Bürgerprojekt gelingen kann

In EuropaPolitikwissenschaft on Mai 3, 2009 at 9:10 pm

Efler, Michael / Häfner, Gerald / Huber, Roman / Vogel, Percy et al. (2009): Europa: nicht ohne uns! : Abwege und Auswege der Demokratie in der Europäischen Union. Hamburg: VSA-Verlag. € 9,80 Die Demokratisierung der EU steht im Mittelpunkt des Buches von Michael Efler, Gerald Häfner, Roman Huber und Percy Vogel vom Verein „Mehr Demokratie e.V.“. Der Verein ist dafür bekannt, dass er sich für mehr Bürger-Partizipation, die Einführung des bundesweiten Volksentscheides in Deutschland, moderne Wahlverfahren und Informationsfreiheit einsetzt. Ziel ist eine lebendige Demokratie und eine politische Kultur, die Dialog und Beteiligung der Bürger fördert. Genau dies kann „Mehr Demokratie“ bei der EU nicht erkennen. So werde die Debatte über den Lissabon-Vertrag ohne die Bürgerinnen und Bürger geführt. Klarer Kommentar dazu: „Das kann nicht gut gehen. Vielmehr ist eben diese Abschottung der Debatte gegenüber den Menschen in Europa und die einseitige Kommunikation, die mit diesen über Fernseh- und Medienansprachen geführt wird, eine sichere Voraussetzung für ihr Scheitern“. (7) Damit aber wollen sich die Autoren nicht zufrieden geben. Denn „Demokratie ist ein kostbares Gut. Generationen haben um und für sie gekämpft“. (7) Die Autoren stellen sehr fair den Weg der Europäischen Einigung bis hin zum Vertrag von Lissabon dar und beschreiben ihn als Prozess, bei dem „den Bürgern sukzessive ihre Einflussmöglichkeiten genommen“ (39) wurden. Das kann nicht befriedigen. Der Lissabon-Vertrag ist nach Ansicht der Autoren nur auf den ersten Blick demokratischer als das bisherige System mit seinen intransparenten, unverständlichen Regelungen. Es ist inzwischen herrschende Meinung, dass auch der Lissabon-Vertrag „inhaltlich schwer verständlich“ ist. Zu Recht kommentieren die Autoren: „Wir halten mangelnde Verständlichkeit für einen zulässigen Grund, gegen eine Vorlage zu stimmen, denn Allgemeinverständlichkeit ist eine wichtige Voraussetzung für die Demokratie“. (39) So sei schon „der Weg, der für die Reformierung und Ratifikation der Verträge eingeschlagen wurde, eine sukzessive Absage an die Demokratie“ (41) gewesen. Die positiven Aspekte der Reform reichten nicht aus, ein Ja der Brgerinnen und Bürger „als vernunftmäßig zwingend darzustellen“ (41) – im Gegenteil: „Im Ergebnis steht die EU nicht demokratischer, sondern weniger demokratisch da.“ (39) Die Autoren belassen es aber nicht bei Kritik. Sie machen konkrete Vorschläge, wie aus ohnmächtigen Zuschauern der EU-Politik aktiv mitwirkende Bürger werden können – im Sinne des Grundsatzes, das alles Staatsgewalt auch in Europa vom Volke ausgeht. Ein zentrales Element ist ein demokratischer Konvent für Vertragsreformen zukünftiger EU-Verträge (118-119). Dieser Konvent soll direkt gewählt werden. Außerdem soll der jeweils neue Vertragsentwurf in Referenden zu Abstimmung gestellt werden. Damit hätten die Bürger das letzte Wort. Dabei handelt es sich um „die Verlagerung der Kompetenzkompetenz von den Regierungen zu den Bürgern“ (119). Als positives Beispiel wird die Verfassungsreform des Schweizer Kantons Zürich 1999 bis 2006 angeführt. „Die Arbeit des Konvents müsste demokratisch gestaltet und sowohl für alle Mitglieder der Versammlung als auch nach außen transparent sein.“ (121) Auch in der Frage der Zuständigkeiten haben die Autoren klare Vorschläge. Sie plädieren für ein föderales System, das diesen Namen verdient: „Aus unserer Sicht wäre es wichtig und sinnvoll, eine deutliche Dezentralisierung von Zuständigkeiten vorzunehmen und die Grenzen der EU klar zu definieren. So wäre ganz im Sinne des Subsidiaritätsgedankens sichergestellt, dass Kompetenzen immer von der kleinstmöglichen Einheit wahrgenommen werden, sodass auch innerstaatliche föderale Ebenen weiter ausreichende Befugnisse hätten“. (155) Das ist vielleicht einer der wichtigsten Punkte überhaupt. Damit könnte die Identifikation mit der EU deutlich verbessert werden. Die Autoren sind sehr kreativ. So wollen sie den Bürgern das Recht geben, europäische Gesetze selbst vorzuschlagen (Initiativrecht, 156) „und sie in einem Bürgerentscheid zu beschließen (Beschlussrecht)“. Außerdem hätten die Bürger ein Vetorecht gegenüber Gesetzen des Europäischen Parlaments und der Staatenkammer (Fakultatives Referendum), „zukünftige Änderungen des EU-Grundlagenvertrags würden sogar obligatorisch zum Volksentscheid gestellt“. (156) Außerdem sollen die Richter des EuGH gewählt werden, um deren Unabhängigkeit zu stärken. Die Reformen gingen vor alle zu Lasten der Kommission. Die soll vom EP gewählt werden und vorwiegend Verwaltungsaufgaben wahrnehmen. Alle Reformen stehen unter der Prämisse einer stärkeren Partizipation der Bürger, einer besseren Gewaltenteilung. Die Vision des Buches ist das demokratische Europa. Die aktuelle Legitimationskrise der Europäischen Union zwingt dazu, die Frage nach einer demokratischen Reform Europas neu zu stellen. „Europa: nicht ohne uns!“ liefert substanzielle Beiträge für eine Demokratisierung und für eine stärkere Legitimierung des Projekts Europas, das im Sinne einer nachhaltigen europäischen Friedensordnung alternativlos ist. Das Buch ist als Diskussionsgrundlage uneingeschränkt zu empfehlen. © Armin König 2009  

Christoph Ewen et al.: Bürgerdialog bei der Infrastrukturplanung

Christoph Ewen, Oscar W. Gabriel, Jan Ziekow et al.: Bürgerdialog bei der Infrastrukturplanung. Erwartungen und Wirklichkeit : Was man aus dem Runden Tisch Pumpspeicherwerk Atdorf lernen kann. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2013. 220 Seiten. ISBN 978-3-8487-0693-8. D: 44,00 EUR, A: 45,30 EUR, CH: 62,90 sFr Armin König

Thema

Vielfach wird in politischen Diskussionen die Auffassung vertreten die Energiewende brauche Akzeptanz und dafür sei mehr Bürgerbeteiligung notwendig. Dies ist aber nach Ansicht der Autoren bisher empirisch nur unzureichend untersucht.  Die Planung für das größte Pumspeicherkraftwerk Deutschlands war Anlass, den Bürgerdialog bei der Infrastrukturplanung zu evaluieren. Untersucht wurden Erwartungen und Wirklichkeit im Rahmen der Partizipation. Knapp zusammengefasst: „Was man aus dem Runden Tisch Pumpspeicherwerk Atdorf lernen kann.“

Autoren

Christoph Ewen ist seit Sommer 2003 Inhaber von team ewen. Er ist Spezialist für Mediation, Wissenschaftskommunikation, Großgruppenmoderation und Veränderungsprozesse. Zuvor arbeitete er beim IFOK-Institut Bensheim und war unter anderem Projektleiter des Regionalen Dialogforums Flughafen Frankfurt. Oscar W. Gabriel ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft. Er lehrte von 1992 bis 2012 Politikwissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. Seit November 2012 ordentliches Mitglied des Deutschen Forschungsinstituts für Öffentliche Verwaltung (FÖV) Speyer. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Wahlforschung und politische und soziale Teilhabe. Jan Ziekow ist seit 1997 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht, an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Außerdem ist er Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung (FÖV) Speyer.  

Entstehungshintergrund

Die Planung des größten deutschen Pumpspeicherkraftwerks durch die Schluchseewerk AG im Jahr 2010/2011 war Anlass für einen Runden Tisch unter Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, um eine konfliktgeladene Entscheidung partizipativ zu begleiten und Commitment herzustellen. Die Wissenschaftler haben im Rahmen einer Evaluation untersucht, ob der Bürgerdialog erfolgreich war und inwiefern es in der Region zu Veränderung der Meinungen gekommen ist. Es geht darum, wie man konstruktiv in öffentlichen Kontroversen agiert, was informelle Bürgerbeteiligung bei der Planung von Großvorhaben wirklich leisten kann und welche Erfolgsfaktoren und Hemmnisse es gibt. Der Band leistet einen Beitrag zur Schließung einer Forschungslücke und entwickelt aus den Erkenntnissen der Evaluierung Empfehlungen für die Praxis.

 

Aufbau und Inhalt

Das Buch besteht aus sieben Kapiteln. 1. Einleitende Überlegungen Die Autoren stellen das Projekt Pumpspeicherkraftwerk Atdorf und den Runden Tisch zum Infrastrukturprojekt, der 5 Monate lang aktiv war, kurz vor. Zielsetzung des Vorhabens war es, „Zusammenhänge zwischen Prozess-Charakteristika und Prozess-Wirkungen im Bereich der Beteiligung zu entwickeln“. (18) Im „Fokus der Untersuchung“ (19), die parallel zum Runden Tisch Atdorf lief, standen „Beteiligungsprozesse um Anlagen der technischen Infrastruktur, bei denen Unternehmen oder staatliche Stellen aufgrund von tatsächlichen oder befürchteten Protesten gegen das Vorhaben Beteiligungsprozesse anbieten, u die Realisierungschancen des Vorhabens zu verbessern und um belastende Konflikte zu entschärfen / zu vermeiden.“ (22) 2. Gewählte Methodik Um den Erfolg eines Dialogs in konfliktgeneigten Situationen zu messen, müssen zunächst einige zentrale Fragestellungen geklärt werden, insbesondere, welche Ziele sich mit Dialogverfahren um große Infrastrukturvorhaben erreichen lassen und wie die Wirkung solcher Dialogverfahren möglichst objektiv beschrieben werden kann. Dazu dienen umfassende Befragungen der Bevölkerung einerseits und der Mitglieder des Runden Tisches andererseits. „Wahrend die schriftlichen Befragungen vor allem quantitativen Charakter haben, ergänzen die persönlich gestellten Fragen die schriftlichen Befragungen in dem Sinne, dass sie subjektiven Wahrnehmungen, Hintergründen und Bewertungen des Runden Tisches als Dialogforum und Konfliktregulierungsinstrument mehr Raum beimessen und insbesondere nach den zugrunde liegenden Begründungs- und Deutungsmustern fragen.“ (25) Weitere Dialogprozesse aus anderen großen Infrastrukturvorhaben wurden ergänzend mit einbezogen. 3. Dialogprozesse im Kontext Konflikte müssen immer im Kontext gesehen werden – das gilt dann auch für Dialogprozesse, die für Transparenz und Ausgleich sorgen sollen. Verkehr, Entsorgung, Energie und Hochwasserschutz gehören zu den politischen Bereichen, in denen große Vorhaben besonders häufig zu Konflikten führen. Dazu gehören Flughafenerweiterungen, Bahnhöfe und Bahnhofstrassen, Autobahnbahn, Wasserstraßen, Kraftwerksbauten, Hochspannungsleitungen, Pipeline, Windräder, Bergbau- und Abbauvorhaben, Pipelines, Polder und Deichbauten. Nicht selten werden dabei Gerechtigkeitsdebatten um die Verteilung der Lasten (30) geführt. Mit Widerstand ist vor allem dann zu rechnen, wenn die Vorhaben „größere Auswirkungen auf die lokale oder gar regionale Umwelt und das Landschaftsbild zeitigen“ (30). Die Autoren verweisen auf Studien unter Protestierenden. Danach werde sie motiviert durch „eine Mischung aus der Vertretung eigener Interessen (Beeinträchtigung der Lebensqualität, befürchtete Verluste des Immobilienwertes), aus politischen Argumenten (etwa die hohen Kosten), der nicht ausreichend belegten Notwendigkeit und Alternativlosigkeit der Planung sowie dem Umgang mit den Protestierenden.“ (31) Es geht um Interessens-, Wissen-, Wahrnehmung- und Wertkonflikte – alles kommt vor. Vor allem ethische oder Wertkonflikte sind „nur schwer verhandelbar“ (32). Immerhin kann durch Dialog versucht werden, Fundamentalpositionen aufzulösen und „Schnittmengen von Gemeinsamkeiten und verbleibenden Unterschieden“ (32) zu finden. Außerdem ist es wichtig, dass „Interventionen zur Konfliktregulierung“ (33) – und gerade hier haben Dialogprozesse nach Auffassung der Autoren eine entscheidende Funktion – „die verschiedenen Ebenen des Konfliktes bearbeiten“ (33). Dialogprozesse bei der Infrastrukturplanung haben also die Funktion, „Betroffene und Interessenvertreter zusammen[zu]bringen“ (33). Sie müssen, wenn sie erfolgreich sein sollen, durchaus unterschiedliche „Wahrnehmungen hinsichtlich einer Veränderung der Lebensqualität ernst nehmen und thematisieren“ (33), und sie müssen  natürlich „Fachfragen durch Einbezug der wissenschaftlichen Community bearbeiten“. (33). Was so trivial klingt, ist in der Praxis gar nicht so einfach, da oft Emotionen im Spiel sind und Vertrauen zum Dialog fehlt. Moderatoren solcher Dialogprozesse müssen in der Lage sein, Konflikte und auf der Metaebene die Debatten um solche Konflikte zu strukturieren „Es geht darum, die Positionen der Positionen der Konfliktparteien zu überführen in die Formulierung von Interessen, die Beschreibung von Wahrnehmungen, die Benennung von Fachfragen und die Fokussierung von Wertefragen.“ (33) Was die Konfliktregulierung bei der Infrastrukturplanung schwierig macht, ist der oft unüberschaubare Rahmen: „Es sind (nicht nur) einzelne Personen, die sich streiten, und es ist auch nicht (nur) ein Betrieb, eine Schule oder eine Kommune, innerhalb derer der Konflikt Platz greift. Der ‚Kampfschauplatz’ umfasst eine Region von einigen tausend bis maximal hunderttausend Menschen, mehrere Kommune, ggf. auch Betriebe und weitere Institutionen in der Region.“ (34) Und wenn dann noch die Kommunikation „für die Galerie“ (35) über Medien erfolgt, die Arenen und Bühnen eine wichtige Funktion haben, hilft es, muss auch Konfliktregulierung Teil-Arenen und Teil-Öffentlichkeiten (35) adressieren. Die Autoren beschreiben die Eskalationsstufe von Konflikten von der „Verhärtung im Gespräch“ (36) über „Debatten und Polemik“ (36) bis hin zu „Drohstrategien“ (36) und benennen als Randbedingungen für Dialogprozesse „Frühzeitigkeit“ der Beteiligung (43), bevor die Eckpunkte unverrückbar feststehen, „Themenfokus“ (44) mit Akzeptanz von Vorüberlegungen und Festlegungen der planerischen Ebene und schließlich die Klärung, dass ein „wie auch immer gearteter Dialogprozesse … keine grundsätzliche Entscheidungsgewalt innehaben“ (44) kann.   4. Untersuchungskategorien Den Autoren geht es um Wirkungsforschung, und deshalb sind die Untersuchungskategorien von Bedeutung. Eine Grundvoraussetzung ist dabei immer zu beachten: „Was im Endeffekt gebaut oder nicht gebaut wird, entscheiden Politik Verwaltung und Gerichte und nicht zuletzt der Vorhabenträger – nicht der Dialogprozess.“ (55) Vor diesem Hintergrund  entsteht ein Dilemma für die Problemlösung durch Dialogprozesse – bis hin zur These, dass eine solche Lösung eigentlich unmöglich ist, nicht nur wegen der unterschiedlichen Interessenkonstellationen, sondern vor allem wegen der Macht- und Entscheidungsebenen: „denn entweder tritt eine Wirkung ein – dann verlieren die eigentlich für die Entscheidung zuständigen politischen Akteure ihre Motivation – oder es findet keine Wirkung statt – dann haben die Akteure beim nächsten Dialogprozess keinen Anlass mehr, daran teilzunehmen.“ (53) Das ist selten so klar formuliert worden. Vielmehr gelten Partizipationsprozesse und Dialogprozesse normativ bisher als Königsweg bei Konflikten. Die Evaluationsforschung belegt aber, das solche Verständigungsprozesse keineswegs Erfolge garantieren. Zudem lässt sich der Erfolg oft erst viel später feststellen. In einer Matrix der Erfolgs- und Wirkfaktoren (59-60) listen die Autoren wertneutrale Kriterien  und normative Kriterien auf, die mit direkten und indirekten Effekten kombiniert werden. Dies ist ein Ziel führender Weg, ex post die Wirksamkeit vom Dialogprozessen zu überprüfen. Fragestellungen dazu: – „Wie entwickeln sich Konflikt und Entscheidung? (61); zu überprüfen ist dies ex post An Hand der Prozesse. – „Wie verändern sich Wissen, Wahrnehmung und Bewertung zum Konfliktgegenstand?“ Dazu eignen sich Interviews, Befragungen, Gruppengespräche, aber auch eine Presseschau (61) – „Wird der Prozess als fair, sachorientiert und effizient wahrgenommen?“ Auch dafür sind die bereits genannten Interview-Instrumente geeignet. –  „Wir erfolgt der Einbezug von Entscheidungssystemen aus Politik und Verwaltung?“ (61) – „Wie gelingt es dem Prozess, Wissen und Wahrnehmungen von T4eilnehhmern und Zuschauern zu verändern?“ (61) – „Aufgrund welcher Charakteristika schätzen Teilnehmende und Zuschauende den Prozess im Hinblick auf Fairness, Glaubwürdigkeit und Effizienz ein?“ (61) Die Autoren geben zahlreiche praktische Empfehlungen, wie Dialogprozesse bei Infrastrukturentscheidungen gelingen können. Dazu gehören die frühzeitige Eibeziehung von Entscheidern aus Politik und Behörden, die Klärung der Rollen von Politik und Investor, die Verbindlichkeit von Spielregeln und die Ernsthaftigkeit der „für die Entscheidung maßgeblichen Akteure (Vorhabenträger, Politik) zu Beginn des Vorhabens“ (63), die Beteiligten im Dialogverfahren und deren Vorschläge im Rahmen ihrer Möglichkeiten im gesetzgeberischen Entscheidungsprozess ernst zu nehmen. Schließlich empfehlen die Autoren eine Klärung und „Aufbereitung konfliktärer Themen“ (65). Dabei spielen „Verständlichkeit, Glaubwürdigkeit und die Fähigkeit, Brücken zwischen den Sichtweisen zu errichten“ (66) und eine offensive, aktive Kommunikation Erfolg versprechend. Klare Spielregeln, eine unabhängige, erfahrene Moderationspersönlichkeit und Gesprächskultur gehören ebenfalls zu den Erfolgs- und Wirkfaktoren konfliktär geprägter Dialogprozesse.     5. Beobachtete Ergebnisse Das fünfte Kapitel ist das umfangreichst der Studie. Es beschriebt den Runden Tisch Atdorf im Vergleich mit anderen großen Dialogprozessen, hier mit der Pipeline zur Lösung der Salzabwasserproblematik Werraversalzung, der Erweiterung des Flughafens Frankfurt und Stuttgart 21. In diesem Umfeld wird der Atdorf-Dialog als „Konsultation“ charakterisiert (75). Beschrieben werden die Rekrutierung der Teilnehmerinnen, die „Organisation von Expertise und Öffentlichkeit“ (79) und die Art, wie zum Ende des Dialogs die erreichten Ergebnisse einerseits von der Moderation und andererseits von Projektgegnerinnen bewertet werden. Atdorf wird an Hand von qualitativen und quantitativen Analysen ausgewertet. Dazu gehören Teilnehmerbefragungen, Fokusgruppeninterviews, eine Bevölkerungsbefragung und Presseauswertungen. Die Ergebnisse durch durchwachsen. Projektbefürworter haben eine andere Einschätzung des Runden Tisches als Projektgegner. Mit einem Untersuchungsraster aus 12 Determinanten der Zufriedenheit mit dem Runden Tisch (180) lassen sich empirische Schlüsse über die wichtigsten Erfolgsfaktoren ziehen. „Den weitaus stärksten Einfluss auf die Zufriedenheit hat die Erfüllung der Erwartungen auf den Runden Tisch. Je deutlicher die Bürger ihre Erwartungen an den Runden Tisch erfüllt sehen, desto mehr steigt ihre Zufriedenheit“. (180) Was trivial klingt, ist es keineswegs. Deshalb erscheint es notwendig, schon beim Start solcher Dialog- und Moderationsprozesse realistische Erwartungshaltungen zu formulieren., denn nicht erfüllte Erwartungen führen zu „überdurchschnittlich groß[r] Unzufriedenheit der Projektgegner, die sehr hohe Erwartungen an den Dialogprozess gestellt hatten, hierin aber enttäuscht wurden“. (180) Nicht überraschend ist seit „Stuttgart21“ die Moderatorenauswahl: „Der zweitstärkste Einflussfaktor ist die wahrgenommene Unabhängigkeit der Moderatorin“. (180) Sowohl ihre moderierende Rolle als auch die inhaltliche Arbeit spielen eine wesentliche Rolle für den Erfolg des Dialogprozesses. Und schließlich – auch dies ist in vorhergehenden Dialogprozessen so beobachtet worden – spielt es eine Rolle, ob der Dialogprozess an der Planung noch etwas ändern kann. „Je mehr die Menschen glauben, dass der Runde Tisch Auswirkungen auf Planung besitzt, desto zufriedener sind sie mit dem Beteiligungsverfahren“. (181) Wenn allerdings – wie in Atdorf – fast jeder zweite Bürger glaubt, dass nichts mehr zu ändern ist, wächst die Unzufriedenheit mit dem Dialogprozess. Ebenfalls relevant ist „das Gefühl der Vertretenheit am Runden Tisch“ (181).Wer sich ausgeschlossen fühlt vom Verfahren, steht auch dem Prozess und den Ergebnissen skeptisch gegenüber. Die Schlussfolgerungen sind allerdings nicht berauschend. Zwar hat der „Runde Tisch Einstellungsänderungen bewirkt“ (188). Die empirischen Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Bürger „das Projekt weniger einseitig“ (188) sehen. Aber: „Grundlegende Veränderungen im Bereich des Wissens, Wahrnehmens und Bewertens“ (188) sind weder am Runden Tisch noch bei der Bevölkerung erzielt worden. Zu hohe Erwartungen sind fehl am Platz: „Eine Konfliktlösung ist nicht in Sicht. Die Polarisierung hat sich nicht geändert“. (189) Dies sei aber auch nicht erwartet worden. Was offensichtlich erreicht wurde, waren die Ziele „Versachlichung, Transparenz und Kompetenzzuwachs“. (191)   6. Hinweise für erfolgversprechende Dialogprozesse / 7. Schlussfolgerungen und Empfehlungen In erfreulich knapper Form fassen die Autoren die Kriterien für erfolgversprechende Dialogprozesse zusammen: Dass der Dialog in frühem Planungsstadium beginnen soll, die Landespolitik einbezogen sein soll, dass eine Verständigung mit den Prüfungsbehörden “essentiell“ (201) erscheint, dass der Konflikt von Beginn an realistisch abgebildet wird, wie die Teilnehmenden ausgewählt werden,  wie die Spielregeln und Rahmenbedingungen aussehen, wie lange der Dialog dauert (zeitliche Begrenzung), wer moderiert, wie Fachfragen aufbereitet werden, wie öffentlich kommuniziert wird, welche Rolle die Informiertheit spielt (Verständlichkeit, Transparenz, Fairness) und dass ein Abschlussdokument erstellt wird.  

Diskussion

Die empirische Sozialforschung liefert wesentliche Hinweise zur Bewertung von Dialogprozessen bei konfliktgeladenen Infrastrukturprojekten. Wo Infrastrukturvorhaben massive Konflikte auslösen (können), tragen gut gemanagte Dialogprozesse zwar dazu bei, die Diskussion sachlicher und kompetenter zu führen. Wesentliche Einstellungsänderungen bei Projektgegnern sind aber nicht zu erwarten. Je früher die Einbeziehung der Stakeholder erfolgt, um so eher ist gegenseitiges Verständnis im Planungsprozess trotz unterschiedlicher politischer Einstellungen zu erwarten. Professionelle Kommunikation und Moderation sowie ein saubere Konfliktbeschreibung und Aufbereitung spielen eine wesentliche Rolle, um den Dialogprozess zum Erfolg zu führen und die Akzeptanz von Projekten zu verbessern.

Fazit

Ewen, Gabriel und Ziekow haben angesichts der hohen Bedeutung großer Infrastrukturvorhaben eine wichtige Studie zur realistischen Einschätzung von Dialogvorhaben vorgelegt, die an die Stelle von Wunschdenken und normativen Forderungen nachprüfbare empirische Ergebnisse existierender Dialogprozesse setzt. Die Ergebnisse mögen manchen Politiker und Planer enttäuschen, da Wunder bei solchen Dialog-Prozessen nicht zu erwarten sind. Nicht einmal wesentliche Einstellungsänderungen sind zu erwarten. Ungeachtet dessen belegen die positiven Aspekte in Fragen der Versachlichung von Konflikten, der Transparenz und der Teilhabe der Stakeholder, dass sich gut gemanagte Dialogprozesse für den Planungsprozess auszahlen. Armin König  

Europäische Integration: Nah am Abgrund? Ein Kontinent schlingert

In EuropaPolitikwissenschaft on April 18, 2009 at 10:27 pm
Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.)(2009): Jahrbuch der Europäischen Integration 2008. Baden-Baden: Nomos. 49 €. Das Schiff Europa ist wieder einmal ins Schlingern geraten. Und das kräftig! Der Kurs ist unklar, die See wird rauer. Und das, obwohl zum Zeitpunkt der Endredaktion des Jahrbuchs der Europäischen Integration noch nicht mit einem Sturz der tschechischen Regierung während der EU-Ratspräsidentschaft zu rechnen war. Brisant genug war die Lage im letzten Jahr schon. „Europa zeigt sich strategisch verwirrt“ (13) schreibt Werner Weidenfeld zu Beginn seiner „Bilanz der Europäischen Integration“. Kritisch notiert er: „Die übliche tagespolitische Hektik verbindet sich mit einer mittelfristigen Ratlosigkeit“ (13). Weidenfeld wird noch deutlicher: „So lange die Kernelemente des Lissabon-Vertrags nicht in Kraft treten, tickt die Zeitbombe einer Explosion der Legitimation Europas.“ (13) Eigentlich sollte der Reformvertrag Europa auf eine neue, demokratischere Grundlage stellen. Denn der noch gültige Vertrag von Nizza birgt Sprengstoff für Europa: „Die Bürger müssen nur bei einigen sensiblen Entscheidungen mitbekommen, welch eine dramatische Asymmetrie undemokratischer Art in den gewichteten Mehrheitsentscheidungen liegt.“ (13) So erleben wir derzeit eine paradox Situation. „Die intransparente Komplexität des Nizza-Vertrags hat bisher das Projekt Europa geschützt“, sagt Weidenfeld. „Man hat es nicht verstanden“. (13) Das muss aber nicht so bleiben. Deshalb warnt der Europa-Experte: “ Sobald die Unproportionalität aber einmal zum großen begreifbaren Thema befördert wird, dann ist die umfassendste Legitimationskrise nicht mehr abzuwenden.“ (13) Das Problem aber wird derzeit totgeschwiegen. Weidenfeld aber hat keine Scheu, zu unken, dass das Großprojekt der europäischen Erweiterung – bisher ein Magnet für viele Länder – plötzlich „nah an einem Abgrund“ steht. Die Feststellung, dass es ernsthafte Probleme der Union gibt, zieht sich wie ein roter Faden durch die Beiträge des traditionsreichen Jahrbuchs der Europäischen Integration. Dabei ist das gescheiterte Referendum in Irland nur ein Symptom für die Krise der Union. Vor „Lethargie und Handlungsstarre“ (52) warnen Giering / Neuhann mit Blick auf den Europäischen Rat. „Frust innerhalb der Parlamentsmehrheit“ (60) sieht Maurer bei den EP-Abgeordneten, die kämpferisch ins Jahr 2008 gestartet seien. „Gelassene Nervosität“ (69) konstatiert Diedrichs bei der Kommission. Unklar ist die Rolle der Agenturen, deren Zahl erheblich ausgeweitet wurde und denen es nach Ansicht Traguths an einem umfassenden Konzept fehlt (109). Auch die Außenpolitik der Europäischen Union und die Sicherheit- und Verteidigungspolitik sind von Unsicherheit gekennzeichnet (254). Hinzu kommen Schwierigkeiten mit Neumitgliedern wie Bulgarien sowie die unklare Perspektive der Beitrittskandidaten. Trotz dieser Schwierigkeiten lässt das umfangreiche Jahrbuch auch zahlreiche positive Seiten der Europäischen Integration erkennen. Funktionierende Institutionen wie der Gerichtshof, der Rechnungshof und der Ausschuss der Regionen, der Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie die Europäischen Zentralbank haben gezeigt, „dass der europäische Zusammenhalt entgegen vielfach geäußerten Befürchtungen nicht ausgedünnt wird und die EU-Zusammenarbeit auch ohne ein planmäßiges Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in zentralen Bereichen voranschreitet“ (9). Vermutlich hätte Europa die Finanzkrise ohne diese funktionierenden Institutionen nicht in der bisherigen Form bewältigt. Dass es in Zukunft unterschiedliche Geschwindigkeiten der europäischen Politiken geben wird, gilt als wahrscheinlich – es ist ein Experiment mit offenem Ausgang. Fazit: Das umfangreiche Jahrbuch der Europäischen Integration ist eine Fundgrube für Wissenschaftler, Studierende und Politiker, die sich ernsthaft mit dem Thema Europa auseinandersetzen. Es ist kritisch, bietet einen guten Überblick über Institutionen, Policies, Politics und Polities und ist sorgfältig editiert. (c) Armin König 2009
 

Europa strategisch verwirrt oder auf Zukunft programmiert?

In EuropaPolitikwissenschaft on Oktober 31, 2009 at 11:27 pm
Weidenfeld, Werner / Wessels,Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2008. Baden-Baden: Nomos. Das Schiff Europa hat in den letzten 12 Monaten stark geschlingert und gekrängt. Der Kurs ist unklar, die See wird rauer. „Europa zeigt sich strategisch verwirrt“ (13) schreibt Werner Weidenfeld zu Beginn seiner „Bilanz der Europäischen Integration“. Kritisch notiert er: „Die übliche tagespolitische Hektik verbindet sich mit einer mittelfristigen Ratlosigkeit“ (13). Immerhin ist es jetzt gelungen, den Vertrag von Lissabon unter Dach und Fach zu bringen. Ob dies die mittelfristige Ratlosigkeit beseitigt, darf derzeit bezweifelt werden. „Mit dem Vertrag von Lissabon sollte eine dringend notwendige Justierung der strategischen Ausrichtung Europas vorgenommen werden“, bemerken die Herausgeber Weidenfeld und Wessels. Reformen sollen Europa demokratischer, transparenter und schlagkräftiger machen. „Zu den zentralen Reformen gehören die Einführung der doppelten Mehrheit, die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, die klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten, die Stärkung er Rechte des Europäischen Parlaments, die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte, die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens sowie die Anpassung der Instrumente der differenzierten Integration. Zudem enthält der Vertrag Mechanismen, die ein Weiterentwickeln der EU auch ohne Kraft raubende Vertragsverhandlungen ermöglichen.“ (9) Aber die massiven Ratifizierungsprobleme haben Spuren hinterlassen. Weidenfeld und Wessels sehen dies nicht nur negativ: „Die Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung des Vertrags von Lissabon wie auch bei dessen Ratifikation zeigen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht mehr alle zum selben Zeitpunkt in allen Politikfeldern mit derselben Intensität vorgehen möchten oder können“. (9) Für die Union ist dies eine echte Herausforderung. ob daraus wirklich eine strategische Chance werden kann, weiß derzeit niemand. Ratlosigkeit ob der Zukunft zieht sich wie ein roter Faden durch die Beiträge des traditionsreichen Jahrbuchs der Europäischen Integration. Dabei ist etwa das gescheiterte Referendum in Irland nur ein Symptom für die Krise der Union. Vor „Lethargie und Handlungsstarre“ (52) warnen Giering / Neuhann mit Blick auf den Europäischen Rat. „Frust innerhalb der Parlamentsmehrheit“ (60) sieht Maurer bei den EP-Abgeordneten, die kämpferisch ins Jahr 2008 gestartet seien. „Gelassene Nervosität“ (69) konstatiert Diedrichs bei der Kommission. Unklar ist die Rolle der Agenturen, deren Zahl erheblich ausgeweitet wurde und denen es nach Ansicht Traguths an einem umfassenden Konzept fehlt (109). Auch die Außenpolitik der Europäischen Union und die Sicherheit- und Verteidigungspolitik sind von Unsicherheit gekennzeichnet (254). Hinzu kommen Schwierigkeiten mit Neumitgliedern wie Bulgarien sowie die unklare Perspektive der Beitrittskandidaten. Trotz dieser Schwierigkeiten lässt das umfangreiche Jahrbuch auch zahlreiche positive Seiten der Europäischen Integration erkennen. Funktionierende Institutionen wie der Gerichtshof, der Rechnungshof und der Ausschuss der Regionen, der Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie die Europäischen Zentralbank haben gezeigt, „dass der europäische Zusammenhalt entgegen vielfach geäußerten Befürchtungen nicht ausgedünnt wird und die EU-Zusammenarbeit auch ohne ein planmäßiges Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in zentralen Bereichen voranschreitet“ (9). Vermutlich hätte Europa die Finanzkrise ohne diese funktionierenden Institutionen nicht in der bisherigen Form bewältigt. Falls es in Zukunft unterschiedliche Geschwindigkeiten der europäischen Politiken geben wird, wird dies ein Experiment mit offenem Ausgang. Armin König   Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen: Generationenbeziehungen Sigrun-Heide Filipp, Irene Gerlach (Hrsg.): Generationenbeziehungen. Herausforderungen und Potenziale ; Gutachten für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2012. 217 Seiten. ISBN 978-3-531-18510-1. D: 34,95 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 43,50 sFr.Reihe: Familie und Familienwissenschaft.  Gutachten für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Rezensent: Armin König   Thema und Hintergrund Generationenbeziehungen gewinnen im demografischen Wandel zunehmend an Bedeutung – und an Brisanz. Abnehmende Stabilität familialer Beziehungen und Sorgen um den Erhalt des Gemeinwesens sind ebenso brisant wie die Verschiebung der Gewichte zwischen den Generationen, die Rentenfrage und die Notwendigkeit solidarischer Unterstützung über Generationsgrenzen hinweg. Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen untersucht Herausforderungen und Potenziale der Generationenbeziehungen. In einem Gutachten für das Bundesfamilienministerium richtet der Beirat den Fokus insbesondere auf die Großeltern-Eltern-Beziehung. Damit setzt er andere Akzente als die klassischen Familienberichte der Bundesregierung. Es geht um demografische Trends, ökonomische Rahmenbedingungen, Leistungen der Generationen füreinander, die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkelkindern in ihren Rückwirkungen auf das Wohlbefinden, um „Initiierung und Förderung von Generationenbeziehungen außerhalb der Familien“ (120) und um zeitpolitische Konzepte. Schließlich empfiehlt der Beirat für Familienfragen der Bundesregierung eine neue Generationenpolitik.  

Autor

Prof. Dr. Irene Gerlach ist Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen und Professorin an der Evangelischen Fachhochschule Bochum. Prof. Dr. Sigrun Heide Filipp war Professorin für Angewandte Entwicklungspsychologie an der Universität Trier und ist seit 2008 emeritiert. Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen berät das Ministerium unabhängig und ehrenamtlich in allen Fragen der Familienforschung und Familienpolitik. Er wurde in seiner jetzigen Form im Jahr 1970 gegründet und äußert sich regelmäßig in Gutachten und Stellungnahmen zu Schwerpunktfragen der Familienpolitik – wie beispielsweise zur Vereinbarkeit von Ausbildung und Familie oder zum Thema der Generationenbeziehungen.    

Aufbau

Das Gutachten ist in 6 Kapitel gegliedert:

  1. Generation und Generativität als Perspektive für Familienpolitik
  2. Generation – Konzeptuelle Klärung
  3. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Gestaltung von Generationenbeziehungen
  4. Familiäre Generationenbeziehungen am Beispiel von Großeltern und Enkelkindern
  5. Generationenbeziehungen außerhalb der Familie
  6. Für eine aktive Unterstützung von Generationenbeziehungen: Empfehlungen des Beirats

 

 

Inhalt

  Kapitel 1: Generation und Generativität als Perspektive für Familienpolitik Das einleitende erste Kapitel beschreibt die Veränderungen der Generationenbeziehungen in Zeiten des demografischen und gesellschaftlichen Wandels. Dazu gehört „eine zunehmende Individualisierung sowie eine abnehmende Selbstverständlichkeit und Zuverlässigkeit familialer Bindungen“ (11). Dem stellen die Autorinnen und Autoren die Prämisse entgegen, dass „Basis jeglicher Generationenbeziehungen […] die Bereitschaft und die Fähigkeit von Menschen [ist], Familien zu gründen, Kinder aufzuziehen und für sie zu sorgen.“ (11) So ist philosophisch und auf evolutionsbiologischer Grundlage vom „menschlichen Bedürfnis nach Generativität“ (11) die Rede. Verantwortung ist ein weiterer Schlüsselbegriff in einem im Wortsinn konservativen Generationsverständnis, das in eine „Generationenfolge“ (12) eingebettet ist. Es komme entscheidend darauf an, „sich mit den Leistungen der vorangegangenen Generationen für das eigene Dasein auseinander zu setzen wie auch (vielleicht in erster Linie) die Existenz das Wohlergehen der nachfolgenden Generation zu bedenken und danach zu handeln.“ (12) So entstehen evolutionsbiologisch und ethisch begründete Verantwortungsgemeinschaften über Generationen hinweg. Diese gelebten und gedachten Generationenbeziehungen können von der Politik gefördert werden. Diese hat ihr Augenmerk bisher vor allem auf die klassische Eltern-Kind-Relation in und außerhalb der Familie gelegt. Das Gutachten weitet den Blick angesichts deutlich gestiegener Lebenserwartungen auf die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkelkindern, die bisher von der Wissenschaft vernachlässigt worden seien. Vor allem die „absolute zeitliche Dauer“ (13) der Großeltern-Enkel-Beziehungen habe sich deutlich verlängert. Dies sei angesichts der gestiegenen Lebenserwartung eine „historisch sehr junge Erscheinung“. (13) Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen plädiert für eine Aufwertung der Generationenpolitik. „Dabei wird insbesondere auch nach den wichtigen Funktionen dieses Generationenverhältnisses vor dem Hintergrund der Bedingungen heutigen Familien- und Arbeitslebens gefragt.“ (17) Auch mögliche Spannungen und Konflikte werden nicht ausgeblendet. Darüber hinaus wird dem „Wohlergehen der künftigen Generationen“ (15) im Sinne der Nachhaltigkeit und der Verantwortungsethik besondere Beachtung geschenkt.   Kapitel 2: Generation – Konzeptuelle Klärung Kapitel zwei beschreibt knapp die Grundbegriffe einer interdisziplinären Generationenanalyse, analysiert die „Charakteristika von Generationenbeziehungen“ (24) inklusive der Schlüsselbegriffe  Solidarität, Konflikt und Ambilvalenz, um schließlich auf „Generativität als zentrale Aufgabe“ (27), die allerdings nicht biologistisch verkürzt werden sollte, so die Autorinnen und Autoren. Ausgangsbasis ist das Konzept der „gelebten Beziehungen zwischen den Generationen“ (28), bei denen Wechselseitigkeit und Austausch im Vordergrund stehen. Es gilt, voneinander und miteinander zu lernen.   Kapitel 3: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Gestaltung von Generationenbeziehungen Im dritten Kapitel geht es um demografische Trends, „familienstrukturelle Entwicklungen“ (35), die „ökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen Familien ihr Leben und die Generationenbeziehungen gestalten können (42), wobei der Arbeitsmarkt eine besondere Rolle spielt, um Mobilität, Telekommunikation und multilokale Verbindungen in Zeiten des Internets. Den Abschluss bilden rechtliche Rahmenbedingungen, „sozialstaatliche Strukturierungen“ (49) und „intergenerationelle Lastverschiebungen (52) etwa im Bereich der Altersversorgung aber auch der Verteilung finanzieller Mittel für politische Schwerpunktaufgaben.   Kapitel 4: Familiäre Generationenbeziehungen am Beispiel von Großeltern und Enkelkindern Nach den theoretischen Ausführung der ersten drei Kapitel, die allerdings noch wenig zu Beziehungspotenzialen unter den Generationen aussagen, folgen im vierten Kapitel Empirie und Praxis. Es geht um Wohnortentfernungen, um Nähe und Bildungsniveau, die Erwerbstätigkeit von Großeltern, um Möglichkeiten der Kinderbetreuung, die mögliche Rolle von Großeltern als Mediatoren, falls die Eltern ihrer Enkel sich trennen, auch um die „Beziehungen zwischen Stiefgroßeltern und deren Stiefenkeln, d.h. jene Konstellationen, in denen soziale Großelternschaft gelebt wird.“ (77) Besonders im Fokus stehen die „sozio-emotionale Bedeutung, die Großeltern und Enkel füreinander besitzen“ (79), die „entwicklungsförderliche Rolle der Großeltern“ (79) sowie deren „Bedeutung als (auch zeitliche) ‚Ressource’ im Alltagsleben“. (79) Darüber hinaus tragen Großeltern „zum Erhalt soziokultureller Traditionen bei“. (80) Sie geben Wissen und Werte weiter, helfen mit ihrer Erfahrung, Probleme zu lösen und haben unabhängig von den Eltern eine ganz „eigenständige Rolle in der Vermittlung religiöser Werte an die Enkelgeneration“. (81) Schließlich können Großeltern auch „als Freunde bzw. Spielkameraden fungieren, die mit den Enkeln den Alltag gestalten, gemeinsame Aktivitäten unternehmen und deren Phantasie anregen“. (83) Als „Geschichtenerzähler“ (83) sind Großeltern besonders gefragt. Diese Befunde sind keineswegs trivial. Gerade in Zeiten veränderter familialer Beziehungen sind dies stabilisierende Funktionen, die im Gegensatz zu früheren Zeiten nicht mehr selbstverständlich sind. „Großeltern tragen durch die Beziehung zu ihren Enkeln zu einer Stabilisierung familialer Hilfenetzwerke bei“ (85), schreibt der Beirat in seinem Gutachten. Auch „finanzielle und materielle Transfers“ (85) sind in diesem Zusammenhang von Interesse. Das Fazit des Beirats: „Großeltern-Enkel-Beziehungen beinhalten Chancen des wechselseitigen Lernens, sie können die Einsicht in die Bedeutung verlässlicher Beziehungen erzeugen und fördern, und sie können ein wichtige Quelle positiver Emotionen und hoher Lebenszufriedenheit sein.“ (101)   Kapitel 5: Generationenbeziehungen außerhalb der Familie Weniger selbstverständlich und zudem seltener sind Generationenbeziehungen außerhalb von Familien. Dem widmet sich das fünfte Kapitel. Hintergrund sind „Veränderungen familialer Strukturen“ (105), die „Fragilität von Familienbeziehungen“ (106) sowie – ganz spannend – Gefährdungslagen für ältere Menschen, „die eine Neuausrichtung gewalt- und kriminalpräventiver Bemühungen erfordern. Dazu gehören unter anderem Formen der Vermögenskriminalität bei denen Hochaltrige gezielt als Opfer ausgewählt werden (Trickdiebstähle: ‚Enkeltrick’, etc.), aber auch Tötungsdelikte an älteren Menschen.“ (106-107) Auch andere Delikte sind in den letzten Jahren mit steigender Lebenserwartung zunehmend in den Fokus gerückt, etwa „Misshandlung und Vernachlässigung älterer Pflegebedürftiger in privaten wie professionellen Pflegebeziehungen, in den die potenziellen Opfer in besonderem Maße verwundbar sind.“ (107) Andererseits werden auch Delikte wie sexuelle Gewalt von Älteren an Kindern beleuchtet. Der Beirat schließt, „dass (sexuelle) Gewalt zwischen älteren Menschen und Kindern ein durchaus zu beachtendes, wenn auch stark tabuisiertes oder in Einzelfällen skandalisiertes Thema ist“. (108) Die Autorinnen und Autoren sehen aber grundsätzlich Chancen in außerfamilialen Generationenbeziehungen, insbesondere, wenn es um Kompensationen von Hilfen geht, die in Familien nicht mehr geleistet werden (können). „Die Suche nach den Potenzialen, die sich aus außerfamilialen Generationenbeziehungen schöpfen lassen, ist also in jedem Falle ein lohnendes Unterfangen, und zweifellos liegt darin eine wichtige Herausforderung an eine zukunftsorientierte, für die Generationenfrage sensible Familienpolitik.“ (109) Abgeschlossen wird das Kapitel mit Modellprojekten, Initiativen und Praxisbeispielen.  Spannend sind in diesem Zusammenhang vor allem intergenerationelle Wohn- und Lebensformen sowie Zeitprojekte.   Kapitel  6: Für eine aktive Unterstützung von Generationenbeziehungen: Empfehlungen des Beirats Das sechste Kapitel gibt Empfehlungen an die Politik, sowohl familiäre als auch außerfamiliäre Generationenbeziehungen zu stärken. Die höhere Lebenserwartung eröffne neue Chancen, um den Austausch zwischen den Generationen zu stärken. Denkbar sei es, „Inhalte der Familienbildung weiter zu entwickeln und zuweitern um Komponenten eines ‚Mehrgenerationenmanagements’. (162) Freiwilligenarbeit sowohl von Großeltern als auch von Enkeln solle gestärkt, Qualifizierungsmöglichkeiten verbessert werden. Außerdem müssten mehr „Begegnungs- und Erfahrungsräume geschaffen werden“ (163), auch um die Zivilgesellschaft zu stärken. Freiwilliges Engagement von jungen und alten Menschen solle darüber hinaus rechtlich abgesichert und anerkannt werden.   Diskussion und Fazit Die Studie ist fundiert, aber wenig spektakulär. Sie richtet den Blick auf die bisher von der Wissenschaft eher vernachlässigten Großeltern-Enkel-Beziehungen. Dort liegen offenbar erhebliche Potenziale, um den Zusammenhalt der Generationen und die intergenerationelle Solidarität zu stärken. Gleichzeitig können so intergenerationelle Konfliktfelder entschärft werden. Die normativen Aussagen der Studie sind nachvollziehbar und begrüßenswert, die Frage der Finanzierbarkeit bleibt aber ebenso ausgeklammert wie die Rolle der ohnehin schon stark strapazierten Kommunen bei der Schaffung und Betreuung neuer, außerfamilialer Generationenbeziehungen. Die Lösungsvorschläge des Beirats bleiben konventionell. Fazit: Ein pflegeleichtes Gutachten für die Bundesfamilienministerin. Armin König   Oekom e.V. – Verein für ökologische Kommunikation (Hrsg.): Bürgerbeteiligung 3.0 Oekom e.V. – Verein für ökologische Kommunikation (Hrsg.): Bürgerbeteiligung 3.0 – Zwischen Volksbegehren und Occupy-Bewegung. Mitherausgegeben vom Wissenschaftlichen Beirat des BUND. = politische ökologie 127, Dezember 2011. Oekom Verlag,  München 2011. 144 Seiten. ISSN 933-5722 ISBN 978-3-86581-283-4. 16,90 EUR.   Rezensent: Armin König   Thema und Hintergrund Ist dies nun ein Buch, eine Broschüre, eine Zeitschrift, ein Traktat, eine Handreichung? Es spielt keine Rolle: Die Druckschrift, die der oekom-Verein im oekom-Verlag zum Thema „Bürgerbeteiligung 3.0“ herausgegeben hat, ist von allem etwas. Sie trägt eine ISSN-Zeitschriften- und eine ISBN-Buchnummer, sie ist attraktiv layoutet wie Zeitschriften, trägt sperrige Themen mit Hilfe knackiger Schlagzeilen („Wir sind Menschen, keine Produkte“, „Empört euch“, „Ökosteuer schlägt Volksabstimmung“) vor und bietet trotz dieser unkonventionellen Verpackung seriöse Informationen hochkarätiger Autoren.  Es ist eine Streit- und Denkschrift für „Querdenker und Vordenkerinnen“, die sich über Bürgerbeteiligung zwischen Volksbegehren und Occupy orientieren wollen, denn Partizipation liegt im Trend. Nicht nur in Deutschland wird die Stimme des Volkes lauter, auch in den USA, in Spanien und Israel finden Kundgebungen und Demonstrationen statt. Der Unmut der Bevölkerung äußert sich bei Occupy und Stuttgart 21, in sozialen Netzwerken und auf der Straße. „Einer der Hauptgründe für das Misstrauen gegenüber der Politik ist die wachsende Undurchschaubarkeit der politischen und ökonomischen Vorgänge, wie sie sich in der zurückliegenden Finanzkrise gezeigt hat“, sagte Heiner Geißler in seinem Schlichterspruch zum Bahnprojekt Stuttgart 21 im November 2010.  Die Autorinnen und Autoren der kritischen Zeitschrift „politische ökologie“  „machen sich auf die Suche nach einer neuen Balance zwischen staatlicher Handlungsfähigkeit und demokratischer Mitbestimmung“, schreibt Anke Oxenfarth für die Herausgeber. „Ziel ist ein moderner Staat, der seine Bürger(innen) ernst nimmt und ihnen echte Beteiligungsmöglichkeiten anbietet“.  

Herausgeber und Autoren

Prof. Dr. Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler, Co-Direktor des Käte-Hamburger-Kollegs an der Universität Duisburg-Essen und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen und Professor für Politikwissenschaft. Prof. Dr. Hans J. Lietzmann ist Jean-Monnet-Professor für European Studies und Prodekan der Universität Wuppertal. Er ist Jurist, Politk- und Sozialwissenschaftler. Prof. Dr. Herbert Kubicek ist Professor für Informationsmanagement an der Universität Bremen. Prof. Dr. Klaus Selle lehr seit 2001 Planungstheorie und Stadtentwicklung an der RWTH Aachen und unterstützt Initiativen, Kommunen und Verbände bei kommunikativen Planungsprozessen. Prof. Dr. Felix Ekart ist Jurist, Philosoph und Soziologe und leitet die Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und Klimapolitik. Dr. Anton Hofreiter ist Biologe und Bundestagsabgeordneter der Grünen. Seit 2011 leitet er den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Der Wasserwirtschaftler Rüdiger Herzog ist sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Gesine Schulze arbeitet als Stadt- und Regionalplanerin in Berlin im Programm Soziale Stadt. Alexandra Kast ist Sozialwissenschaftlerin und Quartiersmanagerin in einem Gebiet der Berliner „Sozialen Stadt“. Michael Zschiesche ist Volkswirt und Jurist und leitet das Unabhängige Institut für Umweltfragen e.V. in Berlin. Peter Rottner ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Landesgeschäftsführer des Bund Naturschutz in Bayern e.V. Daniel Boese arbeitet als Online-Redakteur beim Kunstmagazin „art“. Christian Hillengaß ist Autor des Buchs „Atomkraft und Protest“. Bettina Hennig ist Juristin und promoviert zur rechtlichen Steuerung der Ambivalenzen energetischer Biomassenutzung. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe Nachhaltigkeit und Klimapolitik an der Universität Rostock und stellvertretende Sprecherin des Arbeitskreises Umweltethik. Dr. Thymian Bussemer ist Autor („Die erregte Republik“), Politikberater und Manager.    

Aufbau

Bürgerbeteiligung 3.0 ist in vier Kapitel mit den Überschriften „Rumoren“, „Aufbegehren“, „Aufbruchsstimmung“ und „Impulse“ eingeteilt. Ergänzt wird es von Beiträgen zur Nachhaltigkeit.  

Inhalt

Kapitel I „Rumoren“ „Bürger und Bürgerinnen, hinein in die Parteien“, ruft Claus Leggewie, nachdem die Leser zuvor kluge Sätze von Thomas Jefferson, Mahatma Gandhi, Max Frisch und Heiner Geißler zur Aufklärung, zum bürgerlichen ungehorsam und zur Befreiung aus der unverschuldeten Unmündigkeit lesen durften. Es sind Verführungen zur Partizipation: „Demokratie heißt, dass sich die Leute in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen.“ (Max Frisch). Abgeschlossen wird der Wandzeitungsvorspann von einem Occupy-Knigge, bevor Leggewie klassisch kontert: „Vieles scheint derzeit für eine Repolitisierung der Bürgerschaft zu sprechen, und zwar in einer dramatischen Krisensituation, in der ein aus dem Ruder gelaufener globaler Finanzmarkt und die Herausforderungen des Erdsystems durch Klimawandel und Ressourcenverknappung die Chancen und Lebensbedingungen  junger und künftiger Generationen massiv bedrohen.“ (21) Leggewie lobt die Reaktion der deutschen Politik auf Fukushima und erläutert, dass die deutsche und die europäische Energiewende in die richtige Richtung zeigten. Sein Lob gilt der klassischen parlamentarischen und Regierungspolitik. Gleichzeitig ruft er dazu auf, „ein realistisches Bild vom tatsächlichen Niveau der Partizipation in liberalen Demokratien“ (21) zu zeichnen. Man dürfe „nicht bei der Feier des empörten Wutbürgers stehen bleiben“ (21). Gleichzeitig warnte er davor, dass Wutbürgertum „leicht zur selbstgefälligen Pose erstarren“ (21) und „sich auch gegen sinnvollere Infrastrukturprojekte wenden“ könne (21). So deutlich hat das schon lange kein partizipativ orientierter Politikwissenschaftler  mehr gesagt. Leggewie ist aber nicht nur Wissenschaftler, sondern als Begleiter von Stadtentwicklungsprojekten auch erfahrener Praktiker. Er will „Wutbürger zu Mutbürgern zivilisieren“ (21), plädiert für einen neuen Gesellschaftsvertrag und verlangt im Kern einen gestaltenden Staat mit mehr Bürgerbeteiligung. Realistisch kommentiert er:  „Die Ermächtigung der Bürgergesellschaft ohne gleichzeitige Stärkung des Staates und der intermediären Instanzen stanzen wie Parteien und Verbände führte nur zur völligen Überforderung der Aktivbürger(innen), von denen es nur sehr wenige gibt – realistisch betrachtet drei bis vier Prozent der Bevölkerung.“ (20) Und so schwimmt Leggewie gegen den Strom, bricht eine Lanze dafür, ein „erprobtes Arsenal an Beteiligungsmöglichkeiten [zu] nutzen“ (22) und „Mitsprache, Mitbestimmung und Mitwirkung“ (20) zu einer Konstante in einem gestaltenden Staat zu machen – wobei er den klassischen Volksparteien die Erneuerung kaum zutraut, „den verstreuten Keimen und kernen, den fluiden Netzwerken  nachhaltigen Wirtschaftens auch ohne feste Mitgliedschaften den notwendigen Entfaltungsraum zu bieten.“ (23) Aber Parteien sollen es schon sein, etwa eine „Volkspartei neuen Typs“ (24), die „reale wie virtuelle Kommunikationsgemeinschaften, die in einem wenigstens indirekten Sinne politisch aktiv sind“ (24), einbindet. Leggewies unkonventionelles Fazit: Es sei heute sehr viel einfacher als früher, in Parteien in Entscheidungspositionen zu gelangen. Deshalb empfiehlt er gegen den Trend: „Bürger(innen), tretet massenhaft den Parteien bei!“ (25) Schon dieser Aufsatz lohnt den Kauf der Streitschrift.   Kapitel 2 Aufbegehren“ Im Kapitel „Aufbegehren“ beschreibt Hans J. Lietzmann unter dem Titel „Auf zum nächsten Level“ Bürgerbeteiligung im Wandel der Zeit (28-35). Schlüssig plädiert er für „eine neue Gewaltenteilung“ (34). Er beruft sich auf die „gewachsene Kompetenz der Bürgerschaft, ihr Überblickswissen und ihre Alltagserfahrung“ (34) sowie die „gesellschaftlichen Informationspotenziale der Wissensgesellschaft“. (34) Wie Leggewie vertraut auch Lietzmann den klassischen Institutionen, wenn sie sich neu aufstellen: „Diese Bürgerbeteiligung wird die Parlamente nicht ersetzen. Die Gremien behalten ihre wichtige Rolle bei der routinierten Bewältigung de Tagespolitik! Aber die Parlamente brauchen eine neue gewaltenteilige Ergänzung und Unterstützung; sie werden ihr Handlungspotenzial durch Bürgerbeteiligung verstärken und ihren Spielraum erweitern.“ (34) Gesine Schulze und Alexandra Kast stellen Formen informeller Beteiligung „Von A wie Agendakonferenz bis Z wie Zukunftswerkstatt“ (36-41) vor. Michael Zschiesche kritisiert, dass die Aarhus-Konvention zur Bürgerbeteiligung im Umweltschutz, die die Rolle der Zivilgesellschaft stärken sollte, in Deutschland zum Vorwand genommen wurde, „Bürgerbeteiligung ordentlich zurückzustutzen.“  (42) Dies sei gegen den Geist der europäischen Konvention, die nicht nur die Beteiligung erhöhen, sondern auch die Demokratie stärken sollte. Stattdessen seien die Deutschen bei der Umsetzung in nationales Recht formalistisch vorgegangen, ohne dem Grundanliegen gerecht zu werden. „Man könnte auch sagen, Deutschland ist trotz Aarhus-Konvention in der Summe in Sachen Bürgerbeteiligung im Umweltschutz zurückgefallen, weil Deregulierung und Verfahrensbeschleunigung seit zwei Jahrzehnten die bundesdeutsche Politik prägen. Und aus dem Mangel an Beteiligung entstehen Proteste und in der Folge hitzige öffentliche Debatten wie die zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21“ (44). Statt die Aarhus-Konvention zum Bollwerk gegen mehr Beteiligung zu machen, indem man dort Standards abbaue, wo sie europarechtlich (noch) nicht gefordert wurden, sei es notwendig, „die Konvention endlich ernst zu nehmen“ (42). Der BUND-Jurist Peter Rottner beklagt „zu kurze Klagefristen, horrende Verfahrenskosten, Verwaltungswillkür“ (49) bei Einsprüchen gegen Großvorhaben und verlangt, dass die Bürgerinnen und Bürger „Auf Augenhöhe mit dem Goliath“ (49) streiten dürfen. Wenn „automatisch alternative Standorte überprüft werden müssten oder Bürgeranwälte informationsgeizigen Behörden auf die Finger klopfen könnten, klänge Volkes Stimme im Gerichtssaal schon lauter“ (49) Deshalb fordert Rottner „mehr Waffengleichheit“ (50), verbesserte Raumordnungsverfahren, faire Regeln für die Bürgerbeteiligung, Bürgeranwälte „zur Sicherung der Verfahrensgerechtigkeit“ (51), eine Verbesserung der Rechtskontrolle und Kostendämpfung“ (52) und die Einführung von Volks- und Bürgerbegehren auf allen Politikebenen. Herbert Kubicek analysiert die „Kommunikationswege der politischen Partizipation“ (55) von der Online-Umfrage bis zur Zeitungsanzeige, vom Pressebericht über den Dagegen-Button im Netz bis zur Veranstaltung und kommt zum erwarteten Ergebnis: „Der Mix machts“ (55). Politische Kommunikation sei nur „im Medienverbund wirksam.“ (57) Der Mythos der überlegenen digitalen Kommunikation wird als falsch entlarvt: „Eine ausschließlich digitale Partizipation mit dem Internet als einzigem Medium ist nicht effektiv und politisch nicht vertretbar“. (60) Daniel Boese setzt in der Klimadiskussion auf „Globalen Jugendwiderstand“ (62), weil er nicht einsieht, dass „Menschen jenseits der Fünfzig über Dinge verhandeln, die sie nie erleben werden, weil sie 2050 längst tot sind“ (64). Im Gegensatz zu Kubicek setzt er fast ausschließlich auf das Internet als globalen Kommunikationsraum der Jugend. „Es geht nicht darum, ein Facebook der Klimaaktivist(inn)en zu bauen, sondern darum, politischen Handlungsraum zu schaffen.“ (65) So unterschiedlich können die Ansätze und die Schwerpunkte in einem Sammelband sein. Christian Hillengaß fragt: „Wie viel Einfluss liegt auf der Straße“ (67) und analysiert den Anti-Atomkraft-Protest in Frankreich, Schweden und Deutschland. Während in Frankreich der Protest gebrochen („Massiver Polizeieinsatz bricht französischen Widerstand“, 68), in Schweden moderiert wurde („Schwedische Politik nimmt den Gegnern den Wind aus den Segeln“, 70), hat die Protestbewegung durch die Institutionalisierung und Parlamentarisierung den größten Erfolg erzielt. Das Fazit des Autors „Die Kombination aus hohem außerparlamentarischem Druck und eigenständiger Anknüpfung im Parteiensystem scheint die wirkmächtigste Strategie für Protest zu sein“. (69) Damit knüpft Hillengaß an Leggewie („Bürger(innen), tretet massenhaft den Parteien bei!“) und Lietzmann („die Parlamente brauchen eine neue gewaltenteilige Ergänzung und Unterstützung“) an.   Kapitel 3 „Aufbruchstimmung“ Brillant ist die Analyse des Planungsprofis Klaus Selle zur politischen Kultur bei der Umsetzung von Großprojekten: sie landet oft „Unterm Schaufelbagger“, wie es der Titel seines Artikels prägnant zusammenfasst. Schon bei der Klärung der Ausgangslage von Großprojekten nimmt Selle kein Blatt vor den Mund: „Schöngerechnete Bilanzen, im Akteursgestrüpp verschwundene Verantwortlichkeiten und wolkige Versprechungen verhindern häufig eine offene und fachliche Auseinandersetzung mit Großprojekten“ (74). Als Einstieg für die „Kollision eines Großprojekts mit dem Volkszorn“ (74) wählt er das heftig umstrittene Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“. Dabei kommt er zu einem überraschend klaren Befund: „Die Erklärung, hier hätte die Kommunikation versagt, ist zu kurz gesprungen.“ (74) Er lässt noch gelten, dass die Häufung von Kommunikationsfehlern vielleicht extrem sei, zufällig sei sie aber nicht. Gerade bei Großvorhaben sei es oft systemimmanent, dass die Initiatoren insbesondere in der frühen Phase der Projektentwicklung gar kein Interesse an Transparenz und offener Diskussion hätten. Stattdessen würde „offene und öffentliche Erörterungen“ (74) gemieden. Sie seien „wenig sensibel, wenn es um lokale Demokratie geht“. (74) Klassischerweise gingen die Initiatoren von Großprojekten nach dem Motto DAD („Decide – Announce –Defend“, 759 vor, nicht nach dem positiven Gegenmodell EDD („Engage – Deliberate – Decide“, 75). Glasklar benennt den Mix aus Interessen und Machtspielen: „Mit den Projekten sind mächtige politische und ökonomische Interessen und Akteure verbunden. Sie haben sich bereits in einer frühen Phase der Projektentwicklung ihrer Zusammenarbeit versichert und Vorfestlegungen getroffen.“ (75) Stuttgart 21 sei ein Musterbeispiel für diesen Typ. „Kommt es dann zur Projektpräsentation nach außen, werden nicht diese konkreten Interessen und Akteure benannt, sondern vorrangig die erwarteten Effekte des Projekts für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung (Arbeitskräfte, Folgeinvestitionen, Steuereinnahmen) in Stadt und Region sowie ergänzend weitere zustimmungsfähige Wirkungen (Stadtentwicklung, Umwelt) herausgestellt. Dass diese Effekte auf andere Weise erreichbar wären, wird ausgeschlossen“. (75) Der Planungsprofi Selle kennt sein Metier und seine Kolleg_innen aus dem Effeff und kommt zum nicht allzu überraschenden Schluss: „Insofern gilt das Projekt als ‚alternativlos’.“ (75) Dies sei „des Planers liebstes Wort“ (75) In Wahrheit gehe es nicht um die Effekte, die in „feierliche[r] Unschärfe“ (75) zelebriert würden, sondern um knallharte ökonomische Interessen, die nicht selten durch „strategische Verfälschungen, also Lügen“ (77) kaschiert würden. Das betreffe nicht nur Stuttgart 21, sondern zahlreiche Großprojekte, die sich von den Menschen unabhängig machten und irgendwann einer „alternativlosen“ Eigendynamik folgten: „Hinter vermeintlichen Sachzwängen und der Rede von der ‚einmaligen Chance’ verbergen sich fest miteinander verwobene Interessen und Vorentscheidungen, an denen jede Forderung nach Alternativen oder substanziellen Modifikationen des Vorhabens abprallt.“ (78) Als großes Problem sieht Selle die Rolle von Gesellschaften und Unternehmen, die privatrechtlich organisiert, aber in öffentlicher Hand sind und den Eindruck besonderer Seriösität erwecken, während sie Bodenvermarktung und Projektentwicklung betreiben. „Sie alle scheinen zwar öffentliche Aufgaben wahrzunehmen, entwickeln aber in der Regel ein erhebliches Eigenleben. Im Ergebnis kann dies dazu führen, dass einzelne dieser (öffentlichen) Unternehmen die Macht- und Kontrollverhältnisse auf den Kopf stellen.“ (79) Selle plädiert für ein Alternativmodell: Er will „frühe, öffentliche und ergebnisoffene Diskussionen“ (81) und im Sinne des Schlichters Heiner Geißler eine Verstärkung der unmittelbaren Demokratie. Das deliberative Modell EDD (Engage-Deliberate-Decide) sei ein guter Ansatz, um auch große Projekt vernünftig und fair zu erörtern. Dabei bedürfe es „nicht eines grundlegenden Systemwechsels von der repräsentativen zur unmittelbaren Demokratie“. (82) Es gebe eine Fülle von Instrumenten, die sich stärken und erweitern ließen. „Mehr Öffentlichkeitsbeteiligung wagen!“ verlangen Anton Hofreiter und Rüdiger Herzog folgerichtig, wenn sie „zutaten für einen modernen Planungsprozess“ (84) präsentieren. Dass der profilierte Philosoph Felix Ekart „Grenzen der Partizipation“ aufzeigt, ist sinnvoll, notwendig und schlüssig. Unter dem Titel „Ökosteuer schlägt Volksabstimmung“ (89) geht er sogar soweit, die direkte Beteiligung als echte Option in der Umweltpolitik nur als Ergänzung zu einer strengeren Umweltpolitik zu akzeptieren. „Denn Gewohnheit, Eigennutzen und Kurzsichtigkeit prägen nicht nur die Bürger(innen), sondern auch die Politiker(innen).“ (92) Im Kern seien die Bürger nicht besser als die Politiker. Erschwert werde dies noch durch den zunehmenden „Trend zur Medien- und Stimmungsdemokratie“ (92), wobei die Medien „immer weniger an Sachthemen und abgewogener Berichterstattung interessiert“ (92) seien und sich stattdessen mehr für Konfrontationen und Homan-Touch-Stories begeisterten. Ekarts Fazit stellt bisherige Annahmen zu den Chancen der Partizipation provokativ auf den Kopf und hinterfragt sogar erweiterte Klageoptionen. Umweltsandards könnten dadurch in der Regel nicht verbessert werden. Die meisten Aktivitäten dieser Art seien in einem Fiasko geendet. „An einer inhaltlich strengeren Umweltpolitik führt deshalb kein (Partizipations-)Weg vorbei.“ (93) Auch Bettina Hennig stellt die „Frage nach dem Nutzen“ für die Nachhaltigkeit der Politik.  Thymian Bussemer widersteht der aktuellen Neigung, die digitale Web-Demokratie mit Ja-Nein-Buttons zur Lösung aller Probleme zu machen. Er plädiert stattdessen „Wider die binäre Ja/Nein-Demokratie“ (101) und begründet dies auch schlüssig. Er wehrt sich gegen eine „Privatisierung der Demokratie“ (102), wie sie der Mainzer Rechtsphilosoph Uwe Volkmann treffend beschrieben hat und kritisiert wie Selle und andere Autoren kaschierte Eigeninteressen“ Wortadel nutzt Protest für eigene Zwecke“ (102) schreibt Bussemer. Er setzt sich dafür ein, die „Demokratie wieder schätzen [zu] lernen“ (105) und kommt zum Fazit: „Die Demokratie revitalisiert sich nicht durch di Selbstabdankung der Politik und die Machtrückgabe an die Wähler“. (104) Den Abschluss der Beiträge bildet ein Interview mit dem Prtizipationsforscher Roland Roth zur Zukunft der Demokratie unter dem Motto: „Die Erfahrung realer Ohnmacht muss nicht unbedingt progressive Folgen haben.“ (108) Kapitel 4 „Impulse“ Hier finden sich Kurzbeiträge mit Impulsen und Ideen zur Bürgerbeteiligung vom Bürgerpanel bis zum Bioenergiedorf.   Diskussion und Fazit Ein ausgesprochen erfrischendes, gut zu lesendes Sachbuch/Handbuch/Traktat mit erfreulich offenen Worten von Theoretikern und Praktikern – sehr lesenswert, sehr gut zu verstehen, aber nicht immer kompatibel zur herrschenden Meinung: für Quer- und Mitdenker eben.   Armin König  

Politbuch 2/2014

 

Vorwort

Wer bestimmt, wie wir künftig leben werden, leben sollen? Einige wenige Weltkonzerne, die gigantische „Sirenenserver“ (Jaron Lanier) betreiben? Geben Menschen oder Maschinen den Ton an? Werden Algoritmen die Herrscher der Welt? Welche Folgen hat die Gratiskultur für die Existenz der Mittelschicht? Wird sie von Schmarotzern, die für Leistungen nicht zahlen wollen, hinweggefegt? Wer soll dann noch Träger der Demokratie sein? Zerstört ein egomanischer Kapitalismus (Frank Schirrmacher) die Lebensgrundlagen der Gesellschaft, des Planeten? Es sind fundamentale Fragen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die Frank Schirrmacher und Jaron Lanier in visionären Sachbüchern gestellt haben. In einem Nachruf erinnern wir an das Vermächtnis des plötzlich gestorbenen FAZ-herausgebers, der die Kulturdebatten der Republik wie kein Zweiter beeinflusst hat. Er hat den kalten Zahlenwahn der Wallstreet-Trader und der Wirtschaftswissenschaftler gegeißelt, hat vor den Allmachtsphantasien der Suchmaschinenbetreiber gewarnt und uns ins Stammbuch geschrieben, „Stopp“ zu sagen und nicht mehr länger der Ökonomisierung des Alltags zu huldigen. Denn die Pathologien des Kapitalismus zerstören alles, was wir an kulturellen und sozialen Errungenschaften unserer westlichen Zivilisation schätzen.  Schirrmacher mahnt: „Maschinen haben die Macht, gesellschaftliche Normen zu produzieren, ohne sie kommunizieren und ohne sie begründen zu müssen. Sie können, wie die Technikgeschichte gezeigt hat, wirksamer sein als gesetzgebende Apparate.“ Wir können das ernst nehmen oder nicht, das liegt bei uns. Schirrmacher kann nicht mehr mahnen. Der allzu früh gestorbene Mahner, der „Druide des 21. Jahrhunderts“, bietet uns aber auch einen Ausweg an: Nach Lage der Dinge kann er nur darin bestehen, die Ökonomisierung unseres Lebens zu stoppen und nicht mehr mitzuspielen. Die „Manipulation der Seele durch eine Art digitale Alchemie“ können nur wir als Konsumenten stoppen. Einen Bruder im Geiste hat Schirrmacher in Jaron Lanier, dem vom digitalen Glauben abgefallenen Internetpionier aus dem Silicon Valley, der 2014 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. Laron ist Informatiker, Netzbejaher, Internetversteher, Google-Kritiker, Autor, Totalitarismusgegner. Er gibt dem Menschen den Platz in der Informationsgesellschaft zurück, den er mittlerweile an Automaten und Algoritmen verloren hat. Das ist keine geringe Leistung für einen Internet-Pionier. Er geißelt eine parasitäre Gratis-Gesellschaft, die gnadenlos der Erbe ausbeutet, das die Vorjahren über Jahrzehnte und Jahrhunderte aufgebaut haben. Und die Politik versage genau dann, wenn wir sie am meisten benötigen. Doch die Alternative ist noch schlimmer. Nie zuvor hat ein Internet-Pionier so scharf vor seiner eigenen Branche gewarnt: „Die Vorstellung, dass die Technologie die Welt retten wird, wenn Wirtschaft und Politik versagen, ist mehr als nur dumm. Technologien können nicht auf sich allein gestellt funktionieren.“ (375) Sie brauchen den Menschen.  Denn: „Die Technologie gibt den Menschen nur die Mittel und Möglichkeiten. Die Verhältnisse müssen stimmen, damit die Technologie etwas Positives bewirken kann.“ (375) Die Verhältnisse stimmen aber nicht. Und deshalb warnt der 1960 in New York geborene Informatiker Unternehmer und Musiker, der den Begriff der „Virtuellen Realität“ erfunden hat, in drastischer Manier vor den Folgen einer Entwicklung, in der wir nicht die Kunden, sondern die ausgebeuteten Produkte der Internet-Konzerne sind. Deshalb ist es gut, richtig und wichtig, dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ein Zeichen gesetzt hat und den Friedenspreis 2014 an Lanier verleiht. In der Begründung des Börsenvereins heißt es: „Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2014 an Jaron Lanier und ehrt mit dem amerikanischen Informatiker, Musiker und Schriftsteller einen Pionier der digitalen Welt, der erkannt hat, welche Risiken diese für die freie Lebensgestaltung eines jeden Menschen birgt. Eindringlich weist Jaron Lanier auf die Gefahren hin, die unserer offenen Gesellschaft drohen, wenn ihr die Macht der Gestaltung entzogen wird und wenn Menschen, trotz eines Gewinns an Vielfalt und Freiheit, auf digitale Kategorien reduziert werden. Sein jüngstes Werk „Wem gehört die Zukunft“ wird somit zu einem Appell, wachsam gegenüber Unfreiheit, Missbrauch und Überwachung zu sein und der digitalen Welt Strukturen vorzugeben, die die Rechte des Individuums beachten und die demokratische Teilhabe aller fördern. Mit der Forderung, dem schöpferischen Beitrag des Einzelnen im Internet einen nachhaltigen und ökonomischen Wert zu sichern, setzt Jaron Lanier sich für das Bewahren der humanen Werte ein, die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens, auch in der digitalen Welt, sind.“             Illingen 2014 Armin König                   Schirrmachers Vermächtnis Niemand hätte erwartet, dass „Ego“ Frank Schirrmachers Vermächtnis sei. Dass er im Alter von 54 Jahren aus dem Leben gerissen wurde, hat Freunde, Bewunderer und Gegner völlig überrascht. Mit seinem Tod hat niemand gerechnet. Für Alter Ego Schirrmacher war das „Spiel des Lebens“ viel zu kurz. Schirrmacher, dieser brillante Schreiber, dieser weitsichtige Intellektuelle mit dem Gespür für Themen der Zeit, der polarisiert hat wie kein anderer Publizist unserer Zeit, hat mit „Ego“ ein Buch hinterlassen, mit dem er gegen die Diktatur des homo oeconomicus wetterte. Und er wurde ernst genommen, weil er als Herausgeber der FAZ gerade das Leitmedium des ökonomisch durchrationalisierten Menschen repräsentierte. Dass er damit vielen Kritikern des Kapitalismus aus der Seele sprach, versteht sich von selbst. Nimmt man Schirrmachers „Ego“ jetzt – nach dem plötzlichen Tod des Autors und angesichts des Kriegs in der Ukraine und des gestörten europäisch-russischen Verhältnisses, aber auch angesichts der heftigen Debatte um TTIP – erneut zur Hand, wird man an der einen oder anderen Stelle zusammenzucken. Schirrmacher legt Mechanismen offen, die auch hilfreich bei der Erklärung aktueller politischer Phänomene sind. „Wer heute über den Lebensstil und den astronomischen Zahlenwahn der Wall-Street-Physik den Kopf schüttelt, die Männlichkeitsrituale, die Brunftschreie, anhand deren man registrieren kann, dass Trader ihr ‚Killing‘ gemacht haben, wer in den später bekannt gewordenen E-Mails von Investmentbanken liest, wie man dort unter Umständen ganze Volkswirtschaften über die Klinge springen ließ, der konnte diese Verhaltensweisen für Pathologien des ‚Tiers im Manne‘ halten: So ist er der Mensch, wenn er ganz bei sich selbst ist. Das Gegenteil aber ist der Fall. Es sind exakt die Verhaltensweisen, die in den Fünfzigerjahren  – vor allem unter amerikanischen Physikern, Militärs und Ökonomen – synthetisch produziert worden sind.“ (Schirrmacher 2013: 79) Erstaunlich, diese fundamentale Kultur-, Wirtschafts- und Gesellschaftskritik ausgerechnet in Büchern des einstigen Feuilletonchefs und späteren FAZ-Herausgebers zu lesen. Zahlenwahn, Männlichkeitsrituale an der Börse, Brunftschreie der Gordon Geckos, Killing Trader, Wall-Street-Physik – das klingt schon hammerhart nach Macho-Produktion und inszenierter Männlichkeit in einem eiskalten Spiel, bei dem Milliarden bewegt und vor allem Macht ausgeübt wird. Das sind Produkte einer amerikanischen „Spieltheorie“, mit der die Gegner um jeden Preis in Schach gehalten wurden. Sie spielen noch immer eine fundamentale Rolle im Krieg der Top Dogs (Urs Widmer). Urs Widmer lässt in „Top Dogs“ den Manager Urs Biehler die Philosophie der Wirtschaftskrieger  erklären: „Im Krieg brauche ich andere Männer als im Frieden. Heute brauche ich Generäle, die als allererste in den Dschungel gehen. Die draufhalten können. Heute gibt es echte Tote! Sie müssen mit dem Flammenwerfer in die Konkurrenz rein und die ausräuchern. Sonst sind SIE dran. Churchill war im Frieden eine Niete. Aber im Krieg war er ein As. Heute sind wieder die Churchills gefragt.“ (Widmer 21) Natürlich kennt Schirrmacher „seinen“ Urs Widmer. Er hat dessen Bücher und Herausgeberschaften rezensiert und kommentiert. Und er hat die Gesetzmäßigkeiten des Marktes und der angewandten Spieltheorie studiert. An dieser Stelle ist er ganz nah bei Widmers Top Dogs. „Es ging im Kalten Krieg um das Leben von Menschen, aber da der Atomkrieg nie ausbrach, entwickelte sich in den egoistischen Logiken, wie Paul Edwards mit einer Fülle von Beispielen belegt, schon in den damaligen Thinktanks der gleiche Größenwahn für Zahlen und die gleiche Ungewöhnlichkeit des Verhaltens.“ (Schirrmacher, 79) Die großen Zahlen sind das Eine, das Siegen-Wollen  das Zweite. Es geht aber um mehr. Schirrmacher beschreibt es an Hand der Automaten des Viktorianischen Zeitalters, die er in Beziehung zur heutigen Automatisierung setzt: „Kombinieren, entschlüsseln, enttarnen, überführen und vollständig die Perspektive des anderen durch Beobachtung einnehmen – sobald der Mensch auch nur in die Nähe digitaler Technologien kommt, will er offenbar sofort in die Köpfe der anderen Menschen eindringen, sei es durch Detektive oder Algoritmen“.   Und schon sind wir bei Google und Facebook. „Bei allen Menschen entdeckt man dann Türen, die in ihr Inneres führen, oder gläserne Schädeldecken wie die Automaten des großen Spielzeugautomatenerfinders Vaucanson.“ (Schirrmacher 134) Ist das nicht der eigentliche Sinn von Google, Facebook und Co, Menschen zu entschlüsseln und in ihre Köpfe einzudringen, um sie so zu manipulieren und zu beherrschen? Jaron Lanier hat dies in seiner scharfsichtigen Analyse „Wem gehört die Zukunft?“ prägnant dargestellt. Man soll deshalb auch die Mahnungen Schirrmachers ernst nehmen, denn sie sind keineswegs abwegig: „Maschinen haben die Macht, gesellschaftliche Normen zu produzieren, ohne sie kommunizieren und ohne sie begründen zu müssen. Sie können, wie die Technikgeschichte gezeigt hat, wirksamer sein als gesetzgebende Apparate.“ (127) Das ist die Optimierung von Max Webers Bureaucratie-Modell mit Hilfe der Macht maschinell wirksamer Algoritmen. Aber selbst dieses System lässt sich noch optimieren. Dabei geht es laut Schirrmacher „nicht um Ressourcen, Bodenschätze, Produkte, sondern nur um eines: um die alchemistische Umwandlung der Seele in jeden nur wünschbaren Stoff.“ (211). Google hat dies perfektioniert, und die Menschen huldigen die Suchmaschine täglich milliardenfach. Dabei geht es „nicht mehr um die Manipulation der Dinge durch Wissenschaft, sondern um die Manipulation der Seele durch eine Art digitale Alchemie“ (Schirrmacher 211). Wer entdeckt solche Gesetzmäßigkeiten? Wie kommt er darauf? Durch Kombination? Durch Intuition? Frank Schirrmacher konnte sich auf Intuition und Kombination verlassen. Er war ein Magier, ein Alchimist, ein Druide des 21. Jahrhunderts. Und er hat Entwicklungen beschrieben, die kein Anderer so beschrieben hat. Er bietet uns aber auch den Ausweg an: „Nach Lage der Dinge kann er nur darin bestehen, die Ökonomisierung unseres Lebens von einem mittlerweile fest in die Systeme verdrahteten Mechanismus des egoistischen und unaufrichtigen Menschenbildes zu trennen.“ (286) In Deutschland wäre die Reaktion sogar „ganz einfach: nicht mitspielen. Jedenfalls nicht nach den Regeln, die Nummer 2 uns aufzwingt. Es ist eine Entscheidung, die nur der Einzelne treffen kann – und die Politik. Die Chancen in Deutschland stehen gut, weil es die Realwirtschaft ist, die immer noch der Motor seines Wohlstands ist.“ (287) Zu den von Schirrmacher vorgeschlagenen pragmatischen Schritten gehören der Aufbau europäischer Suchmaschinen ebenso wie „eine Neudefinition und Umbenennung von Datenschutz‘“. (287) Und schließlich ist es ja nicht verboten, selbst zu denken. Die „Manipulation der Seele durch eine Art digitale Alchemie“ können nur wir als Konsumenten stoppen. Schirrmacher würde es gefallen, wenn wir alle zu Selbst- und Freidenkern würden.   Besprochenes Buch: Frank Schirrmacher (2013): Ego. Das Spiel des Lebens. München: Karl Blessing Verlag.   Ergänzende Literatur Urs Widmer: Top Dogs.   Armin König  

Die Zukunft gehört den digitalen Ausbeutern – oder?

Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft Eigentlich hat es etwas Tröstliches, wenn Jaron Lanier schreibt: „Empörung allein reicht nicht“. Und noch besser klingt es, wenn er erklärt: „Die Stärkung der Mittelschicht ist im Interesse aller“. Denn das ist ja so selbstverständlich nicht mehr, seit Stéphane Hessel sein millionenfach verkauftes „Empört euch!“ unter die gealterte Mittelschicht brachte. Manchmal hatte man schon den Eindruck, dass die (aus dem Mittelstand kommenden) Helden des politischen Establishments und der Wirtschaft Entscheidungen nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“ trafen. Jetzt sind wir immerhin gebrieft und wissen, was wir tun. „Vielleicht ist die Art, wie wir uns empören, Teil des Problems“, unkt Jaron Lanier. Immerhin liefert er gegen die schmutzigen Bilder der Aktualität die Blaupause einer humanistischen Alternative. Er sagt aber gleich : „Das kann man nicht twittern“. „Wem gehört die Zukunft“ ist eines der wichtigsten internetkritischen Bücher der letzten Monate. Dabei ist Lanier selbst ein Digital-Aktivist. „Bereits als Teenager in den siebziger Jahren wurde ich zum digitalen Idealisten“, bekennt Lanier im Vorwort seines fundamentalen Buches. Aber er hat gelernt, dass mit der „intensiven und scheinbar unbegrenzten Konzentration von Macht“ im digitalen Zeitalter die alten Grundlagen wegbrechen. Für Lanier ist „die Idee des freien Informationsaustauschs gescheitert“. Schuld daran sind „die ultra-einflussreichen Computer“, die „Sirenenserver“.   Formal besteht Laniers Buch aus neun Teilen mit 32 Kapiteln, acht Zwischenspielen, einem Vorwort, einem Ausklang und einem Nachwort. Wer sich auf dieses sperrige und schwierige Werk einlässt, muss sich durch 472 Seiten arbeiten. Aber es lohnt sich.  

Die Umsonstgesellschaft gräbt sich ihr eigenes Grab

Manches klingt abgefahren, schräg, unwahrscheinlich. Lanier gönnt sich Ausflüge in die Zukunft, entwirft Visionen und Horrorszenarien von Massenarbeitslosigkeit der Mittelschicht in einer Umsonstgesellschaft, die sich ihr eigenes Grab gräbt, von Firmen, die Chemikalien per Chip synthetisieren  und die klassischen Labors überflüssig machen, von „imaginiären Landschaften in den Wolken“, vom „Lindheit und Apokalypse“. Man müsse die „Gewinner vor sich selbst schützen“, meint Lanier. „Selbst die erfolgreichsten Beteiligten untergraben des Fundament ihres eigenen Reichtums. Kapitalismus funktioniert nur, wenn es genügend erfolgreiche Menschen gibt, die als Verbraucher fungieren.“ Und damit hat Lanier Recht.  

Ein langhaariger Freak und Friedenspreisträger

Wer ist überhaupt dieser Jaron Lanier? „Dissident seiner selbst“ und „Wortführer der Humanismus“ schrieb die ZEIT. Laron ist Informatiker, Netzbejaher, Internetversteher, Google-Kritiker, Autor, Totalitarismusgegner. In der Pressemeldung zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels schreibt der Börsenverein: „Jaron Lanier gehört als einer der Pioniere in der Entwicklung des Internets zu den wichtigsten Konstrukteuren der digitalen Welt. Er gilt als der Vater des Begriffs der „virtuellen Realität“ und war selbst als Unternehmer und leitender Forscher an zahlreichen Entwicklungen beteiligt. Heute betreut er als führender Wissenschaftler ein Projekt mehrerer Universitäten zur Erforschung des „Internets 2“ und arbeitet als Forscher für Microsoft Research. Seine bemerkenswerte Lebensgeschichte und seine innovativen Entwicklungen und Einsichten haben Jaron Lanier den Ruf eines Visionärs eingebracht, manche Medien bezeichnen ihn auch als einen „Netzintellektuellen“. Kurz nach seiner Geburt am 3. Mai 1960 in New York City zogen Jaron Lanier und seine Familie in die Nähe von El Paso, Texas. Seine Mutter Lillian, Pianistin, Malerin und Tänzerin, war, nachdem sie den Holocaust überlebt hatte, als Fünfzehnjährige von Wien nach New York emigriert. Sein Vater Ellery, Sohn ukrainischer Juden, die vor den Pogromen geflüchtet waren, arbeitete als Architekt, Maler, Schriftsteller, Grundschullehrer und Radiomoderator. Laniers bewegte Kindheit, in der vor allem der frühe Tod der Mutter bei einem Autounfall, die Begeisterung für Musik, mehrere Umzüge und zahlreiche Gelegenheitsjob wichtige Stationen darstellten, führte ihn nach dem Abbruch der Schule und auf Anregung eines Nachbarn, dem Wissenschaftler Clyde Tombaugh (der 1930 den Planeten Pluto entdeckt hat), zur New Mexico State University, an der er als Vierzehnjähriger Mathematik- und Chemie-Seminare besuchte und so erste wichtige Einsichten in die Computertechnologie nehmen konnte. Mit siebzehn Jahren wechselte er kurz zum Bard College nach New York, anschließend – nach einem weiteren Aufenthalt in New Mexico – ging er nach Kalifornien, und entwickelte in Santa Cruz 1983 ein erstes Videospiel namens „Moondust“, was ihm eine Anstellung bei Atari einbrachte. Hier lernte er Tom Zimmerman kennen, der einen der ersten virtuellen Simulations-Handschuhe konstruiert hat. Sie gründeten gemeinsam mit anderen Freunden 1985 die Firma VPL Research mit dem Ziel, weitere Technologien für die virtuelle Welt zu entwickeln. In der nachfolgenden Zeit konstruierte er virtuelle Kameras, 3D-Grafiken für Kinofilme, den ersten Avatar, einen künstlichen Stellvertreter für eine reale Person in der virtuellen Welt, und trieb die Entwicklung von Internet-basierten Netzwerken voran. Die von ihm entwickelten Anwendungen für dreidimensionale Darstellungen in Web2-Programmen ermöglichen auch die Nutzung virtueller Räume für verschiedenste, beispielsweise auch medizinisch-chirurgische Bereiche. 1999 verkaufte er sein Unternehmen an Sun Microsystems und arbeitete seitdem hauptverantwortlich an zahlreichen Projekten mit. Der an verschiedenen Universitäten in den USA lehrende Informatiker hat sich darüber hinaus als Musiker, Komponist und bildender Künstler international einen Namen gemacht. Seinen ersten Klavierunterricht hatte er von seiner Mutter erhalten und sich später das Spielen weiterer Instrumente selbst beigebracht. Mit Hilfe seiner Sammlung von mehr als tausend seltenen alten Musikinstrumenten komponierte Jaron Lanier Musik für Konzerte, Ballettaufführungen sowie für die preisgekrönten Filme „Three Seasons“ (1999) und „The Third Wave“ (2009). Darüber hinaus spielte er mit Philip Glass, Yoko Ono, Sean Lennon, Ornette Coleman, George Clinton und zahlreichen weiteren Musikern aus den unterschiedlichsten Musikrichtungen. Seine Gemälde, Zeichnungen und Kunstinstallationen wurden in zahlreichen Museen und Galerien in den USA und Europa gezeigt. Die erste Einzelausstellung hatte er im Jahr 1997 im Museum für Moderne Kunst im dänischen Roskilde. Bei der Produktion des Science-Fiction-Films „Minority Report“ (2002) von Steven Spielberg arbeitete er an den virtuellen Bühnenbildern mit. Jaron Lanier gehörte zu jenen Erfindern des Internets, bei denen idealistische Vorstellungen wie die Demokratisierung von Bildung, eine transparente Politik sowie wissenschaftliche Innovationen genauso im Vordergrund standen wie die für die Menschen faszinierenden Errungenschaften, die die digitale Welt anbietet. Doch ungefähr seit der Jahrtausendwende setzt sich Lanier verstärkt mit der immer größer werdenden Diskrepanz zwischen Mensch und Maschine, Wirklichkeit und virtueller Realität sowie zwischen der finanziellen Nutzbarmachung für Internetnutzer und dem Missbrauch von Wissen und Daten auseinander. Hierfür waren auch die Äußerungen führender Neurowissenschaftler verantwortlich, dass das menschliche Gehirn nichts anderes sei als ein hochkomplexer Computer. Technologie, argumentierte Lanier dagegen, ist dafür da, das menschliche Leben zu verbessern und die Kommunikation zwischen Menschen zu fördern, nicht aber, um sie zu ersetzen.“ (http://www.boersenverein.de/445722/?aid=800948)

Die Menschen machen sich ärmer, als sie sein müssten

Schon der Einstieg ins Kapitel „Motivation“ ist knallig. Lanier beginnt mit der Feststellung, dass die Menschen einen hohen Preis dafür bezahlen werden, dass sie sich darauf eingelassen haben, „Informationen als kostenlos zu betrachten“ (29).  Die zu erwartenden Folgen seien verheerend. „Die Menschen machen sich ärmer, als sie sein müssten. Wir schaffen eine Situation, in der eine immer ausgereiftere Technologie langfristig eine immer höhere Arbeitslosigkeit und eine Zunahme der sozialen Missstände bedeutet.“ (31) Lanier, der keineswegs die Guru-rolle übernehmen will, befürchtet sogar politische und wirtschaftlich motivierte Unruhen. Das könne nicht die Perspektive des aufgeklärten Menschen im 21. Jahrhundert sein. Er zeichnet stattdessen eine Vision, „in der es immer mehr Menschen gutgeht, selbst wenn die Technologie voranschreitet wie bisher“. (31)  

Das Geschäftsmodell radikal verändern

Das verlange aber radikale Veränderungen des Geschäftsmodells und der Philosophie der Ökonomie. „Gängige digitale Konzepte behandeln Menschen nicht als etwas Besonderes.  Wir werden vielmehr als kleine Rädchen in einer gigantischen Informationsmaschine betrachtet. Dabei sind wir die einzigen Lieferanten der Informationen und gleichzeitig ihr Bestimmungsort, das heißt, wir geben der Maschinen  überhaupt erst ihren Sinn. Ich möchte eine alternative Zukunft aufzeigen, in der Menschen angemessen berücksichtigt und als etwas Besonderes betrachtet werden.“ (31) Er appelliert an die Leser, Abschied vom idealistischen Bild zu nehmen, in der die Gesellschaft dank kostenloser Informationen demokratischer wird. Nur eine Wirtschaft, in der wir „für Informationen bezahlen und auf diese Weise die Mittelschicht stärken“ (31) biete „eine realistische Aussicht auf eine beständige Demokratie und ein Leben in Würde.“ (31)  

Eine Revolution: Die Menschen für Informationen bezahlen

.     Armin König    

Vorwort

Europa ist ein schwieriges Pflaster für deutsche Kommunen. Das haben vor allem die Stadtwerke bei der Diskussion um die Dienstleistungsrichtlinie und um die Wasserrichtlinie erlebt. Aber auch Themen wie das Vergaberecht und das Arbeitsrecht sowie die Umweltinformationsrichtlinie sind von erheblicher Bedeutung für die deutschen Städte und Gemeinden. Während Brüssel und Straßburg über 80 Prozent der kommunalen Rechtsvorschriften beeinflussen, haben die Kommunen selbst in Brüssel kaum Einflussmöglichkeiten. Sonja Witte beschreibt in ihrer Dissertation „Einflussgrad der deutschen kommunalen Ebene auf die Politikgestaltung der EU“ Möglichkeiten des Lobbyings in Europa. Als Praktikerin kennt sie die Brüsseler Lobbyarbeit sehr gut. Sie studierte nach einer Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten Europäische Wirtschaft und Verwaltung sowie Europäische Studien in Bremen, Cork, Brüssel und Tübingen. Nach Abschluss ihres Studiums im Jahr 2007 ging sie für den Verband kommunaler Unternehmen e.V. (VKU) nach Brüssel und leitet seit 2009 das Europabüro des VKU. Sie legt in bemerkenswerter Offenheit Lobbystrukturen offen und zeigt auf, wie Chancen und Grenzen liegen. Würden die Kommunen ihre Interessen besser bündeln, hätten sie mehr Einflussmöglichkeiten. Außerdem bleibt die wichtigste Eingreifmacht immer noch die nationale Regierung. Es spielt also durchaus eine Rolle, welche deutschen Parteifarben im Ministerrat vertreten sind. Mit der Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung befasst sich ein praxisorientierter Sammelband von Barbara Remmert. Welche Entscheidungsspielräume bleiben den Frauen und Männern in den mehr als 10.000 Stadt- und Gemeinderäten in Deutschland, wenn immer mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagert werden, während die Folgen internationaler und nationaler Beschlüsse, Richtlinien und Gesetze lokal wirksam werden? Wie wirkt es sich auf die Motivation der Räte aus, wenn die Aufgaben immer komplexer und die Finanzausstattung immer schlechter wird? Welche Folgen haben demografischer Wandel und Migration, Energiewende und Digitalisierung? Elemente der direkten Demokratie sind ausgeweitet worden. Das hat die Macht urgewählter Bürgermeister und Landräte gestärkt und Gemeinderäte geschwächt. Welche Perspektiven gibt es für zukunftsorientierte Kommunalpolitik angesichts dieser rasanten Veränderungen? Das sind die wichtigsten Fragen, zu dem Wissenschaftler und Praktiker in kurzen Beiträgen Antworten liefern. Es waren Frank Schirrmacher („Das Methusalem-Komplott“) und der für seine drastischen Vergleiche bekannte und nicht unumstrittene Herwig Birg („Ster-ben die Deutschen aus?“), die den Blick auf das Mega-thema Demografischer Wandel gelenkt haben. Dabei spielt immer das Thema Fertilität eine Rolle: Warum bekommen die Deutschen so wenig Kinder. In der Vergangenheit ist viel spekuliert worden. Der Demografie-experte Martin Bujard arbeitet dagegen empirisch. Er hat die Familienpolitik in den OECD-Ländern untersucht und zu „Geburtenrückgang und Familienpolitik“ gearbeitet. Er weist nach, dass Familienpolitik einen, wenn auch begrenzten, Einfluss auf die Demografie hat. Bujard begründet die positiven Signale einerseits mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, andererseits mit statistischen Effekten. Zu Recht verweist er darauf, dass gerade demographische Prognosen immense Unsicherheiten bergen. Mag die neue Bedeutung der Familienpolitik für die demographische Entwicklung auch positiv eingeschätzt werden, so bleibt die negative Wirkungskraft von wirtschaftlichen (Familieneinkommen) und soziokulturellen Aspekten (Kinderwunsch, Lebenseinstellungen). Auch die Einschränkungen der familienpolitischen Entwicklungsmöglichkeiten durch die Finanz- und Schuldenkrise in Europa wird realistisch eingeschätzt.     Illingen 2014 Armin König  

Deutsche Kommunen und ihre Lobbyarbeit in Europa

Sonja Witte: Einflussgrad der deutschen kommunalen Ebene auf die Politikgestaltung der EU.   Die weit reichenden Auswirkungen europäischer Entscheidungen für die deutschen Kommunen sind unbestritten. Wenn die deutschen Städte und Gemeinden ihre Interessen wahren wollen, müssen sie auf europäischer Ebene überzeugender als bisher auftreten und wirksamere Lobbyarbeit betreiben. Sonja Witte stellt in ihrer Dissertation die Frage nach dem „Einflussgrad der deutschen kommunalen Ebene auf die Politikgestaltung der EU“. Gerade jetzt, angesichts des Erstarkens der Europa-Skeptiker, ist das Thema topaktuell. Kommunen haben das verfassungsmäßige Recht, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.“ So jedenfalls sieht es Art. 28, 2 des Grundgesetzes vor. De facto ist die Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen längst ausgehöhlt. Waren es jahrzehntelang vor allem der Bund und die Länder, die Aufgaben übertragen, Lasten abgewälzt oder kommunale Entscheidungsmöglichkeiten beschnitten haben, ist es inzwischen vor allem die europäische Ebene. Brüssel hat immer mehr Kompetenzen an sich gezogen und Entscheidungen getroffen, die in den Alltag der Menschen und die Selbstverwaltung der Kommunen eingreifen. Es gibt kaum einen Politikbereich, der nicht nur europarechtliche Vorgaben bestimmt ist. Fakt ist allerdings auch, dass dies oft zum Vorteil der deutschen Bürger und Verbraucher war. Das Informationsfreiheitsrecht beispielsweise wäre ohne Europa in Deutschland nicht durchgesetzt worden. Es waren die Umweltinformationsrichtlinie 90/313/EWG und die Aarhus-Konvention, die in Deutschland die allmähliche Abkehr vom Amtsgeheimnis und den neuen Grundsatz der Transparenz und des Informationszugangs zu Akten und Daten ermöglicht haben. Es wäre also völlig falsch, den Brüsseler Einfluss grundsätzlich negativ zu sehen. Wichtig ist aber, dass Funktion, Bedeutung und Ausmaß der europäischen Rechtsetzungsmöglichkeiten erkannt und die Partizipationsmöglichkeiten genutzt werden. Dort setzt Sonja Witte mit ihrer fundierten Studie an. Sie fragt, welche Lobby-Chancen die Städte und Gemeinden haben, wenn sie Einfluss auf die Politikgestaltung der EU nehmen wollen. Als Praktikerin kennt sie die Brüsseler Lobbyarbeit sehr gut. Sie studierte nach einer Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten Europäische Wirtschaft und Verwaltung sowie Europäische Studien in Bremen, Cork, Brüssel und Tübingen. Nach Abschluss ihres Studiums im Jahr 2007 ging sie für den Verband kommunaler Unternehmen e.V. (VKU) nach Brüssel und leitet seit 2009 das Europabüro des VKU. Während dieser Zeit widmete sie sich auch in wissenschaftlicher Hinsicht der Frage nach den Einflussnahmemöglichkeiten auf die Politikgestaltung der EU. Entstanden ist eine fundierte Dissertation. Dabei profitiert Witte von ihren Erfahrungen aus dem Bereich der Wasserwirtschaft, die in der europäischen Liberalisierungspolitik lange im Fokus stand und für heftige Debatten sorgte. Europa spielt für die kommunalen Ver- und Entsorgungsunternehmen seit der Jahrtausendwende eine geradezu existenzielle Rolle. Gerade in der Wasserwirtschaft gab es heftige Diskussionen über Privatisierungen, Daseinsvorsorge und Public Value. Anders als bei anderen Themen haben es die kommunalen Versorger dank Bürgerpetitionen erreicht, dass die Kommission ihre Pläne modifizierte. Das ist ein Musterbeispiel dafür, dass kommunale Lobbyarbeit in Brüssel Erfolg haben kann. Zu seinem Selbstverständnis schreibt der VKU auf seiner Webseite: „Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) ist die Interessenvertretung der kommunalen Versorgungs- und Entsorgungswirtschaft in Deutschland. Sitz des 1949 gegründeten Verbandes ist Berlin. Im Juni 2011 hat der VKU ein neues Verbandsgebäude im politischen Zentrum der Hauptstadt bezogen. Auch in Brüssel ist der Verband mit einem Büro vertreten, auf Ebene der Bundesländer mit Landesgeschäftsstellen. Die im VKU organisierten 1.420 Mitgliedsunternehmen sind vor allem in der Energieversorgung, der Wasser- und Abwasserwirtschaft sowie der Abfallwirtschaft und Stadtreinigung tätig. Mit 250.000 Beschäftigten haben sie 2012 Umsatzerlöse von rund 105 Milliarden Euro erwirtschaftet und etwa zehn Milliarden Euro investiert. Die Mitgliedsunternehmen haben im Endkundensegment einen Marktanteil von 46 Prozent in der Strom-, 62 Prozent in der Erdgas-, 80 Prozent in der Trinkwasser-, 63 Prozent in der Wärmeversorgung und 24 Prozent in der Abwasserentsorgung. Der VKU bündelt ihre Interessen und beteiligt sich aktiv in der politischen Willensbildung und der Gesetzgebung. Er ist Vordenker der kommunalen Wirtschaft und unterstützt seine Mitglieder mit einem umfangreichen Dienstleistungsangebot.“ Diese Erfahrungen fließen natürlich in Wittes Dissertation ein und machen sie auch für eher Praxisinteressierte lesenswert.  

Akteurzentrierter Institutionalismus

Im einleitenden Kapitel A werden die Leitfragen, die theoretischen Zugangswege, die Methodik und das Forschungsdesign beschrieben. Ansatz ist der Akteurzentrierte Institutionalismus nach Fritz Scharpff. Für Scharpff und Renate Mayntz werden „Institutionen nicht einfach als Ergebnis evolutionärer Entwicklung interpretiert und als gegeben genommen, sondern sie können ihrerseits absichtsvoll gestaltet und durch das Handeln angebbarer Akteure verändert werden.“ (mayntz/Scharpff 1995: 45) Das bedeutet für den Bereich der Studie, dass auch die europäischen Institutionen mit all ihrer Komplexität nicht einfach nur gottgegeben hingenommen werden können, sondern dass sie beeinflusst werden können, wenn auch nur in sehr begrenztem Maße. Damit nutzt Witte ein zeitgemäßes theoretisches Konstrukt für ihre Untersuchung. Jan Grasnick hat treffend beschrieben, wie „institutionell geformte Praktiken und Regeln“ (Grasnick 2007: 15) gerade in der Europäischen Union auf Akteure, Institutionen, Staaten und Regionen wirken. Institutionen haben mächtigen Einfluss. Sie bestimmen die Verteilung von Ressourcen zwischen Akteuren, bestimmen das Ausmaß der durch die Europäisierung bedingten Umverteilung von Ressourcen auf der innerstaatlichen Ebene und beeinflussen, welche Anpassungsstrategien innerstaatliche Akteure wählen, um auf die aus der Inkompatibilität zwischen europäischen und innerstaatlichen Institutionen resultierende Ressourcenumverteilung zu reagieren.“ (Grasnick 15). Das macht auch Sinn, denn ganz fest gefügt sind die europäischen Institutionen nicht, im Gegenteil. Das kann auch Vorteile bringen. „Der Integrationsprozess der EU verursacht eine gewisse parallele Institutionalisierung, d.h. die neu entstehenden europäischen Bezugsräume verdrängen nicht die alten, wodurch sich den handelnden Akteuren neue Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen.“ Ob dies im Fall der deutschen Kommunen und ihrer Interessenvertretung im Bereich der Wasserwirtschaft so realisierbar war, lässt sich bei Sonja Witte nachprüfen.    

Bündnisse, Koalitionen, Clubs

Kapitel B in Wittes Studie beschreibt souverän die externen und internen Voraussetzungen für den Einflussgrad der deutschen kommunalen Ebene. Erläutert wird das traditionelle deutsche Kommunalmodell mit der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie. Problematisiert wird die „Europafestigkeit des deutschen Selbstverwaltungsrechts“ (120ff.). Außerdem wird die Stellung der kommunalen Gebietskörperschaften als korporative Akteure referiert. Die Autorin kann dank ihrer hervorragenden Kenntnis der Institutionen die Funktionen der Spitzenverbände vom direkten Europaengagement der Städte abgrenzen und referiert, welche Bündnisse und Koalitionen mit kommunalen Schwesterverbänden und Clubs wie dem Ausschuss der Regionen oder dem Rat der Gemeinden und Regionen Europas geschlossen werden können. Kursorisch beschreibt die Autorin in Kapitel C die institutionellen Voraussetzungen der EU mit Kommission, Parlament, Rat und Gerichtshof. Daraus leitet sie die These ab, dass „die deutsche kommunale Ebene ihr spezielles nationales Interesse als unverzichtbaren Teil des gesamteuropäischen Interesses vermitteln“ (212) muss, um „die Sicherung der kommunalen Selbstverwaltung und die Absicherung der lokalen Handlungsspielräume zu gewährleisten.“ (212) Dass sich dies auch empirisch belegen lässt, zeigen die Fallstudien zu „Möglichkeiten und Grenzen der deutschen kommunalen Ebene im europäischen Lobbyismus“ (213 ff.). Am Beispiel der EG-Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr und der EU-Vergaberichtlinien (insbesondere mit den heiß diskutierten Aussagen zu Dienstleistungskonzessionen im Bereich der kommunalen Wasserversorgung) belegt Witte die Lobbyarbeit der deutschen kommunalen Ebene. Am Ende umfangreicher Verhandlungen wurde „beide Male Abstand vom Vorschlag der Kommission genommen, die öffentliche Hand wesentlich strenger zu behandeln“ (213) als die Privatwirtschaft. Auf rund 150 Seiten gibt die Praktikerin detaillierten Einblick in kommunale Lobbyarbeit auf europäischer Ebene. Außerdem hat sie grafisch anschaulich dargestellt, wie und wo die kommunalen Wirtschaftsverbände in Brüssel „Klinken geputzt“ haben. Diese Dokumentation der Lobbyarbeit ist mustergültig und sehr erhellend. Witte stellt fest, „dass es der deutschen kommunalen Ebene nicht gelungen ist, ihr erstes Ziel zu erreichen, nämlich eine gesetzliche Regelung hu den Dienstleistungskonzessionen zu verhindern.“ (365) Sie beschreibt auch die negativen Seiten der Lobbyarbeit, die schon auf nationaler Ebene bei der schwarz-gelben Bundesregierung auf Widerstand stieß. Die Autorin bewertet das lobbyistische Verhalten der Spitzenverbände 2011 als kontraproduktiv. Insbesondere das FDP-geführte Wirtschafsministerium zeigte sich misstrauisch gegenüber den Kommunen und plädierte im Sinne der EU-Kommission für eine Öffnung des Wassermarktes und eine gesetzliche Regelung über eine Richtlinie. Lediglich der Bundesrat unterstützte die Kommunen. Immerhin gelang es den Kommunen, dass ihnen die EU die Entscheidung überlassen hat, „wie sie das Verfahren an sich und die Vergabekriterien ausgestalten, solange diese nur von Anfang an transparent gemacht werden sowie objektiv begründbar und nicht diskriminierend sind.“ (368) Allerdings nutzen die Kommunen diese Freiheit nach Ansicht der Autorin nicht. Das Ergebnis ist für die Kommunen wenig zwiespältig: Sie können durchaus Einzelerfolge vorweisen. Lobbyarbeit ist aber auf europäischer Ebene für die Kommunen extrem schwierig. Die Kommission sei zwar zu Gesprächen bereit, komme als „Hüterin der Verträge“ (376) und Verfechterin eines offenen, funktionierenden Binnenmarktes aber immer wieder den gleichen Schlüssen. Im Europäischen Parlament gebe es neben Gesprächen und Diskussionen auch Feedback. Allerdings sei das Parlament weniger stringent in seiner Beschlussfassung als die Kommission. Als größtes Problem erwies sich der Ministerrat als „das intransparenteste und gleichzeitig am wenigsten lobbyierte Organ der drei gesetzgebenden Institutionen“ (378). Erschwert wird die Arbeit der kommunalen Verbände durch die „Vielzahl an Akteuren auf europäischer Ebene und gleichzeitig einer Vielzahl an zeitgleich stattfindenden Politikarenen“ (379). Auch die Konkurrenz ist aktiv, Lobbyismus bleibt eine „Black Box“ (380) mit vielen Informationsasymmetrien. Entscheidend für den Erfolg ist letztlich, so das Ergebnis der Studie, ob es der deutschen kommunalen Ebene „gelingt, ihr spezielles nationales Interesse (Erhaltung und Absicherung der kommunalen Selbstverwaltung und der lokalen Handlungsspielräume) in den gesamteuropäischen Zusammenhang einzubetten und als einen wichtigen Bestandteil des umfassenden europäischen Interesses zu vermittelt, oder zumindest glaubhaft zu machen, dass das spezifische nationale Interesse dem gesamteuropäischen Interesse nicht entgegen steht.“ (389) Die wichtigsten Empfehlungen: „Gezieltes Lobbying der Europäischen Kommission“ (406), ein frühes Lobbying des Parlaments, „Druckausübung auf den Ministerrat“ (407) sowie der „Versuch der Verflechtung des gesamteuropäischen Interesses mit dem Eigeninteresse“ (407). Außerdem müsse die Dachverbandsarbeit neu aufgestellt werden: mehr Koalitionen und Kooperationen sowie ressourceneffizienteres Arbeiten seien notwendig.  

Grenzen der Lobbyarbeit

Die weit reichenden Auswirkungen europäischer Entscheidungen für die Kommunen sind unbestritten. Wenn sie ihre Interessen wahren wollen, müssen sie ihre Interessen auf europäischer Ebene überzeugend vertreten. Da überrascht es, dass die Möglichkeiten des Lobbyismus auf europäischer Ebene bisher nicht umfangreicher untersucht sind. Zwar sind die Möglichkeiten des Lobbyings durch kommunale Verbände beschränkt. Durch geschicktes Agieren ergeben sich aber Chancen, Initiativen des Kommission oder des Rates in begrenztem Umfang zu verändern. Natürlich spielen auch die nationalen politischen Konstellationen eine Rolle. Wenn Berlin und Brüssel über Bande spielen, haben Kommunen mit der Vertretung ihrer Interessen wenig Chancen. Gerade in Zeiten, in denen die FDP mitregiert hat, waren solche Verbindungen zwischen Kommission, Rat und nationalen Ministerien zu beobachten. Die Autorin hat sehr schlüssig die Grenzen der Lobbyarbeit deutlich gemacht, hat aber auch sehr offen Einflussmöglichkeiten praktischer Art dargelegt. Das ist ein großes Verdienst.  

Fazit

Eine verdienstvolle Studie, die in bemerkenswert offener Art Lobbystrukturen und -prozesse beschreibt und dabei sowohl die deutsche kommunale Ebene als auch die Brüsseler Instanzen mit Hilfe des Akteurzentrierten Institutionalismus an Hand von Fallbeispielen und Experteninterviews unter die Lupe nimmt. So können aussagekräftige Hinweise für die künftige Interessenvertretung der Kommunen in Brüssel gegeben werden.   Besprochenes Buch: Sonja Witte (2013): Einflussgrad der deutschen kommunalen Ebene auf die Politikgestaltung der EU. Peter Lang Verlag (Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien) 2013. 483 Seiten. ISBN 978-3-631-62841-6   Ergänzende Literatur Jan Grasnick (2007): Regionales Regieren in der Europäischen Union: Bayern, Bayern, Rhône-Alpes und Oberösterreich im Vergleich. Wiesbaden: Springer. Renate Mayntz / Fritz Scharpff (1995): Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus. In: Mayntz/Scharpff (1995): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung. Frankfurt/M.: Campus.     Armin König          

Städte und Gemeinden in einer globalisierten Welt

Barbara Remmert et al.: Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung Haben Kommunen im Zeitalter der Globalisierung noch eine Chance, alle lokalen Angelegenheiten selbstverantwortlich zu regeln? Oder ist dies nur noch illusionär? Welche Entscheidungsspielräume bleiben den Frauen und Männern in den mehr als 10.000 Stadt- und Gemeinderäten in Deutschland, wenn immer mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagert werden, während die Folgen internationaler und nationaler Beschlüsse, Richtlinien und Gesetze lokal wirksam werden? Wie wirkt es sich auf die Motivation der Räte aus, wenn die Aufgaben immer komplexer und die Finanzausstattung immer schlechter wird? Welche Folgen haben demografischer Wandel und Migration, Energiewende und Digitalisierung? Elemente der direkten Demokratie sind ausgeweitet worden. Das hat die Macht urgewählter Bürgermeister und Landräte gestärkt und Gemeinderäte geschwächt. Welche Perspektiven gibt es für zukunftsorientierte Kommunalpolitik angesichts dieser rasanten Veränderungen? Auf etwas mehr als zweihundert Seiten beschreiben namhafte Experten zentrale Aufgaben kommunaler Zukunftsgestaltung in knapper und gut verständlicher Art und Weise. Das Buch richtet sich vor allem an Praktiker.  

Herausgeber und Autoren

Prof. Dr. Barbara Remmert ist Inhaber in des Lehrstuhls für Staats und Verwaltungsrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht und Kommunalrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen und stellvertretende Sprecherin des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung. Prof. Dr. Hans-Georg Wehling lehrt Politikwissenschaft (Schwerpunkt Landespolitik und Kommunalpolitik) am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Prof. Gerhard Banner war Vorstand der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) in Köln und Beigeordneter der Stadt Duisburg. Prof. Dr. Dieter Grunow lehrt Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Er ist Direktor des Rhein-Ruhr-Instituts für Sozialforschung und Politikberatung. Prof. Dr. Lars Holtkamp lehrt Politik und Verwaltung an der Fernuniversität Hagen. Prof. Dr. Andreas Kost lehrt Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Prof. Dr. Wolfgang Scherf lehrt Volkswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Finanzwissenschaft an der Universität Gießen. Prof. Dr. Paul Witt ist Rektor der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehlt und lehrt Kommunalpolitik. Elmar Braun ist seit 1991 Bürgermeister der Gemeinde Maselheim. Bei Amtsantritt war er Deutschlands erster grüner Bürgermeister. Wolfgang Dietz ist seit 2000 Oberbürgermeister der Stadt Weil am Rhein. Dr. Georg Fuchs ist Büroleiter und persönlicher Referent von Bundesminister a.D. Michael Glos. Dr. Timm Kern wurde 2007 mit einer Dissertation „Warum werden Bürgermeister abgewählt?“ promoviert. Seit 2011 ist er Mitglied des Landtags Baden-Württemberg (FDP).

 

20.000 Mandatsträger allein in Baden-Württemberg

Allein in Baden-Württemberg engagieren sich mehr als 18.000 Frauen und Männer ehrenamtlich in Gemeinderäten. Hinzu kommen rund 2.000 Kreistagsmitglieder. Die Zahl der kommunalpolitisch Interessierten liegt um ein Vielfaches höher. Für diese vielen Interessierten hat die Landeszentrale für politische Bildung (LpB) Baden-Württemberg ein Kompendium mit Themen zusammengestellt, die den „Kommunalen“ auf den Nägeln brennen und die die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung generell beleuchten. Das Buch ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Herbst 2010 gemeinsam von der LpB und dem Europäischen Zentrum für Föderalismusforschung an der Universität Tübingen veranstaltet worden ist.  

Kommunalpolitik gilt als dynamisch, unbürokratisch und sachorientiert

Den Auftakt machen Barbara Remmert und Hans-Georg Wehling mit einem Überblick über „Perspektiven der Kommunalpolitik“. Ausgehend von der Feststellung, dass Kommunalpolitik „als unbürokratisch und sachorientiert“ (9) gilt verweisen die erfahrenen Autoren auf die hohe Zufriedenheit der Bürger mit Handlungsmustern und Routinen auf lokaler Ebene, die die Daseinsvorsorge seit Jahrzehnten gewährleisten. Doch auch die kommunale Politik verändert sich; auch sie bleibt nicht von den großen Trends verschont.

Neue Themen, zunehmend Konflikte

Demografischer Wandel, Integration von Migranten, Energiewende und Klimawandel, ökologischer Umbau der Industriegesellschaft auch auf lokaler Ebene, Finanzausstattung und Steuersystem, die Stärkung der Bürgermeister, die Zurückdrängung des Parteieneinflusses bei gleichzeitiger Ausweitung der direkten Demokratie, all diese Themen werden stichwortartig angerissen und geben einen ersten Überblick über die Vielfalt der zu diskutierenden Themen. Kommunalpolitik ist dynamisch und spannend und zunehmend konfliktträchtig, obwohl die Wähler in Baden-Württemberg bisher „das konkordanzdemokratische Modell der gütlichen Einigung“ (11) bevorzugt haben.  

Das Ende der Privatisierung?

Dieter Grunow beschreibt schlüssig und systematisch Struktur und Aufgaben Entwicklung der Kommunalpolitik. Sie ist aber trotz aller Systematisierungsversuche multidimensional und von Gemeinde zu Gemeinde verschieden. Es bleibt die Feststellung, dass angesichts der notwendigen Ressourcen kommunaler Politik „der Haushaltsplan eine zentrale Unterlage“ (18) lokalen Handelns ist. Wegen der zunehmenden Abhängigkeit kommunaler Entscheidung von der übergeordneten Politik wird die „Entscheidungsautonomie der Kommunen … weitgehend eingeschränkt“. (22) Auffällig ist aber für Grunow, dass die Privatisierungswelle nicht nur abgeebbt sind, sondern dass eine Gegenbewegung eingesetzt hat.

 

Aufgaben dezentral und bürgernah lösen zur Stärkung der Zivilgesellschaft

Wer die Zivilgesellschaft wieder stärker einbinden will, muss auch die Aufgaben dezentral und lokal bürgernah lösen. „Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass weltweit ein Trend zur Dezentralisierung beziehungsweise zur Stärkung kommunaler Strukturen zu beobachten ist.“ (24) Das genügt aber nicht. Auch die Ressourcen müssen bereitgestellt werden. Zudem müssen abgestimmte Modernisierungsimpulse gesetzt werden. Grunows pointierte Frage: „Lässt sich vor diesem Hintergrund etwas über die Zukunft der Aufgabenentwicklung auf der kommunalen Ebene sagen  außer, dass die Voraussagen in Zukunft noch schwieriger werden?“ (24-25). Nein. Das ist schlicht nicht möglich. Es gebe zu viele Unwägbarkeiten, sowohl in der großen Politik als auch in den Rahmenbedingungen der Bundesländer und in den lokalen Bedingungen mitsamt dem dortigen Personal. Also ganz salomonisch: „it depends – es hängt von der lokalen Situation und den Handlungsfähigkeiten der Akteure ab.“ (26)  

Den Kommunen geht es keineswegs besser als dem Bund

Wolfgang Scherf geht ausführlich und mit empirischen Belegen auf die Probleme kommunaler Ausgabenfinanzierung ein und widerlegt die oft von Bundespolitikern geäußerte Auffassung, dass es den Kommunen  besser gehe als dem Bund.
Er verweist auf die zunehmenden Probleme einer schwankenden Gewerbesteuer, die eine der tragenden Säulen der Kommunen ist und empfiehlt eine kommunale Wertschöpfungssteuer als wesentlichen „Beitrag zur langfristigen Stabilisierung der kommunalen Haushalte“ (34).

Keine neuen Belastungen für Kommunen

Außerdem fordert er, dass es in Zukunft für die Kommunen „keine Beteiligung durch Umlagen und keine systemwidrige Verrechnung Bundes- oder Landessteuern geben“ (35) dürfe. Es sei notwendig, die kommunalen Steuereinnahmen zu stabilisieren. Außerdem dürften die Gemeindekassen nicht als Reservekassen für Finanzprobleme der Länder missbraucht werden. Dazu gehöre auch „eine schlüssige Anwendung des Konnexitätsprinzips auf der Ausgabenseite, insbesondere bei der Finanzierung der Sozialausgaben“ (40).
Allerdings verlangt Scherf auch „mehr Selbstverantwortung für die Gemeinden“ (39) und eine echte Aufhgaben- und Ausgabenkritik: „Städte und Gemeinden müssen kreativ sein, Effizienzreserven ausloten und freiwillige Leistungen zur Disposition stellen.“ (40) Nur zusammen werde daraus ein System zur Stabilisierung der Kommunen und der kommunalen Finanzautonomie.  

Banners fragwürdige Thesen zur kommunalen Finanzkrise

Gerhard Banner ist mit „sanierungsbedürftigen Schulen, kaputten Straßen und marode[r] Infrastruktur“ (41) ebenso vertraut wie mit kommunalen Haushaltskrisen und dramatisch steigenden Kassen- oder Liquiditätskrediten. Modellhaft stellt er die Situation am Beispiel der nordrhein-westfälischen Kommunen dar. Er sieht die Probleme nicht nur bei den übergeordneten Behörden, obwohl er ihnen „Problemverschleppung“ (44), ein „Aufweichen disziplinierender Rechtsnormen“ (47) und eine politisch motivierte „Schwächung der Position der Kommunalaufsicht“ (47) attestiert, sondern auch bei den Städten und Gemeinden. Den Kommunen schreibt er ins Stammbuch, sie hätten selbst unter Nothaushaltsrecht und der Pflicht zu Haushaltssicherungskonzepten „Ausweichstrategien“ (47) gesucht, um harte Entscheidungen zu vermeiden oder gar Widerstand geleistet statt „den Wählern offen zu sagen, dass politisch Gewünschtes nur selten kostenlos zu haben ist.“ (47)  

Übertreibung, Polemik und ein gerüttelt Maß an Unsinn

Banner übertreibt, kritisiert die Urwahl der NRW-Bürgermeister und spricht von einer „Professionalitätslücke“ (53) vieler „politischer“ Rathauschefs, als ob die frühere Doppelspitze eine Garantie für Haushaltsdisziplin und nachhaltiges Wirtschaften gewesen wäre. Auch wenn der Autor seit Jahren mit seinen Thesen durch die Lande reist, so bleibt die Darstellung falsch. Polemisch wird es, wenn er aus dem ehrenamtlichen Bereich kommenden urgewählten Bürgermeistern Parteilichkeit unterstellt: „Oft, wenn auch keineswegs immer, interessieren sich diese Bürgermeister einseitig für die politischen Befindlichkeiten im Rat und vernachlässigen ihre Aufgabe, die Verwaltung motivierend auf Leistungs- und Sparsamkeitskurs zu führen.“ (53) Richtig ist dagegen die Einschätzung Banners, dass „ein finanzieller Rettungsplan … dringend geboten“ (55) sei. Dafür ist das jeweilige Bundesland zuständig. Als „Rettungsanker“ (57) sieht er den „Bürgerbeitrag“, der die Lücke zwischen Landes- und Kommunalbeitrag schließen soll, um die Verschuldung zurückzuführen. Auch dies wird politisch höchst umstritten sein.  

Wehling beschreibt souverän die Stellung der Bürgermeister: Basta geht nicht!

Zu den spannendsten Beiträgen im Buch gehört das Kapitel „Bürgermeister“ von Hans-Georg Wehling. Souverän beschreibt er die Stellung der Bürgermeister, insbesondere der urgewählten, im kommunalpolitischen System Baden-Württembergs und im Zusammenspiel mit dem Gemeinderat und den Bürgern, die ihrerseits Bürgerbegehren und Bürgerentscheide als Mittel der Politik nutzen können. „ Das zwingt nicht nur zu breiter Information und Transparenz, sondern auch dazu, auf die Akzeptanz kommunaler Entscheidungen durch die Bürgerschaft zu achten. ‚Basta’ geht hier nicht.“ (63) Wer damit umgehen kann, hat als Bürgermeister ein sehr reizvolles Amt, weil man vor allem in Baden-Württemberg „faktisch keinen Vorgesetzen hat und über ein sehr hohes Maß an Gestaltungsmöglichkeiten verfügt.“ (67) In Baden-Württemberg sind die Bürgermeister trotz Urwahl „zu rund 90 % gelernte Verwaltungsfachleute“ (69). Sie haben Parteiendistanz, kommen oft jung ins Amt, weil von ihnen erwartet wird dass sie mindestens zwei Wahlperioden zu acht Jahren absolvieren und kommen in vielen Fällen von außen.  

Wer einmal im Amt ist, wird meist wiedergewählt

„Wer einmal im Amt ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder gewählt, weshalb die Amtszeiten baden-württembergischer Bürgermeister durchweg lang sind, selbst 40 Jahre kommen vor. Rund 60% der Amtsinhaber treten wieder an, nur ein Viertel der Wahlen verspricht spannend zu werden, wie es einen ernsthaften Herausforderer gibt.“ (70) Wehling spricht sich eindeutig für eine machtvolle Stellung der Bürgermeister aus: „Die Bürgerschaft erwartet Ergebnisse, um die Bedürfnisse des Alltags vor Ort befriedigt zu bekommen.“ (76)  

Timm Kern beschreibt, wie man sein Amt verlieren kann: Fehlende Identifikation

Den Kontrapunkt dazu setzt Timm Kern mit seiner Studie „Wie man Bürgermeister bleibt und wie man sein Amt verlieren kann“ (78), der empirisch die Einschätzung von Wehling bestätigt, dass die Wiederwahl des Amtsinhaber mit über 95% immer noch die Regel ist, dass aber in den letzten Jahren die Situation vor allem für die hauptamtlichen Amtsinhaber mittelgroßer Kommunen gefährlicher geworden ist.  

Bloß nicht bei Vereinsfesten fehlen und außerhalb wohnen

163 Abwahlfälle hat Kern untersucht. Meist hatten die Gescheiterten Probleme mit „der Erfüllung des Identifikationsgebotes“ (85) – z.B. ein auswärtiger erster Wohnsitz, auswärtige Bürgermeisterkandidaturen, zu häufiges Fehlen bei Vereinsfesten und Jubiläen, zu starke parteipolitische Betätigung – oder mit dem Wunsch der Bürger, das Bürgermeister Projektionsfiguren und Hauptverantwortliche für den innergemeindlichen Frieden sein sollen. „Viele ‚Abwahlen’ lassen sich daher dadurch erklären, dass es den Bürgermeistern nicht gelang, den Gemeindefrieden dauerhaft zu gewährleisten. Entweder war ihre Beziehung zum Gemeinderat oder ihre Stellung innerhalb der Verwaltung oder ihr Verhältnis zu den Medien oder zu Einzelpersonen derart aus einem friedlichen Gleichgewicht geraten, dass die Bürgerinnen und Bürger am Wahltag die Zukunft der Gemeinde einer anderen Person in die Hände legten, von der sie sich erhofften, dass sie den innergemeindlichen Frieden wiederherstellen könne.“ (86) Das können dann auch Nicht-Verwaltungsprofis sein.  

Junge Wilde und Kommunikationsprofis sind die neuen Stars

Vor allem „junge Wilde“ und „Kommunikationsprofis“ hat Timm Kern als aufsteigende Sterne der Nachwuchsbürgermeister ausgemacht, die auch Amtsinhaber schlagen können. Die sind vor allem gefährdet, wenn sie ihren Wahlkampf zu nachlässig, zu spät, zu unprofessionell oder zu selbstsicher führen. Mit Kritik sollen sie souverän umgehen, Herausforderer nicht persönlich attackieren. Die Studie ist aus dem Leben gegriffen und hat neben starken empirischen und erfrischende praktische Seiten. Da kennt sich einer aus mit den praktischen Seiten des Bürgermeisterlebens.  

Und der Parteien-Einfluss?

Paul Witt beschriebt Position und Situation der Gemeinderäte, Lars Holtkamp setzt sich wie schon an anderer Stelle mit dem Parteieneinfluss in der Kommunalpolitik auseinander und bewertet die Situation in NRW und Baden-Württemberg in einem empirisch abgesicherten Vergleich. Sein Fazit: „Insgesamt erweisen sich … die stark parteipolitisierten Strukturen in Nordrhein-Westfalen als offensichtlich weniger leistungsfähig bei der Input- und Outputlegitimierung als konkordanzdemokratische Muster baden-württembergischer Prägung“. (126)  

Der Geschmack an der Partizipation kommt beim Essen

Der Partizipationsexperte Andreas Kost stellt die Frage „Mehr direkte Demokratie in den Kommunen?“ (130) und antwortet mit Blick auf den Begründer der „starken Demokratie“, Benjamin Barber: „Der Geschmack an Partizipation kommt mit der Partizipation.“ (142) Barber war es auch, der die Partiipation als „starke Demokratie“ bezeichnet hat und der dazu aufruft, die politische Macht den Bürgermeistern zu geben, weil sie nah dran sind an den Bürgern und pragmatisch Probleme lösen. Kost ruft die Parteien dazu auf, den Bürgerinnen und Bürgern „weitere politische Handlungsspielräume zu öffnen“. (142) Dies sei notwendig und sinnvoll: „Wenn die Politik die politische Zukunft effizient und glaubwürdig gestalten möchte, braucht sie dafür nämlich bürgerschaftliche Mitarbeit und damit auch das Vertrauen in mündige Bürger“. (142)  

Eine Art Kronprinz?:  Der Landrat

Mit der Position des Landrats zwischen Politik und Verwaltung befasst sich Georg Fuchs, der die unterschiedlichen Karrierewege in Baden-Württemberg und Bayern vergleicht. Angesichts seiner herausgehobenen lokalen Position hat er vor allem in Bayern gute Chancen, auf Landesebene Karriere zu machen. Landräte sind dort geborene Kronprinzen. Dagegen ist in Baden-Württemberg die Lage etwas anders.  

Wahlrecht für Drittstaatsangehörige

Barbara Remmert untersucht die spannende Frage des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige und kommt zu dem Ergebnis, dass es dazu einer Änderung des Grundgesetzes bedarf. Allerdings spreche viel dafür, dass im Falle einer Verfassungsänderung nicht davon abgerückt werden könne, „dass jede Ausübung von Staatsgewalt von deutschen Volk legitimiert sein“ ( 183) müsse. Der integrationspolitische Nutzen eines entsprechenden Ausländerwahlrechts sei aber durchaus zweifelhaft.  

Der wachsende Einfluss Europas auf die Kommunen

Der Oberbürgermeister der Grenzstadt Weil am Rhein, Wolfgang Dietz, beschreibt den wachsenden Einfluss der Europäischen Union auf die kommunalpolitische Ebene. Als Beispiele nennt der pragmatische Politiker das Vergabewesen, das Wettbewerbsrecht, das Wahlrecht, die Forderung nach diskriminierungsfreiem Wettbewerb in der Wirtschaftspolitik und die Umweltpolitik. „Angesichts der doppelten Rolle der deutschen Kommunen im Staatsaufbau – mit den bestehenden Funktionen als Selbstverwaltungskörperschaft und als Behörde mit hoheitlichen Vollzugsaufgaben – gibt es wohl nur sehr wenige Rechtsetzungsakte der EU, welche nicht auf die kommunale Verwaltung und auf die kommunalen Entscheidungen einwirken.“ (195) Er schätzt, dass „80 Prozent aller Entscheidungen des deutschen Gesetzgebers ihren Ursprung im Ministerrat der EU haben.“ (195) Demgegenüber ist der Einfluss der deutschen Kommunen auf die EU vergleichsweise marginal. Das hängt mit der ungewöhnlichen Konstruktion der deutschen Kommunalen Selbstverwaltung zusammen, die in Europa ziemlich exotisch wirkt. Nur Österreich hat vergleichbare Regelungen. Gegenüber der großen Masse zentralistisch organisierter Staaten der Europäischen Gemeinschaft haben der deutsche Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung einen schweren Stand. Zentralismus ist immer einfacher zu handhaben. Zwar habe, so Dietz, der Vertrag von Lissabon Pflöcke eingeschlagen („Art. 4, Abs. 2: ‚Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträge und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“), aber die vertraglichen Regelungen seien das eine, „die tatsächlichen Machtstrukturen das andere“. (193) Der Ausschuss der Regionen habe keine Organstellung und sei weitgehend machtlos. Die Kommunen seien letztlich darauf angewiesen, „in den Regierungen der Mitgliedstaaten einen Fürsprecher für ihre Anliegen zu haben.“ (194)  

Ein kantiger Bürgermeister erzählt aus dem Leben

Den erfrischenden Abschluss bildet der Praxisbericht eines langjährigen Bürgermeisters. Elmar Braun ist seit über 20 Jahren hauptamtlicher Bürgermeister. In seinem „Praxistest Kommunalpolitik“ beschreibt, er, wie er an Fasnetdienstag 1991 am Tag vor Bewerbungsschluss zur Kandidatur aufgefordert wurde, wie er sechs Wochen später wider Erwarten im zweiten Wahlgang zum ersten grünen Bürgermeister in Deutschland gewählt wurde, wie man aus dem Wahlkampfsprint in den Marathon des Bürgermeister-Alltags wechselt, warum auch vermeintlich unpopuläre Entscheidung von der Bürgerschaft honoriert werden und wie Politik Freiräume im lokalen Bereich nutzen kann und soll, „um ihre Gemeinden voranzubringen und weiterzuentwickeln.“ (207) Es ist ein Plädoyer für „kantige Persönlichkeiten“, die „bei ihrer Arbeit anecken“ und „unabhängig von manchmal kurzfristig emotionalen Mehrheiten Lösungen suchen, die längerfristig für das Gemeinwesen gut sind.“ (207) Der größte Bremser sei aber Bund mit seiner staatlichen Regelungswut. Es sei nicht sinnvoll und nicht wünschenswert, dass die Freiräume immer stärker eingeschränkt und reguliert würden.      

Daseinsvorsorge und praktische Politik

Wer dieses Buch liest, lernt Aufgabenstruktur, Probleme und Chancen der Kommunalpolitik kennen. Er oder sie versteht, warum die kommunalen Haushaltsdefizite die Perspektiven der Kommunalpolitik massiv einschränken, warum vor allem die Länder gefragt sind, diese Finanzprobleme gemeinsam mit Städten und Gemeinden zu lösen und dass sich die Kommunalpolitik auch selbst an der Konsolidierung beteiligen muss. Wenn sie dies tut, wird Kommunalpolitik auch weiterhin Chancen haben, trotz Globalisierung, Europäisierung, trotz Demografie und Finanzkrisen. Es bleiben nach wie vor viele Handlungsmöglichkeiten, weil die Handelnden den Bürgerinnen und Bürgern nirgendwo so nah sind wie auf kommunaler Ebene. Dort geht es um Daseinsvorsorge und praktische Lebenslagen, um Problembewältigung und Quartiersgestaltung. Wer sich ehrenamtlich betätigen will, findet dafür eine Fülle guter Gründe. Wer als Bürgermeisterin oder Bürgermeister kandidieren will, erfährt, wie man in sechs Wochen den Chefsessel im Rathaus erobert und in acht Jahren wieder verlieren kann. Aufschlussreich ist Elmar Brauns Praxistest Kommunalpolitik in Verbindung mit Hans-Georg Wehlings Erkenntnis, dass gute Bürgermeister viel gestalten und Jahrzehnte Anführer und Friedensstifter sein können. Natürlich kann dieses kleine Buch nur Appetithappen liefern. Kommunalpolitik ist viel zu komplex, um all die großen Themen zur Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung in dreizehn mehr oder weniger kurzen Artikeln abzuhandeln. Aber das Buch macht Lust auf mehr. Und wer schon aktiv ist, kann viel darüber lernen, wie man als Lokalpolitiker Fehler vermeidet, um möglichst lange Freude an seinem Engagement zu behalten. Damit auch die Bürgerinnen und Bürger Freude daran haben.   Armin König    

Geburtenrückgang und Familienpolitik in den OECD-Ländern

Martin Bujard: Geburtenrückgang und Familienpolitik.   Es waren Frank Schirrmacher („Das Methusalem-Komplott“) und der für seine drastischen Vergleiche bekannte und nicht unumstrittene Herwig Birg („Sterben die Deutschen aus?“), die den Blick auf das Megathema Demografischer Wandel gelenkt haben. Dabei spielt immer das Thema Fertilität eine Rolle: Warum bekommen die Deutschen so wenig Kinder. In der Vergangenheit ist viel spekuliert worden. Der Demografieexperte Martin Bujard arbeitet dagegen empirisch. Er hat die Familienpolitik in den OECD-Ländern untersucht und zu „Geburtenrückgang und Familienpolitik“ gearbeitet.  

Kindergeld, Babygeld und Co.

Der demographische Wandel rückt zunehmend in den Fokus des Forschungsinteresses und der Politik. Das Forschungsfeld ist riesig, die Forschungsdesiderate sind noch groß. Zu den spannenden Themen politischer Steuerung gehört die Frage, ob familienpolitische Maßnahmen auf mittlere oder lange Sicht Effekte auf die Geburtenrate haben. Bisher ist dies umstritten. Schlüssige Antworten auf diese Fragen sind aber wichtig und drängend, denn die OECD-Staaten geben für Familienförderung enorme Summen aus. Martin Bujard untersucht die Ursache des Geburtenrückgangs in einer sehr ambitionierten Studie. 28 Länder werden über vier Jahrzehnte und anhand von 51 Faktoren analysiert. Der Autor nutzt dabei einen breiten interdiszipliniären Ansatz. Sein Ziel ist es, zu erklären, warum es zum „Zweiten Geburtenrückgang“ gekommen ist, wie die Unterschiede des Fertilitätsverhaltens innerhalb der OECD-Länder zu interpretieren sind und welchen Einfluss die Familienpolitik hatte und in Zukunft haben könnte.   Martin Bujard  ist Politikwissenschaftler. Er arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Koordinator der Arbeitsgruppe „Fertilität und Familienpolitik“, die Teil der von BBAW und Leopoldina getragenen interdisziplinären Akademiengruppe „Zukunft mit Kindern“ ist. Promoviert wurde er von der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Heidelberg. Bujards Forschungsinteressen gelten der Familien- und Sozialpolitik, der Demografie und der vergleichenden Politikwissenschaft. Seit August 2011 ist er Senior Researcher am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. Bei der Studie handelt es sich um die Dissertation von Bujard, die 2011 von der Universität Heidelberg angenommen und mit dem Prädikat Magna cum laude bewertet wurde (Gutachter: Prof. Manfred G. Schmidt; Prof. Uwe Wagschal).  

Niedrigste Geburtenraten: Lowest-Low-Fertility-Countries

Bujard erläutert im ersten Kapitel, die Geburtenentwicklung in den 28 OECD-Ländern. Die erste wichtige Feststellung in diesem Zusammenhang: „Im Ausmaß des Zweiten Geburtenrückgangs gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern, aber auch Ähnlichkeiten innerhalb bestimmter Ländergruppen. Bei einem Blick auf Europa wird ein Nord-Süd-Gefälle mit höheren Geburtenraten im Norden und niedrigeren im Süden deutlich, wobei Frankreich mit relativ hohen Geburtenraten etwas aus diesem heuristischen Rahmen fällt.“ (26) Extrem niedrig sind die Fertilitätsraten in Osteueropa, Südeuropa, Ostasien, aber auch in den deutschsprachigen Ländern, die nur knapp über der „Lowest-Low-Fertility Country“-Grenze liegen.  

Minimale Erholung auf niedrigen Niveau

Der empirische Befund belegt, dass „der Rückgang in den 1970er Jahren besonders stark war, er sich bis zum durchschnittlichen Tiefpunkt im Jahr 2002 … noch fortsetzte und die Geburtenraten sich seitdem minimal erholen – auf einem extrem niedrigen Niveau.“ (25) Der Autor versucht einen ganzheitlichen Erklärungsansatz, der fünf sozialwissenschaftliche Fragenkomplexe und drei politikwissenschaftliche umfasst. Behandelt werden soziogeografische, politisch-technologische und bevölkerungswissenschaftliche Determinanten, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den OECD-Ländern und die Frage, ob „generative Länderfamilien“ (62) zu identifizieren sind. Interessanter noch sind die familienpolitischen Maßnahmen und ihre Effekte, insbesondere Reformaktivitäten im familienpolitischen Bereich. In zweiten Kapitel wird ein „Mehrebenenmodell entworfen, das die Systematisierung und Integration verschiedener wissenschaftlicher Ansätze des generativen Verhaltens ermöglichen soll“ (63). Es folgen die Integration der Theorien in dieses Mehrebenenmodell, die Aufstellung neuer Hypothesen zur Wirksamkeit familienpolitischer Maßnahmen und schließlich die empirische Überprüfung. Analysiert werden die Daten anhand multivarianter Regressionen.  

Zukünftige familienpolitische Optionen:  Familienlastenausgleich neu justieren

Die Rolle der Familienpolitik bildet das vorletzten Kapitel, das mit einem politikberatenden Ansatz schließt. Dabei geht es vor allem um „zukünftige familienpolitische Optionen“ (65). Die sind durchaus spannend. So kommt Bujard zum Schluss, dass der Familienlastenausgleich „neu justiert werden“ (393) sollte. Für Politiker erfreulich ist die Erkenntnis, dass Familienpolitik keineswegs wirkungslos ist. Es wäre allerdings ein Fehlschluss, dass man nur den Hebel umlegen müsste, um grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. So einfach ist das Prinzip nicht. Die bekannten strukturellen Defizite sind ja nicht ohne Weiteres aus der Welt zu schaffen. Thomas Thiel bemerkte dazu in der FAZ: 2Der Umstieg zur doppelten Berufstätigkeit ist eine der Hauptursachen für den kontinuierlichen Schwund. Er macht den Kinderwunsch auch zu einer Kostenrechnung, die Verdienstausfall und Karriererückschritt einkalkulieren muss. Mütter bringt das häufig in die Zwangslage, als Berufstätige mit dem bleibend virulenten Stigma der Rabenmutter zu leben oder als Hausfrau den subtilen Druck zu spüren, durch übereifrige Kinderbetreuung die fehlenden beruflichen Leistungsnachweise nachzureichen. Die kurzen Rhythmen der mobilen Arbeitswelt verstärken die Reserve vor langen Festlegungen, wie sie ein Kind bedeutet. So kommt es, dass die fruchtbarste Phase des Lebens zwischen 25 und 35 Jahren oft ausgelassen und der Kinderwunsch bis zur beruflichen Konsolidierung vertagt wird. Dann kann es zu spät sein.“ Dass familienpolitische Reformen sich demografisch auswirken, hat die Politik stets behauptet. So sind in den letzten Jahren Milliarden Euro investiert worden – sowohl in Baumaßnahmen als auch in Programme -, auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Kinderbetreuung spürbar zu verbessern. Kritiker merken an, dass Deutschland im OECD-Vergleich überdurchschnittlich viel Geld für den Familienlastenausgleich ausgebe, ohne dass dies zu durchgreifenden positiven Veränderungen führe (vgl. Schildmann/Rürup 2012: 4). Auch demografisch schlage es nicht positiv durch. Außerdem gelinge es nicht, „alle Kinder und ihre Eltern vor finanzieller Not zu schützen: Fast 15 Prozent aller Haushalte mit Kindern sind von Armut bedroht, bei Haushalten von Alleinerziehenden sind es sogar fast die Hälfte, und auch für viele Familien im unteren Bereich der Einkommensmitte ist der Alltag ein ständiger Existenzkampf.“ (Schildmann/Rürup 4). Dies ist tatsächlich ein großes Problem, das bis in die Sozialleistungen durchschlägt, die von Kommunen und Gemeindeverbänden aufgebracht werden müssen. Dass aber der Ausbau des Betreuungs- und Bildungsangebots „in der Gesellschaft nahe unstrittig“ (Becker 2012: 5) ist, obwohl in der Frage des Betreuungsgeldes vor allem die Bayern andere Akzente gesetzt haben, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.  

Mehr Kindergeld für Mehrkindfamilien Weg mit dem Ehegattensplitting

Martin Bujard schlägt in seiner Studie weit reichende Veränderungen vor: „Ein deutlicher Ausbau des Kindergelds ist insbesondere für Mehrkindfamilien von Bedeutung, entsprechend sollte ein Erhöhung des Transfers für dritte und weitere Kinder Priorität haben.“ (393)  Bujard spricht sich für einen Umbau des Ehegattensplittings, den er als „Fremdkörper einer modernen Familienpolitik“ (393) bezeichnet, zu einem Familiensplitting aus. Alternativ wäre auch ein Anstieg der Kinderfreibeträge denkbar – parallel zu einer Erhöhung des Kindergelds. Generell sei „eine noch stärkere Berücksichtigung der Erziehungsleistungen in Rente- und Pflegeversicherung aus sozial- und gesellschaftspolitischen Erwägungen sinnvoll.“ (393)  

Erziehungsleistungen stärker gewichten Weg mit dem Betreuungsgeld

Vor allem für Frauen, die nicht berufstätig sind und nicht einzahlen, könnte dies einerseits einen rentenpolitischen und finanziellen Ausgleich von Erziehungsleistungen über Transferleistungen ermöglichen und andererseits „dem Anspruch auf Offenheit gegenüber Lebensmodellen gerecht … werden“, ohne dass Fehlanreize wie das Betreuungsgeld gesetzt würden.  

Positive Signale durch Ausbau der Kinderbetreuung

Die Dissertation ist sehr fundiert. Theorie, Empirie und Politikberatung sind überzeugend miteinander verbunden. Erstmals gibt es Hinweise auf „eine mittel- bzw. langfristige Erholung der Geburtenraten“ (410), auch in Deutschland, allerdings sind diese noch spekulativ. Bujard begründet die positiven Signale einerseits mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, andererseits mit statistischen Effekten, die allerdings nur in einem Teil der „Low-Fertility-Country“ nachweisbar sind. Zu Recht verweist er darauf, dass gerade demographische Prognosen „immense Unsicherheit“ (410) bergen. Mag die neue Bedeutung der Familienpolitik für die demographische Entwicklung auch positiv eingeschätzt werden, so bleibt „die negative Wirkungskraft von Determinanten ökonomischer Art“ (411) und soziokultureller Provenienz. Auch die Einschränkungen der familienpolitischen Entwicklungsmöglichkeiten durch die Finanz- und Schuldenkrise in Europa wird realistisch eingeschätzt. Das Buch ist sehr ambitioniert und umfangreich. Der ganzheitliche und interdisziplinäre Ansatz ist schlüssig, die Schlussfolgerungen sind sauber hergeleitet und überzeugend. Leser sollten Erfahrungen mit statistischen Methoden und Grundzügen der Wissenschaftstheorie haben.   Besprochenes Buch: Martin Bujard (2011): Geburtenrückgang und Familienpolitik. Ein interdisziplinärer Erklärungsansatz und seine empirische Überprüfung im OECD-Länder-Vergleich 1970-2006. Nomos. Baden-Baden 2011. 443 Seiten. ISBN 978-3-8329-6406-1.   Ergänzende Lektüre Thomas Thiel (2011): Verborgene Schärfe einer stumpfen Waffe – Eine neue Studie befreit die Familienpolitik vom Verdacht demographischer Wirkungslosigkeit. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/2.1718/verborgene-schaerfe-einer-stumpfen-waffe-17037.html   Irene Becker (2012): Bedarfsgerecht statt pauschal – ein Konzept zur Reform des Kindergeldes. Berlin: Friedrich Ebert Stiftung. Forum Politik und Gesellschaft. Christina Schildmann / Bettina Luise Rürup (2012): Einführung. In: Becker: Bedarfsgerecht statt pauschal. Berlin. S. 4-5. Irene Becker (2012): Konzept und Reform des Kindergeldes. In: : Becker: Bedarfsgerecht statt pauschal. Berlin. S. 5-26.       Armin König    

Bürger und Demographie

Partizipative Entwicklungsplanung

Armin König: Bürger und Demographie: Partizipative Entwicklungsplanung für Gemeinden im demographischen Wandel.   Der demographische Wandel ist in Westdeutschland angenommen. Seine Effekte werden die Art der Politik und die kommunalpolitischen Schwerpunkte in den nächsten Jahren fundamental verändern. Gleichzeitig erlebt das Land einen generellen Wandel vom Wachstumsparadigma zu einer notwendigen Akzeptanz von Schrumpfung. Doch Politik und Gesellschaft sind darauf bisher nicht eingestellt. Probleme werden verdrängt, die kommunalpolitische Ebene versucht mit hohem Aufwand und geringem Erfolg, gegenzusteuern. Armin König, Bürgermeister der saarländischen Gemeinde Illingen, plädiert für einen völlig anderen Ansatz: Die Wahrheit (Schrumpfung, Alterung, Auslastungsprobleme bei der Infrastruktur) sei den Bürgern zumutbar, schreibt er als Ergebnis seiner Dissertation (DHV Speyer; Gutachter: Prof. Dr. Gunnar Schwarting; Prof. Dr. Hermann Hill). Zunächst empfiehlt der Autor, die demographische Entwicklung zu akzeptieren und politisch abzufedern, da sich große demographische Trends kurzfristig nicht steuern lassen. Ein Gegensteuern gegen den großen Trend sei nicht Erfolg versprechend und verbrauche unnötig Ressourcen. Dagegen sei in Teilbereichen eine erfolgreiche Steuerung auf kommunaler Ebene möglich. Politik und Bürger müssten überzeugt werden präventiv zu handeln und nicht nur zu reagieren. Vorgeschlagen wird eine offensive MIT-Komm-Strategie: Mobilisierung, Information und Transparenz als Grundlage von Veränderungen. Partizipative Entwicklungsplanung sei für Kommunen im demographischen Wandel ein Erfolg versprechendes Instrument, den Wandel abzufedern.
Demographischer Wandel müsse zu einem Paradigmenwechsel in der Flächenpolitik führen. Im Interesse einer nachhaltig wirksamen, generationengerechten Politik sei ein weiterer Flächenverbrauch insbesondere durch Neubaugebiete im Außenbereich der Kommunen nicht zu verantworten. Er sei weder sachlich geboten noch ökonomisch und ökologisch vertretbar, da er mit hohem Aufwand, hohen Kosten und ökologischen Nachteilen verbunden sei. Eine Begrenzung von Neubaugebieten über die Landesplanung erscheine deshalb als zwingend. Im Wohnungsbau seien Angebote notwendig, die stärker als bisher auf die Bedürfnisse einer alternden Bevölkerung und einer stärkeren Singularisierung eingehen. In diesem Bereich gebe es signifikante kommunale Defizite. Notwendig seien in der Zukunft betreutes Wohnen mit Dienstleistungsangeboten, das den Bewohnern die Möglichkeit gibt, möglichst lange selbständig zu leben, Mehrgenerationenhäuser und barrierefreie Wohnungen und Wohnumfeldbereiche.
Kooperationsstrategien sollen innerkommunalen Wettbewerb weitgehend ablösen, interkommunale Kannibalisierung sei nicht wünschenswert und volkswirtschaftlich unsinnig. Leerstandsmanagement soll Neubaumarketing ersetzen. Solche grundlegenden Veränderungen sind aber nach Erkenntnissen aus der Illinger Studie nur im Einvernehmen mit Bürgerinnen und Bürger möglich. Das setzt Verständnis für ökonomische, ökologische und demographische Hintergründe bei den Wählern voraus. Demnach sind Bürgerbeteiligung, Bürgerplanung und lokale Arrangements auf der Grundlage von Demographie-Checks ein Erfolg versprechender Weg, kommunale Probleme im demographischen Wandel kooperativ zu lösen. Sie sind aber kein Allheilmittel, da sie meist auf Konsens angelegt sind und ungewöhnlichen Vorschlägen wenig Raum bieten. König empfiehlt auf der Grundlage der Illinger Erfahrungen eine strategische Entwicklungsplanung mit externer Moderation, Vernetzung der Akteure und verstärkte interkommunale Zusammenarbeit.
Eine demographiesensible Politik solle verstärkt Rücksicht auf ältere Menschen nehmen. Gerade die Alterung sei der Haupttrend im demographischen Wandel. Deshalb sei Barrierefreiheit ein wesentliches Kriterium künftiger Planungen, zumal dies auch Familien zugute komme. Die Prioritäten der Politik müssten sich verschieben im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Systeme, auf Accessibility, Design for all, Generationengerechtigkeit, Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit.
Mindestens ebenso wichtig sei eine aktive Familienpolitik. In der Bildungspolitik sollten flexible Organisations- und Lernstrukturen sollten erprobt werden, um bei zurückgehenden Schülerzahlen die Ortsnähe der Schulen zu erhalten. Die Idee, Schulen zu öffnen und multifunktional für weitere Aktivitäten im Sinne des Lebenslangen Lernens ganztägig bis in den Abend zu nutzen, stoße bisher auf Vorbehalte in den Schulen, müsse aber trotzdem viel stärker genutzt werden als bisher. In den Kommunen solle grundsätzlich ein pädagogischer Verbund von Kindergarten und Grundschule angestrebt werden.
Zu den Schwerpunkten der Studie gehört der Umgang mit leerstehenden Ein- und Zweifamilienhäusern. Betroffen sind mittlerweile auch Neubaugebiete der 1970er Jahre. Leerstandsmanagement ist nach Erkenntnissen der Studie das am schnellsten wirksame Steuerungsinstrument im demographischen Wandel und zeigt sichtbare Erfolge im Stadtbild. Notwendig sind die Aktivierung und Mobilisierung der Hauseigentümer und aktives Management durch die Verwaltung.
Umnutzungen öffentlicher Gebäude spielten in den nächsten Jahren in der kommunalen Politik eine wachsende Rolle. Dies müsse durch Förderinstrumente des Bundes und der Länder finanziell unterstützt werden. Die Kommunen müssten ihrerseits ihre Planungsinstrumente intensiver und aktiver nutzen.
Aktives interkommunales Gebäudemanagement verspricht nach Erkenntnissen Königs hohe Synergieeffekte und wäre ein wichtiger Eigenbeitrag bei der Haushaltskonsolidierung, ohne dass Abstriche an Qualität oder Nutzungsquantität vorgenommen werden müssten. Es trage dazu bei, Betriebs- und Erhaltungskosten von Gebäuden zu reduzieren, die Nutzungsfähigkeit und die Substanzerhaltung nachhaltig zu sichern und bestandsgefährdende Risiken zu minimieren.
Interkommunale Zusammenarbeit gilt als eines der wichtigsten Instrumente zur Bewältigung des demographischen Wandels. Allerdings sollten mehr als bisher kommunale Pflichtaufgaben gemeinsam erledigt werden. Das gelte vor allem für Auftrags- und Fremdverwaltungsaufgaben. Dies soll durch die Landesebenen mit Anreizsystemen unterstützt werden. Integrierte ländliche Entwicklungskonzepte und aktives Regionalmanagement seien sinnvolle Instrumente, um im demographischen Wandel partizipativ und kooperativ Zukunftspolitik mit europäischer, nationaler oder regionaler Förderung zu gestalten.   Angezeigtes Buch: Armin König: Bürger und Demographie: Partizipative Entwicklungsplanung für Gemeinden im demographischen Wandel. Malstatter Beiträge aus Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur; (zugl. Dissertation Verwaltungswissenschaft DHV Speyer). Merzig: Gollenstein Verlag. ISBN: 978-3-938823-91-0. Preis: 34,90 €.    

Bürgerdialog als Rettungsanker bei umstrittenen Großprojekten?

Christoph Ewen / Oscar W. Gabriel / Jan Ziekow: Bürgerdialog bei der Infrastrukturplanung. Erwartungen und Wirklichkeit.   Nichts ist mehr wie es war seit Stuttgart 21. Seither gilt Partizipation als „Conditio sine qua non“ bei Großprojekten. Normativ erleichtert Partizipation die Planung von Kraftwerken, Straßen, Windkraftanalgen und vielen anderen Großprojekten. Das muss aber nicht so sein. Deshalb haben Christoph Ewen, Oscar W. Gabriel und Jan Ziekow in einem Evaluationsprojekt untersucht, wie es tatsächlich mit dem erwarteten Commitment durch Partizipation aussieht. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Die Planung des größten deutschen Pumpspeicherkraftwerks durch die Schluchseewerk AG im Jahr 2010/2011 war Anlass für einen Runden Tisch unter Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, um eine konfliktgeladene Entscheidung partizipativ zu begleiten und Commitment herzustellen. Die Wissenschaftler haben im Rahmen einer Evaluation untersucht, ob der Bürgerdialog erfolgreich war und inwiefern es in der Region zu Veränderung der Meinungen gekommen ist. Es geht darum, wie man konstruktiv in öffentlichen Kontroversen agiert, was informelle Bürgerbeteiligung bei der Planung von Großvorhaben wirklich leisten kann und welche Erfolgsfaktoren und Hemmnisse es gibt. Der Band leistet einen Beitrag zur Schließung einer Forschungslücke und entwickelt aus den Erkenntnissen der Evaluierung Empfehlungen für die Praxis. Mit Christoph Ewen, Oscar W. Gabriel und Jan Ziekow haben sich drei Evaluationsprofis mit dem Thema empirisch auseinandergesetzt. Christoph Ewen ist seit Sommer 2003 Inhaber von team ewen. Er ist Spezialist für Mediation, Wissenschaftskommunikation, Großgruppenmoderation und Veränderungsprozesse. Zuvor arbeitete er beim IFOK-Institut Bensheim und war unter anderem Projektleiter des Regionalen Dialogforums Flughafen Frankfurt. Oscar W. Gabriel ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft. Er lehrte von 1992 bis 2012 Politikwissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. Seit November 2012 ist er ordentliches Mitglied des Deutschen Forschungsinstituts für Öffentliche Verwaltung (FÖV) Speyer. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Wahlforschung und politische und soziale Teilhabe. Jan Ziekow ist seit 1997 ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht, an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Außerdem ist er Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung (FÖV) Speyer. Damit waren die Voraussetzungen gut, in einer neutralen Expertise die tatsächlichen Ergebnisse von Partizipationsprozessen zu überprüfen.

Aufbau

Das Buch besteht aus sieben Kapiteln: Einleitende Überlegungen Das geplante Pumpspeicherkraftwerk Atdorf Anlass und Zielsetzung der Vorhabens Fokus der Untersuchung Stand der Evaluation partizipativer Verfahren Gewählte Methodik Fragestellungen für die Evaluation Untersuchung des Runden Tisches Atdorf Einbezug weiterer Dialogvorhaben Dialogprozess im Kontext (Konflikt- und Entscheidungssystem) Um welche Arten von Anlagen handelt es sich? Konflikttyp und Konfliktsystem Entscheidungsfindungssystem – zeitliche und formale Rahmenbedingungen für Dialoge Wirkung der Öffentlichkeitsbeteiligung auf das Förmliche Verfahren (Dauer, Verbindlichkeit, Sicherung der Offenheit des Abwägungsprozesses) Untersuchungskategorien Wirkung von Dialogprozessen Wirksamkeit von Dialogprozessen Zielformulierungen für „gute“ Prozesse Voraussetzungen für Erfolg Beobachtete Ergebnisse Beschreibung des RT Atdorf im Vergleich mit anderen Dialogprozessen Qualitative Analysen Quantitative Analysen: Ergebnisse der Teilnehmer- und Bürgerbefragung Auswertung und Ergebnisse Hinweise auf erfolgversprechende Dialogprozesse Zusammenfassung, Schlussfolgerungen, Empfehlungen  

 

 

Einleitende Überlegungen

Die Autoren stellen das Projekt Pumpspeicherkraftwerk Atdorf und den Runden Tisch zum Infrastrukturprojekt, der fünf Monate lang in Aktion war, kurz vor. Das neue Werk soll eine Leistung von rund 1.400 Megawatt haben und 2019 in Betrieb gehen. Es wäre das größte Pumpspeicherkraftwerk Deutschlands. „Elemente der Evaluation waren Beobachtungen der Sitzungen des Runden Tisches, Befragungen der Bevölkerung in der Region, Befragungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Runden Tisches, zwei Fokusgruppen sowie jeweils punktuelle Gegenüberstellungen mit vergleichbaren Dialog-Prozessen um große Infrastrukturvorhaben. Die wissenschaftliche begleitende Evaluierung des Runden Tisches soll als Grundlage für eine Weiterentwicklung der Ausgestaltung partizipativer Verfahren im Hinblick auf große Infrastrukturvorhaben dienen.“ (18) Zielsetzung des Vorhabens war es, „Zusammenhänge zwischen Prozess-Charakteristika und Prozess-Wirkungen im Bereich der Beteiligung zu entwickeln“. (18) Im Fokus der Untersuchung, die parallel zum Runden Tisch Atdorf lief, standen vor allem „große Infrastrukturvorhaben aus den Bereichen Energie, Verkehr und Entsorgung“ (22) mit hohem Konfliktpotenzial – nicht nur in der Standortgemeinde, sondern auch in Nachbarkommunen. Darüber hinaus ging es um „Beteiligungsprozesse um Anlagen der technischen Infrastruktur, bei denen Unternehmen oder staatliche Stellen aufgrund von tatsächlichen oder befürchteten Protesten gegen das Vorhaben Beteiligungsprozesse anbieten, um die Realisierungschancen des Vorhabens zu verbessern und um belastende Konflikte zu entschärfen / zu vermeiden.“ (22) Solche Projekte bergen Sprengstoff, zumal insbesondere in der Mittelschicht spätestens seit Stuttgart 21 und seit den Traktaten von Stéphane Hessel („Empört euch“) ein gewissen Empörungspotenzial  (vgl. Gerhard Matzig: Einfach nur dagegen) latent vorhanden ist. Dieses latente Misstrauen ist nicht ohne Weiteres aus der Welt zu schaffen.  

Methodik

Um den Erfolg eines Dialogs in Konflikt-Situationen zu messen, müssen zunächst zentrale Fragestellungen geklärt werden, insbesondere, welche Ziele sich mit Dialogverfahren bei großen Infrastrukturvorhaben erreichen lassen und wie die Wirkung möglichst objektiv beschrieben werden kann. Dazu dienen umfassende Befragungen der Bevölkerung einerseits und der Mitglieder des Runden Tisches andererseits. „Wahrend die schriftlichen Befragungen vor allem quantitativen Charakter haben, ergänzen die persönlich gestellten Fragen die schriftlichen Befragungen in dem Sinne, dass sie subjektiven Wahrnehmungen, Hintergründen und Bewertungen des Runden Tisches als Dialogforum und Konfliktregulierungsinstrument mehr Raum beimessen und insbesondere nach den zugrunde liegenden Begründungs- und Deutungsmustern fragen.“ (25) Dialogprozesse aus anderen großen Infrastrukturvorhaben wurden ergänzend einbezogen.

Dialogprozesse im Kontext

Konflikte müssen immer im Kontext gesehen werden – das gilt auch für Dialogprozesse, die für Transparenz und Ausgleich sorgen sollen. Verkehr, Entsorgung, Energie und Hochwasserschutz gehören zu den Politik-Feldern, in denen große Vorhaben besonders häufig zu Konflikten führen. Dazu gehören Flughafenerweiterungen, Bahnhöfe und Bahntrassen, Autobahnbahnen, Wasserstraßen, Kraftwerke, Hochspannungsleitungen, Pipelines, Windräder, Bergbau- und Abbauvorhaben, Polder und Deichbauten. Nicht selten werden Gerechtigkeitsdebatten um die Lastenverteilung (30) geführt. Mit Widerstand ist vor allem dann zu rechnen, wenn die Vorhaben „größere Auswirkungen auf die lokale oder gar regionale Umwelt und das Landschaftsbild zeitigen“ (30). Die Autoren verweisen auf Studien zu Protestierenden. Danach werde sie motiviert durch „eine Mischung aus der Vertretung eigener Interessen (Beeinträchtigung der Lebensqualität, befürchtete Verluste des Immobilienwertes), aus politischen Argumenten (etwa die hohen Kosten), der nicht ausreichend belegten Notwendigkeit und Alternativlosigkeit der Planung sowie dem Umgang mit den Protestierenden.“ (31) Es geht um Interessens-, Wissens-, Wahrnehmungs- und Wertkonflikte – alles kommt vor. Vor allem ethische oder Wertkonflikte sind „nur schwer verhandelbar“ (32). Immerhin kann durch Dialog versucht werden, Fundamentalpositionen aufzulösen und „Schnittmengen von Gemeinsamkeiten und verbleibenden Unterschieden“ (32) zu finden. Außerdem ist es wichtig, dass „Interventionen zur Konfliktregulierung“ (33) – und gerade hier haben Dialogprozesse nach Auffassung der Autoren eine entscheidende Funktion – „die verschiedenen Ebenen des Konfliktes bearbeiten“ (33). Dialogprozesse bei der Infrastrukturplanung haben also die Funktion, „Betroffene und Interessenvertreter zusammen[zu]bringen“ (33). Sie müssen, wenn sie erfolgreich sein sollen, unterschiedliche „Wahrnehmungen hinsichtlich einer Veränderung der Lebensqualität ernst nehmen und thematisieren“ (33), und sie müssen „Fachfragen durch Einbezug der wissenschaftlichen Community bearbeiten“. (33). Was so trivial klingt, ist in der Praxis nicht so einfach, da oft Emotionen im Spiel sind und Vertrauen fehlt. Moderatoren solcher Dialogprozesse müssen in der Lage sein, Konflikte und auf der Metaebene die Debatten um solche Konflikte zu strukturieren „Es geht darum, die Positionen der Konfliktparteien zu überführen in die Formulierung von Interessen, die Beschreibung von Wahrnehmungen, die Benennung von Fachfragen und die Fokussierung von Wertefragen.“ (33) Was die Konfliktregulierung bei der Infrastrukturplanung schwierig macht, ist der große, oft unüberschaubare Rahmen: „Es sind (nicht nur) einzelne Personen, die sich streiten, und es ist auch nicht (nur) ein Betrieb, eine Schule oder eine Kommune, innerhalb derer der Konflikt Platz greift. Der ‚Kampfschauplatz‘ umfasst eine Region von einigen tausend bis maximal hunderttausend Menschen, mehrere Kommune, ggf. auch Betriebe und weitere Institutionen in der Region.“ (34) Wenn dann noch die Kommunikation „für die Galerie“ (35) über Medien erfolgt, die Arenen und Bühnen eine wichtige Funktion haben, hilft es, muss auch Konfliktregulierung Teil-Arenen und Teil-Öffentlichkeiten (35) adressieren. Die Autoren beschreiben die Eskalationsstufe von Konflikten von der „Verhärtung im Gespräch“ (36) über „Debatten und Polemik“ (36) bis hin zu „Drohstrategien“ (36) und benennen als Randbedingungen für Dialogprozesse „Frühzeitigkeit“ der Beteiligung (43), bevor die Eckpunkte unverrückbar feststehen, „Themenfokus“ (44) mit Akzeptanz von Vorüberlegungen und Festlegungen der planerischen Ebene und schließlich die Klärung, dass ein „wie auch immer gearteter Dialogprozesse … keine grundsätzliche Entscheidungsgewalt innehaben“ (44) kann.  

Untersuchungskategorien

Den Autoren geht es um Wirkungsforschung, und deshalb sind die Untersuchungskategorien von Bedeutung. Eine Grundvoraussetzung ist dabei immer zu beachten: „Was im Endeffekt gebaut oder nicht gebaut wird, entscheiden Politik Verwaltung und Gerichte und nicht zuletzt der Vorhabenträger – nicht der Dialogprozess.“ (55) Das ist ein Dilemma für die Problemlösung durch Dialogprozesse wegen der unterschiedlichen Interessenkonstellationen und wegen der Macht- und Entscheidungsebenen: „denn entweder tritt eine Wirkung ein – dann verlieren die eigentlich für die Entscheidung zuständigen politischen Akteure ihre Motivation – oder es findet keine Wirkung statt – dann haben die Akteure beim nächsten Dialogprozess keinen Anlass mehr, daran teilzunehmen.“ (53) Das ist selten so klar formuliert worden. Bisher galten Partizipationsprozesse und Dialogprozesse normativ als Königsweg zur Lösung oder Entschärfung Konflikten. Die Evaluationsforschung belegt aber, das solche Verständigungsprozesse keineswegs Erfolge garantieren. Zudem lässt sich der Erfolg oft erst viel später feststellen. In einer Matrix der Erfolgs- und Wirkfaktoren (59-60) listen die Autoren wertneutrale und normative Kriterien auf, die mit direkten und indirekten Effekten kombiniert werden. Dies ist ein Ziel führender Weg, ex post die Wirksamkeit vom Dialogprozessen zu überprüfen. Fragestellungen dazu: •    „Wie entwickeln sich Konflikt und Entscheidung?“ (61); zu überprüfen ist dies ex post an Hand der Prozesse. •    „Wie verändern sich Wissen, Wahrnehmung und Bewertung zum Konfliktgegenstand?“ Dazu eignen sich Interviews, Befragungen, Gruppengespräche, aber auch eine Presseschau (61) •    „Wird der Prozess als fair, sachorientiert und effizient wahrgenommen?“ Auch dafür sind die bereits genannten Interview-Instrumente geeignet. •    -„Wie erfolgt der Einbezug von Entscheidungssystemen aus Politik und Verwaltung?“ (61) •    „Wie gelingt es dem Prozess, Wissen und Wahrnehmungen von Teilnehmern und Zuschauern zu verändern?“ (61) •    „Aufgrund welcher Charakteristika schätzen Teilnehmende und Zuschauende den Prozess im Hinblick auf Fairness, Glaubwürdigkeit und Effizienz ein?“ (61) Die Autoren geben zahlreiche praktische Empfehlungen, wie Dialogprozesse bei Infrastrukturentscheidungen gelingen können. Dazu gehören die frühzeitige Einbeziehung von Entscheidern aus Politik und Behörden, die Klärung der Rollen von Politik und Investor, die Verbindlichkeit von Spielregeln und die Ernsthaftigkeit der „für die Entscheidung maßgeblichen Akteure (Vorhabenträger, Politik) zu Beginn des Vorhabens“ (63), die Beteiligten im Dialogverfahren und deren Vorschläge im Rahmen ihrer Möglichkeiten im gesetzgeberischen Entscheidungsprozess ernst zu nehmen. Schließlich empfehlen die Autoren eine Klärung und „Aufbereitung konfliktärer Themen“ (65). Dabei spielen „Verständlichkeit, Glaubwürdigkeit und die Fähigkeit, Brücken zwischen den Sichtweisen zu errichten“ (66) und eine offensive, aktive Kommunikation Erfolg versprechend. Klare Spielregeln, eine unabhängige, erfahrene Moderationspersönlichkeit und Gesprächskultur gehören ebenfalls zu den Erfolgs- und Wirkfaktoren konfliktär geprägter Dialogprozesse.    

Beobachtete Ergebnisse: Durchwachsen

Das fünfte Kapitel ist das umfangreichste der Studie. Es beschreibt den Runden Tisch Atdorf im Vergleich mit anderen großen Dialogprozessen, hier mit der Pipeline zur Lösung der Salzabwasserproblematik Werraversalzung, der Erweiterung des Flughafens Frankfurt und Stuttgart 21. In diesem Umfeld wird der Atdorf-Dialog als „Konsultation“ charakterisiert (75). Dargestellt werden die Rekrutierung der Teilnehmerinnen, die „Organisation von Expertise und Öffentlichkeit“ (79) und die Art, wie zum Ende des Dialogs die erreichten Ergebnisse einerseits von der Moderation und andererseits von Projektgegnerinnen bewertet werden. Atdorf wird an Hand von qualitativen und quantitativen Analysen ausgewertet. Dazu gehören Teilnehmerbefragungen, Fokusgruppeninterviews, eine Bevölkerungsbefragung und Presseauswertungen. Die Ergebnisse sind durchwachsen. Projektbefürworter haben eine andere Einschätzung des Runden Tisches als Projektgegner. Mit einem Untersuchungsraster aus 12 Determinanten der Zufriedenheit mit dem Runden Tisch (180) lassen sich empirische Schlüsse über die wichtigsten Erfolgsfaktoren ziehen. „Den weitaus stärksten Einfluss auf die Zufriedenheit hat die Erfüllung der Erwartungen auf den Runden Tisch. Je deutlicher die Bürger ihre Erwartungen an den Runden Tisch erfüllt sehen, desto mehr steigt ihre Zufriedenheit“. (180) Was trivial klingt, ist es keineswegs. Deshalb erscheint es notwendig, schon beim Start solcher Dialog- und Moderationsprozesse realistische Erwartungshaltungen zu formulieren., denn nicht erfüllte Erwartungen führen zu „überdurchschnittlich groß[r] Unzufriedenheit der Projektgegner, die sehr hohe Erwartungen an den Dialogprozess gestellt hatten, hierin aber enttäuscht wurden“. (180)  

 

Moderatorenauswahl wichtig

Nicht überraschend ist seit „Stuttgart21“ die Bedeutung der Moderatorenauswahl: „Der zweitstärkste Einflussfaktor ist die wahrgenommene Unabhängigkeit der Moderatorin“. (180) Sowohl ihre moderierende Rolle als auch die inhaltliche Arbeit spielen eine wesentliche Rolle für den Erfolg des Dialogprozesses.  

Kann noch etwas verändert werden?

Und schließlich – auch dies ist in vorhergehenden Dialogprozessen so beobachtet worden – spielt es eine Rolle, ob der Dialogprozess an der Planung noch etwas ändern kann. „Je mehr die Menschen glauben, dass der Runde Tisch Auswirkungen auf Planung besitzt, desto zufriedener sind sie mit dem Beteiligungsverfahren“. (181) Wenn allerdings – wie in Atdorf – fast jeder zweite Bürger glaubt, dass nichts mehr zu ändern ist, wächst die Unzufriedenheit mit dem Dialogprozess. Ebenfalls relevant ist „das Gefühl der Vertretenheit am Runden Tisch“ (181). Wer sich ausgeschlossen fühlt vom Verfahren, steht auch dem Prozess und den Ergebnissen skeptisch gegenüber.  

 

Konfliktlösung nicht in Sicht

Die Schlussfolgerungen sind allerdings nicht berauschend. Zwar hat der „Runde Tisch Einstellungsänderungen bewirkt“ (188). Die empirischen Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Bürger „das Projekt weniger einseitig“ (188) sehen. Aber: „Grundlegende Veränderungen im Bereich des Wissens, Wahrnehmens und Bewertens“ (188) sind weder am Runden Tisch noch bei der Bevölkerung erzielt worden. Zu hohe Erwartungen sind fehl am Platz: „Eine Konfliktlösung ist nicht in Sicht. Die Polarisierung hat sich nicht geändert“. (189) Dies sei aber auch nicht erwartet worden. Was offensichtlich erreicht wurde, waren die Ziele „Versachlichung, Transparenz und Kompetenzzuwachs“. (191)  

Hinweise für Erfolg versprechende Dialogprozesse

In erfreulich knapper Form fassen die Autoren die Kriterien für erfolgversprechende Dialogprozesse zusammen: Dass der Dialog in frühem Planungsstadium beginnen soll, die Landespolitik einbezogen sein soll, dass eine Verständigung mit den Prüfungsbehörden „essentiell“ (201) erscheint, dass der Konflikt von Beginn an realistisch abgebildet wird, wie die Teilnehmenden ausgewählt werden, wie die Spielregeln und Rahmenbedingungen aussehen, wie lange der Dialog dauert (zeitliche Begrenzung), wer moderiert, wie Fachfragen aufbereitet werden, wie öffentlich kommuniziert wird, welche Rolle die Informiertheit spielt (Verständlichkeit, Transparenz, Fairness) und dass ein Abschlussdokument erstellt wird.  

Je früher Stakeholder einbezogen werden, desto eher ist Verständnis zu erwarten

Die empirische Sozialforschung liefert wesentliche Hinweise zur Bewertung von Dialogprozessen bei konfliktgeladenen Infrastrukturprojekten. Wo Infrastrukturvorhaben massive Konflikte auslösen (können), tragen gut gemanagte Dialogprozesse zwar dazu bei, die Diskussion sachlicher und kompetenter zu führen. Wesentliche Einstellungsänderungen bei Projektgegnern sind aber nicht zu erwarten. Je früher die Einbeziehung der Stakeholder erfolgt, um so eher ist gegenseitiges Verständnis im Planungsprozess trotz unterschiedlicher politischer Einstellungen zu erwarten. Professionelle Kommunikation und Moderation sowie ein saubere Konfliktbeschreibung und Aufbereitung spielen eine wesentliche Rolle, um den Dialogprozess zum Erfolg zu führen und die Akzeptanz von Projekten zu verbessern.  

 

Fazit

Ewen, Gabriel und Ziekow haben angesichts der hohen Bedeutung großer Infrastrukturvorhaben eine wichtige Studie zur realistischen Einschätzung von Dialogvorhaben vorgelegt, die an die Stelle von Wunschdenken und normativen Forderungen nachprüfbare empirische Ergebnisse existierender Dialogprozesse setzt. Die Ergebnisse mögen manchen Politiker und Planer enttäuschen, da Wunder bei solchen Dialog-Prozessen nicht zu erwarten sind. Nicht einmal wesentliche Einstellungsänderungen sind zu erwarten. Ungeachtet dessen belegen die positiven Aspekte in Fragen der Versachlichung von Konflikten, der Transparenz und der Teilhabe der Stakeholder, dass sich gut gemanagte Dialogprozesse für den Planungsprozess auszahlen.   Armin König      

Den Kommunen geht es immer schlechter: Finanzprobleme, demografischer Wandel und noch viel mehr

Hubert Heinelt / Angelika Vetter: Lokale Politikforschung heute   Finanzprobleme, demografischer Wandel, europäische Normen, die in nationales Recht umzusetzen sind, verschärfter Wettbewerb, Folgen der Globalisierung – das sind derzeit große Herausforderungen lokaler Politik. Damit verschieben sich in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts auch die Themenfelder der Wissenschaft. Zu den momentan wichtigsten strukturellen Veränderungen zählt der demografische Wandel. Im Fokus stehen unterschiedliche regionale Muster des demografischen Wandels (Bernhard Köppen), Probleme und Perspektiven interkommunaler Kooperation (Jochen Stopper), „Urban Governance in Zeiten der Schrumpfung (Uwe Altrock) sowie Interventions- und Innovationsmöglichkeiten der Politik in schrumpfenden Städten (Birgit Glock). Die Autoren konstatieren einen riskanten Wettbewerb statt Kooperation, große Unsicherheiten in Politik und Verwaltung über mögliche Handlungsfelder und Prioritäten in Zeiten der Schrumpfung und eine verbreitete „Verdrängungshaltung“ gegenüber zu erwartenden Problemen (Glock). Ob Urban Governance mehr ist als eine „Politik der Animation“ (317) in schwierigen Zeiten, ist noch nicht ausgemacht. Ein zweites Politik- und Forschungsfeld betrifft die kommunalen (Finanz-)Interessen im föderalen System der Bundesrepublik. Angelika Vetter Vetter und Lars Holtkamp stellen in ihrem Beitrag „Lokale Handlungsspielräume und Möglichkeiten der Haushaltskonsolidierung in duetschland“ fest, dass der kommunale Handlungsspielraum seit 1985 deutlich abgenommen hat. Stadt- und Gemeinderäte sowie die Bürgermeister sind kaum noch in der Lage, die Politik vor Ort so zu steuern, wie es die kommunale Selbstverwaltung vorsieht. Starke Ausgabenzuwächse für Sozialleistungen, sinkende Investitionen, problematische Kassenkredite und eine Sicherung lokaler Handlungsspielräume „auf Pump“ prägen das Bild vieler Kommunen. Chancen auf eine Besserung sind kaum zu erkennen. Dass das Thema „Schutz der kommunalen Finanzen“ auch ein Problem in Österreich ist, belegt Werner Pleschberger, der Vorschläge zur „Bewältigung einer föderalen Asymmetrie am Beispiel des österreichischen Konsultationsmechanismus referiert. Ein drittes Forschungsfeld betrifft „lokale Politik und europäische Integration“. Mehr und mehr werden Kommunen von Brüsseler Entscheidungen und Vorgaben beeinflusst. Aber Die EU kann auch unterstützen mit ihren milliardenschweren Programmen. Hubert Heinelt und Stefan Niederhafner informieren zum Thema „Städte und organisierte Interessenvertretung im EU-Mehrebenensystem“. Sonja Witte hat in ihrer Dissertation „Einflussgrad der deutschen kommunalen Ebene auf die Politikgestaltung der EU“ Möglichkeiten des Lobbyings in Europa. Das ist auch für Heinelt und Niederhafner ein wichtiger Ansatz. Karsten Zimmermann informiert in „Cities for growth, jobs and cohesion“ über die „implizite Stadtpolitik der EU. Weitere Schwerpunkte des Bandes sind Tendenzen zu einer neuen Welle von Gebiets- und Funktionalreformen (Falk Ebinger/ Jörg Bogumil; Helmut Wollmann) sowie das breite Feld der partizipativer Politik und der Bürgergesellschaft. So referiert Birgit Geißel über die „Evaluation demokratischer Innovationen“  auf lokaler Ebene, während Katja Pähle Bürgerbeteiligung auf kommualer Ebene als „Herausforderung für die Legitimation lokaler Mandatsträger“ betrachtet. Der Sammelband gibt einen sehr guten Überblick über die wichtigsten lokalen Fragen im Zug der gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen. Besprochenes Buch: Hubert Heinelt / Angelika Vetter (Hrsg.)(2008): Lokale Politikforschung heute. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.  

Rohes Öl, rohe Welt, blutiges Geschäft – Peter Maass fordert Windräder statt Haubitzen

  Peter Maass (2010): Öl: Das blutige Geschäft.   Der deutsche Titel klingt nach einer BILD-Schlagzeile: „Öl – Das blutige Geschäft“. Geahnt haben wir es ja immer schon, wie schmutzig das Ölgeschäft ist. Und nun erfahren wir, dass die Öl-Förderer tatsächlich Blut am Schuh haben. Doch das wäre eine zu simple Zusammenfassung dessen, was der renommierte US-Journalist Peter Maass über den wohl wichtigsten Rohstoff der Welt zusammengetragen hat. Dafür ist er ein viel zu guter Rechercheur und ein viel zu brillanter Schreiber, um so eindimensional zu argumentieren. Der Originaltitel ist zweideutig, spielt mit Wortbedeutungen: „Crude World. The Violent Twilight of Oil.“ Das lässt Interpretationen zu. „Crude“ kann barbarisch, grausam, grob und ungehobelt bedeuten, „violent“ steht für gewalt, „twilight“ für Zwielicht und Dämmerung gleichermaßen. Andererseits ist „Crude Oil“ nichts Anderes als Rohöl, der Grundstoff unseres Industriezeitalters. So einfach ist die Welt und doch so kompliziert. Es gibt nicht die eine richtige Ölszenerie. Das Geschäft ist von Land zu Land verschieden. Mal ist es zwielichtig, mal grausam und blutig, mal geht es krude Affären, die so leicht zu durchschauen sind, dass man kaum glaubt, dass sie möglich sind, mal geht es um reine Geschäftsinteressen einer Welt, die auf einen Rohstoff angewiesen ist, von dem sie nicht weiß, ob es ihn noch lange genug in ausreichender Form gibt, weil etwa die Förderländer sich in Geheimniskrämerei üben.  

Recherchen in Elendsvierteln und noblen Lobbyzonen

Peter Maass hat in vielen Twilight-Zones recherchiert, in Elendsvierteln, in Lobbyzonen, in noblen Kreisen. Manches von dem, was er herausgefunden hat, übersteigt alle Befürchtungen, die wir seit „Dallas“ hegen: Wir wissen nun, dass an Öl noch mehr Dreck und Blut und Unglück klebt als an Gold. Die Mischung aus Gewalt, Barbarei, Schattenwirtschaft einerseits und Luxus, Prominenz und Börsenerfolg für die Profiteure des Öl-Business andererseits verblüfft und desillusioniert. Liest man Maass, kommt man zur Überzeugung, dass es abseits der industriellen Nutzbarkeit, dem hohen Energiepotenzial und der Flüssigkeit nichts, aber wirklich nichts Gutes an diesem Rohstoff gibt. Das Beispiel Nigeria spricht Bände: „Als Geologen, die für Shell arbeiteten, in Nigeria Öl entdeckten, verfügte das Land über eine wachsende Industrie und eine gesunde Landwirtschaft. Mit der in Großbritannien ausgebildeten Elite hatte Nigeria 1960, als es unabhängig wurde, beste Aussichten. Das Volk wurde in den Glauben versetzt, der gerade entdeckte Schatz im Delta werde für eine rosige Zukunft sorgen.“ (80) Doch am Ende kam alles ganz anders, obwohl das afrikanische Land im Erdölgeschäft reüssierte. Maass bilanziert nüchtern: „Nigeria, inzwischen der achtgrößte Ölexporteur der Welt, verdiente in den letzten Jahrzehnten mehr als 400 MiIliarden Dollar durch das Öl, doch neun von zehn Bürgern leben von wenige als zwei Dollar pro Tag, und jedes fünfte Kind wird nicht einmal fünf Jahre alt.“ Welche Verkommenheit! Und so lautet auch das Kapitel über die Zustände in Nigeria: Verkommenheit. Denn aus einem aufstrebenden Staat ist ein siechendes Land geworden: „Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt ist nur ein Fünftel dessen, was Südafrika aufweist. Selbst der Senegal, der Fisch und Nüsse ausführt, verfügt über ein größeres Pro-Kopf-Einkommen. Nigerias Reichtumg ist nicht wie durch Magie einfach verschwunden. Er wurde gestohlen – von Präsidenten, Generälen, Managern, Mittelsmännern, Buchhaltern, Bürokraten, Polizisten und jedem anderen, der Zugang dazu hatte.“ (81)    

Konzerne blocken kritsche Journalisten ab

Und was machen die Erdölkonzerne? Sie blocken kritische Journalisten und aufdringliche politische Rechercheure ab. Maass beschreibt, dass die Konzerne meist recht geschickt sind, wenn es darum geht, unbequemen Fragen auszuweichen, was wir zuletzt bei BP in der Deepwater-Horizon-Katastrophe erlebt haben. Zuweilen fördern Untersuchungskommissionen und unerschrockene Journalisten aber doch peinliche Fakten ans Licht. Dass Erdölgesellschaften schmierige Geschäfte mit korrupten Tyrannen gemacht haben, und dass die mit Petrodollars ihre Gegner kaltstellen, foltern und ermorden ließen. Die abgezweigten Millionen konnten Despoten in westlichen Banken unter Umgehung aller Schwarzgeld-Schutzvorschriften gewinnbringend anlegen. Es sind keine Geschichten aus 1001 Nacht, sondern Fakten aus der knallharten Welt des Öl-Business. Die Banken sitzen unter anderem in den USA, der Schweiz und Luxemburg. Und damit sind auch wir Europäer mitten drin im schmutzigen Ölsumpf. Für sein Öl-Buch hat Maass Saudi-Arabien, Russland, Kuwait, Irak, Nigeria, Venezuela, Ecuador, Aserbaidschan, Pakistan und Äquatorialguinea besucht, nachdem er zuvor schon journalistische Erfahrungen in China, Japan, Sudan, Kasachstan, Großbritannien und Norwegen gesammelt hatte. Maass stellt dar, dass schmutzige Petro-Dollars der Saudis fundamentalistische Moslems finanziert haben. Er beschreibt die unselige Entwicklung, die die Demokratie in Russland genommen hat, seit Putin vom Ölreichtum profitiert Und er erzählt ganz und gar unglaubliche Geschichten über die Chuzpe und die Nonchalance, mit der die Ölkonzerne Geschäfte mit Diktatoren und Tyrannen machten und und immer noch machen. Er stellt aber auch noch eine andere kritische Frage: Wie lange wird dieses Öl, von dem wir so abhängig sind, überhaupt noch reichen? Maass kommt zum überraschenden Ergebnis, dass wir nicht einmal bewusst belogen werden, sondern dass sowohl die Erdölförderländer als auch die Erdölkonzerne in dieser Frage auf völlig ungesichertem Grund argumentieren. Maass macht es sich nicht so einfach, zu behaupten, dass die Grenzen des Wachstums erreicht oder überschritten seien. Stattdessen stellt er fest, dass etwa die Saudis ihre Prognosen auf Grund von Fuzzy-Logic-Berechnungen machen, dass aber Recherchen vor Ort dies nicht belegen können. Zwielicht oder Götterdämmerung für den Götzen Öl? Wir wissen es nicht, wir ahnen aber, dass die Knappheit zu fatalen Folgen wie drastischen Preiserhöhungen führen kann. Angesichts all dieser faktenreich belegten Katastrophen aus der „Twilight-Zone“ der Erdölförderung fordert Peter Maass weit reichende Konsequenzen von den Industrieländern: „Wir müssen uns gründlich umstellen. Die oberste Priorität darf nicht mehr lauten, an Öl ranzukommen, sondern muss lauten, vom Öl wegzukommen. Das wäre nicht nur für die Erdatmosphäre bessern, sondern auch für die Menschen, die in Nigeria, Äquatorialguinea, Irak, Iran, Russland und anderen rohstoffreichen Ländern leben.“ Angesichts der unseligen Verbindung zwischen Ölvorkommen und militärischen Interessen der USA fordert Maass Windräder statt Haubitzen. Verknappung und drastische Preiserhöhungen könnten das Umsteuern beschleunigen. Allerdings wird der Schatten des Öls nach Ansicht des kritischen US-Publizisten noch lange nachwirken, und wir werden auch noch länger „vom Öl abhängig und mitschuldig an den verschiedenen Formen physischer, ökologischer und kultureller Gewalt“ sein, die mit der Rohölförderung in einer rohen Welt verbunden sind. Deshalb soll die Übergangsphase weg von fossilen hin zu alternativen Energien möglichst kurz sein. „Zum Glück laufen hier die Lösungen für die Erderwärmung, die Ölverknappung und den Ressourcenfluch zusammen“. (314) Bis dahin will Maass Transparenz bei Öl- und Gasgeschäften, die Offenlegung und Veröffentlichung von Verträgen im Sinne der Initiative „Publish What You Pay“, eine erheblich stärkere Korruptionsverfolgung durch die Regierungen, Sanktionen bei Verstößen und soziale Werte. „Selbst wenn rechtliche Bestimmungen hartnäckig durchgesetzt werden, können sie allein nicht alles regulieren; sie müssen durch einen sozialen Druck ergänzt werden, der jedem sittenwidrigen und ausbeuterischen Profitstreben entgegentritt.“ (312) An der Stelle sind die Konsumenten und die Mitbewerber gefragt, Korruption und Blutgeld zu ächten. Gleichzeitig sollten die „Regierungen auf eine gute Staatsführung in instabilen, aber rohstoffreichen Nationen hinwirken.“ Hier heißt der Schlüsselbegriff Good Governance, der mittlerweile weltweit ein Rolle spielt. Das große Ziel aber ist eine Welt, die sich auf neue, umweltfreundlichere Rohstoffe stützt. Wenn wir wirklich Abschied vom Öl nähmen, langsam aber sicher, könnte dies die Welt ein Stück sicherer machen – und überlebensfähiger. Peter Maass legt schonungslos offen, wie Öl Korruption fördert, Gewalt und Militäreinsätze provoziert und die Umwelt ruiniert. Sein Aufklärungsbuch zeigt, warum wir den Schalter umlegen müssen und wie wir den Umstieg in eine ökologischere Welt schaffen können. Dieses Sachbuch ist uneingeschränkt empfehlenswert.   Armin König   Besprochenes Buch: Peter Maass (2010): Öl: Das blutige Geschäft. München: Droemer. 19,95 €. ISBN 978-3-426-27529-0    

Vogl und das Gespenst des Kapitals

Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals (2010). Zürich: Diaphanes Verlag   Joseph Vogl schreibt brillant über “Das Gespenst des Kapitals”. Selten habe ich einen solch geistreichen Kommentar dazu gelesen.   Aber das ist ja auch kein Wunder: Vogl ist Kulturwissenschaftler und nähert sich seinem Thema literaturwissenschaftlich. Er bestätigt, was Nassim Nicholas Taleb (“Der schwarze Schwan”) uns zuvor schon vermittelt hatte: Dass die angeblich so objektive Wirtschaftswissenschaft ein Tummelplatz für irrationale Theorien und Theoreme ist, die auf fiktionalem Grund aufgebaut sind. Schön, wenn Vogl fragt, ob die irrationalen Exuberanzen wirklich Ausnahmefälle kapitalistischer Ökonomie sind. Den Glauben an die unsichtbare Hand des Marktes habe ich mit diesem schlanken Büchlein endgültig verloren. Alles Spekulation und Blase und Übertreibung und Stochern im Nebel! Gespensterdebatten halt…   Armin König    

Kinder und Jugendliche als Mitmischer

Tanja Betz: Partizipation von Kindern und Jugendlichen   Die Forschung zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen hat in jüngster Zeit erheblich an Drive gewonnen. Maßgeblich dafür ist nicht zuletzt das Deutsche Jugend-Institut DJI mit seiner empirischen Ausrichtung und seinen fundierten Analysen und Befunden zu Chancen und Grenzen der Teilhabe junger Menschen. Tanja Betz, Wolfgang Gaiser und Liane Pluto haben einen Sammelband mit den wichtigsten Forschungsergebnissen, Bewertungen und Handlungsmöglichkeiten aus DJI-Studien zusammengestellt. Er belegt, dass man Kinder und Jugendliche nicht mehr „auf Probehandeln und Spielwiesen“ (5) partizipativer Art begrenzen kann. Der kompakte Sammelband versammelt eine Vielzahl renommierter Jugend- und Partizipationsforscher, die die wichtigsten Themen der Kinder- und Jugendbeteiligung sehr fundiert und gut verständlich analysieren. Dies reicht von der Partizipation in Familie und Schule über Jugendverbände und Vereine, Heimerziehung und politische Vereinigungen bis hin zum Web 2.0. Im ersten Teil werden Kinder und Jugendliche als partizipative Akteursgruppen beschrieben. Dabei geht es um den Komplex der gesellschaftlichen und politischen Beteiligung Jugendlicher und junger Erwachsener bis 33 Jahr und um Argumente und Daten zu Herabsetzung des Wahlalters. Drei der fünf Beiträge werden von Johann de Rijke mitverantwortet, der zu den profundesten Kennern des DJI-Jugendsurveys gehört. Im zweiten Teil werden institutionelle Umgebungen beschrieben, in denen Partizipation stattfinden kann. Ein besonderer Schwerpunkt wird auf Partizipation in Ganztagsschulen gelegt. Analysiert werden auch die Kinder- und Jugendhilfe allgemein und die Heimerziehung im Besonderen. Den Abschluss bilden Vorschläge zur Stärkung der Kinder- und Jugendpartizipation durch staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure. Dank der Abstracts, des Vorworts von Roland Roth und der Zusammenfassung der Herausgeber ist dieser Sammelband rundum gelungen. Er zeichnet „ein präzises Bild der Ansätze, Motive, Praxisformen und neueren Entwicklungen in der Kinder- und Jugendbeteiligung der Bundesrepublik.“ (9)   Tanja Betz, Wolfgang Gaiser, Liane Pluto (Hg.)(2011): Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Forschungsergebnisse, Bewertungen, Handlungsmöglichkeiten. Unter Mitarbeit von Bettina Arnoldt, Bernhard Babic, Tanja Betz, Sandra Ebner, Christine Feil, Wolfgang Gaiser, Martina Gille, Ursula Hoffmann-Lange, Elke Kaufmann, Susanne Klingelhöfer, Wolfgang Krug, Thomas Olk, Liane Pluto, Holger Quellenberg, Johann de Rijke, Roland Roth, Pia Rother, Anna Schnitzer, Christine Steiner, Heinz-Jürgen Stolz, Claus Tully, Franziska Wächter, Diana Zierold   Armin  König    

Ego – Es wächst ein neues soziales Monster heran

Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Leben   Auf der Grundlage einer gewagten Prämisse hat Frank Schirrmacher seinen neuen Bestseller geschrieben. “Es wächst ein neues soziales Monster heran, das aus Egoismus, Misstrauen und Angst zusammengesetzt ist und gar nicht anders kann, als im anderen immer das Schlechteste zu vermuten. Und nichts, was man sagt, bedeutet noch, was es heißt.” Da hat nun einer wirklich Mut gehabt. Und zwar ein Top-Journalist aus dem Tempelbezirk des Neoliberalismus. Chapeau! dass einer der prominentesten Tempelritter aus dem Heiligen Gral des medialen Neoliberalismus die Courage und die Chuzpe hat, einen solchen Totalverriss der egoistischen neoliberalen Wirtschaft zu schreiben und damit vor allem der Managerkaste in die Suppe zu spucken, die die schwarze Milch der Egotripper seit Jahr und Tag als Wahrheitsserum schlürft. Aber es gibt auch ernsthafte Kritik an Schirrmachers Sachbuch/Erzählung/Traktat. Es ist ein grelles Buch. Frank Schirrmachers “Ego –  Das Spiel des Lebens” hat heftige Reaktionen provoziert und Kritiker und Leserschaft gespalten. Sicher: Das Thema trifft einen Nerv, Kapitalismuskritik verbindet sich mit dem großen Unbehagen an einer radikalen Ökonomisierung und Digitalisierung der Welt. Das Buch besteht aus zwei Teilen und handelt vordergründig von der Spieltheorie, hintergründig von der Entstehung eines Monsters, das den Menschen zu einer nicht mehr selbst handlungsfähigen fremdgesteuerten Maschine macht. Teil 1 heißt “Die Optimierung des Spiels” und beginnt mit dem für das ganze Buch wegweisenden Satz “Das Militär sucht eine Antwort auf die Frage, wie man sich egoistisch verhält”. Laut Schirrmacher haben US-Militärs und -Ökonomen unter dem Dach der “Rand Corporation” zu Beginn der Fünfzigerjahre die “Spieltheorie” entwickelt, um das Verhalten der Sowjetunion und der Kommunisten im Kalten Krieg voraussagen zu können. Und als der (kalte) Krieg zu Ende ist, zieht es die gefühlskalten Mathematiker-Spieler an die Wall Street, und dort sind sie im Kampf der Neoliberalen erst richtig gut aufgehoben. Hier im Echtzeit-Handel der Automaten kommt ihre große Stunde. Niemand hält sie und ihre mathematischen Monster mehr auf. Ihr Handeln passt zur Ideologie der Neoliberalität, nach der Menschen im Sinne Adam Smith’s vor allem aus egoistischen Motiven handeln und sich am Eigeninteresse orientieren. Konsequenterweise folgte auf die Optimierung des Spiels die “Optimierung des Menschen” (Teil 2), nachdem Schirrmacher zuvor in 22 Schlagzeilen-Kapiteln Begriffe wie “Prophezeiung”, “Monster”, “Massaker”, “Android”, “Schizophrenie” “Politik”, “Matrix”, Big Data und Unterwerfung eingeführt hatte. In den Gebrauchsanleitungen für das Leben haben die “Alchemisten” die “Verwandlung der Seele”, die schöpferische Zerstörung mit “Death Dating” und Reengeneering” zwingend vorgesehen, bevor erst das “Du” im “Massenwahn” der “Auslöschung von Zeitsequenzen” zum Opfer fällt, bis am Ende nur noch “Ego” steht. Und an der Stelle sagt Schirrmacher: Stopp. Schluss mit dem Wahnsinn. Nicht mehr mitspielen! Es ist an der Zeit. Schirrmachers Befund: Wir alle sind nur noch Marionetten von Spielern, die mit uns machen, was sie wollen. “Das Monster” Spieltheorie, für den Kalten Krieg entwickelt, hat sich in Wirtschaft und Alltag ausgebreitet. Emotionen werden ausgeblendet. Gewinnen kann nur, wer egoistisch seine Bahn zieht: An der Wall Street, in den Hedgefonds, in den Großkonzernen, bei Verträgen, im Sport, im Alltagsleben, im Beruf. In unseren Haushalten hat das emotionslose Monster “Nr. 2″, unser egoistisches Alter Ego, längst Einzug gehalten, um auch uns zu manipulieren. Mega-Ego “Nr. 2″ will angeblich “in die Köpfe der Menschen eindringen, um Waren und Politik zu verkaufen.” Dieses egoistische Wesen, das nur auf seinen Vorteil aus ist, scheint ja tatsächlich überall präsent. Der Homo oeconomicus beherrscht und manipuliert alles. Und wir denken: Endlich schreibt ein Kronzeuge aus dem Tempeldistrikt der kapitalistischen Weltanschauung – FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher -, was wir alle immer schon lesen wollten: dass das nicht unser Wirtschaftssystem ist. Wo Kooperation durch blanken Egoismus verdrängt ist, wo Menschen zu Maschinen werden, Algoritmen Emotionen ersetzen, wo Wirtschaft nichts anderes als eiskalter Krieg ist, bleibt nur noch Monster-Ökonomie.
 
Schirrmachers Kritik am Homo Oeconomicus ist beißend, sie ist knallig vorgetragen, und sie ist im Kern richtig. Das ist das Gute an Schirrmachers Philippika gegen die Diktatur der Zahlenfetischisten und Börsenspekulanten, der Spieltheoretiker und der Wallstreet-Krieger, der Controlling-Fanatiker und Algoritmen-Tyrannei im 21. Jahrhundert. Auch als Steinbruch für Kapitalismuskritiker kann Schirrmachers “Monster-Maschinen”-Stürmerei gut genutzt werden. Das haben Christian Schlüter (FR), Andreas Zielcke (SZ) und Thomas Assheuer (ZEIT) lobend herausgestellt. Aber das Buch hat auch erhebliche Schwächen: Es ist zu lang, phasenweise unstrukturiert und oft effekthascherisch. Cornelius Tittel hat in der WELT in einem Fundamental-Verriss das Buch des FAZ-Herausgebers regelrecht auseinandergenommen. Kalt lächelnd stellt er Schirrmachers Kompetenz als Zeithistoriker in Frage, um schließlich auf die entscheidende Schwäche des Buches einzugehen: die “Verteufelung der Spieltheorie als Waffe der mad scientists im Kalten Krieg”. Recht hat Schirrmacher schon mit der Behauptung, dass die Spieltheorie vor allem die nonkooperative Verhaltensweise im Blick hat. Aber es gibt eben auch die kooperative Variante, auch wenn es dafür keinen Nobelpreis gab. Tittels kleine Sottise: “Die Vorstellung, die Spieltheorie mache aus Menschen Monster, kann sich also nur entwickeln, wo die Vernunft schläft.” Auch Schirrmachers “Referenz-Monster” John Nash und Kenneth Binmore lässt WELT-Kritiker Tittel nicht als solche gelten. Nash sei sehr krank gewesen, wie auch der oscarprämierte Film “A Beautiful Mind” erzählt habe, und Binmore setze sich für Fairness im Sinne John Rawls ein. Punkt für Tittel. Der kritisiert mit Recht Schirrmachers wenn nicht schlampiges, so doch selektives Zitieren, das auch mir unangenehm aufgefallen ist und kommt zum Schluss: “Wo man auch bohrt, es sind denkbar dünne Bretter, aus denen Schirrmacher ein windschiefes Gedankengebäude zimmert.” Ich kann allerdings Tittels Totalverriss ganz und gar nicht teilen! Mir imponiert sein Buch.   Fazit Schirrmacher hat eine gewagte Prämisse zur Grundlage eines provokativen Buchs gemacht. Respekt, dass einer der prominentesten Tempelritter aus dem Heiligen Gral des medialen Neoliberalismus den Mut hat, einen solchen Totalverriss der egoistischen neoliberalen Wirtschaft zu schreiben und damit vor allem der Managerkaste in die Suppe zu spucken, die die schwarze Milch der Egotripper seit Jahr und Tag täglich gierig trinkt. Dass Egoismus in vielen Lebensbereichen prägend geworden ist, dass Algoritmen Emotionen verdrängt haben, dass Menschen sich als Marionetten fühlen, all dies ist treffend beschrieben. Der Rest ist Essay und Feuilleton. Man kann ja aussteigen, wie Schirrmacher treffend schreibt. Aber hätte für die Story dann nicht auch ein 80-Seiten-Essay gereicht?   Besprochenes Buch Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens. Blessing.   Dr. Armin König

Kommunale Intelligenz Potenzialentfaltung in Städten

  Gerald Hüther – Kommunale Intelligenz. Potenzialentfaltung in Städten und Gemeinden Das ist mal eine Überraschung: Ein renommierter Hirnforscher fordert uns auf, den “Erfahrungsraum Kommune wiederzubeleben und radikal umzudenken.” Das ist eine Revolution: Nicht mehr die “bedeutenden” Bundes- und Landespolitiker werden als die wichtigen Player angesehen, sondern die Basisarbeiter(innen) in den Kommunen. Denn die haben Power, haben Potenzial, können trotz Finanzkrise etwas bewegen. Hüther plädiert für ermutigende und inspirierende Kinder- und Jugendarbeit. “Dazu brauchen Kinder und Jugendliche hinreichend offene und komplexe Freiräume zum eigenen Entdecken und Gestalten. Vor allem aber brauchen sie Menschen, die bereits über ein breites Spektrum an Erfahrungen verfügen und mit denen sie sich emotionale verbunden fühlen, die sie wertschätzen und die sie als Orientierung bietende Vorbilder für ihre eigene Weiterentwicklung akzeptieren.” Recht hat er. Wer als Jugendlicher in den 1970er Jahren sozialisiert wurde, hat genau dies erlebt – zum Teil natürlich auch in Abgrenzung und im Kampf gegen Erwachsene, die aber ihrerseits Raum zum Kämpfen und Abarbeiten boten.   Hüthers Ansatz: Der Mensch lernt nur, was ihn begeistert. Nur, was mit unserer Erfahrungswelt zu tun hat und was wir in Beziehung zu anderen erfahren, etabliert neue und dauerhafte neuronale Verknüpfungen – Voraussetzung für wirklichen Lernerfolg. Kommune, das ist viel mehr als eine Verwaltungseinheit, das sind wir alle. Kommune bedeutet ursprünglich »Gemeinschaft«: die Familie, das Dorf, die Stadt. Das sind die wahren Lernorte, für Kinder wie für Erwachsene. Hier lernt der junge Mensch, worauf es im Leben ankommt, wie man gemeinsam mit anderen sein Leben gestaltet und Verantwortung übernimmt. Diesen entscheidenden Erfahrungsraum wiederzubeleben, erfordert ein radikales Umdenken: eine neue Beziehungskultur. So wie das Gehirn nicht immer größer wird, aber sich ständig weiterentwickelt, können auch Städte und Gemeinden wachsen: nicht durch ein „immer mehr“, sondern durch die Verbesserung der Beziehungen. Vitalität, Begeisterungsfähigkeit, Mobilisierung, Freiräume – all dies klingt natürlich ganz anders als die Formeln, die Center-Manager, Event-Manager und andere Stromlinien-Ökonomisierungs-Manager verkünden. Und es klingt anders als die Totspar-Forderungen, die von Bund und Land und von der Wirtschaft gegenüber den Kommunen erhoben werden… Wenn Hüther sich mit seiner Forderung durchsetzt, kommunale Intelligenz wieder zu beleben, indem Beziehungen gestärkt werden, in dem Quartiere zu Lernorten für Kinder, Familien, Erwachsene werden, dann ist dies eine echte Chance für die in den letzten Jahren stark gebeutelte kommunale Ebene. In der Verlagsankündigung heißt es: „Kommunale Intelligenz“ ist ein Aufruf, heute, vor Ort, mit einer neuen Lern- und Beziehungskultur zu beginnen. Jede Veränderung beginnt im Kopf, und sie manifestiert sich in vielen einzelnen Schritten.“ Das trifft zu. Veränderung ist notwendig. Sie beginnt vor Ort mit dem ersten Schritt. Also: Mut zur Veränderung, Mut zum Rebellentum, Mut zur Beziehungspflege, Mut zu neuen Wegen, Mut zu kommunaler Intelligenz.   Fazit: Kommunale Intelligenz lohnt sich. Gerald Hüther hat ein gut lesbar, wichtiges kleines Buch zu einem bedeutenden Thema geschrieben. Noch ist es ein Nischenthema. Vielleicht wird daraus ja ein neuer Trend.     Besprochenes Buch Gerald Hüther – Kommunale Intelligenz. Potenzialentfaltung in Städten und Gemeinden. Edition Körber-Stiftung. 12 €

   Armin König      

Von Graffiti bis Pussy Riot Unkonventionelle Partizipation

Dorothée de Nève, Tina Olteanu: Politische Partizipation jenseits der Konventionen Pussy Riot, Flashmobs und Occupy Wallstreet sind nur die spektakulärsten Protestformen, die in den letzten Jahren für Schlagzeilen gesorgt haben. Für Dorothée de Nève und Tina Olteanu sind diese dynamischen Formen politischer Partizipation ein Teil des Forschungsfelds zu konventionellen Beteiligungsformen und zu aktuellen Entwicklungen der Zivilgesellschaft. Die beiden Herausgeberinnen haben an zwei Fachkonferenzen (unter anderem der Dreiländertagung der DVPW, der ÖVPW und der SVPW) Panels zu neuen Partizipationsformen organisiert. Aus der gemeinsamen Arbeit mit Projektpartnerinnen und -partnern ist dieser strukturierte Themenband entstanden. Er erweitert den Forschungsstand konventioneller Partizipation um den zunehmend wichtigeren Ansatz der unkonventionellen Beteiligungs- und Protestformen. Hohe Aktualität, hohe Relevanz und innovative strategische Potenziale kennzeichnen diese unkonventionellen Partizipationsformen – von Graffiti über Predigten, LeserInnenbriefe, Paypal-Unterstützung, Facebook- und Twitterkommunikation. Damit werden auch neue Akzente im Forschungsfeld gesetzt – für die Herausgeberinnen nicht nur eine wissenschaftliche Herausforderung. Für sie „eröffneten die eigenen Recherchen und der neuentdeckte Zugang zu anderen Quellen der empirischen Forschung neue Erkenntnisse und waren nicht zuletzt mit einem nicht zu unterschätzenden Spaßfaktor verbunden.“ (7) Es ist selten, dass PolitikwissenschaftlerInnen diese Lust am Forschen so offen bekennen. Aber das Recherchefeld macht diesen Spaßfaktor offenkundig: „Dies gilt besonders für die eigene Fotodokumentation der Graffiti, die wir seit 2005 betreiben, aber auch für die Recherchen zu Flashmobs und die Lektüre von LeserInnenbriefen und Predigten.“ (7) Dass Partizipation mittlerweile sehr facettenreich ist und dass in Twitterzeiten auch bisher eher privat eingeschätzte Instrumente allgemeinpolitisch relevant werden können, wird in dem Sammelband unter Beweis gestellt. An die Stelle klassischer konventioneller Partizipationsformen sind vielfach neue Formen getreten, die den AkteurInnen mehr Einflussmöglichkeiten gewähren. Die Aufsätze im Sammelband präsentieren Teilergebnisse der Forschung zur Partizipation jenseits der Konventionen, die eine große Bandbreite unkonventioneller Partizipationsformen und -instrumente dokumentieren. Zwar handelt es sich bei der Fallauswahl nur um einen Ausschnitt aus der Vielzahl unkonventioneller Partizipationsformen, doch gelten die vorgestellten Formen nach Ansicht der Herausgeberinnen als relevant, weil sie derzeit in Deutschland wiederentdeckt oder politisch belebt wurden oder weil sie völlig neu sind. Als Untersuchungsraster für alle Autorinnen und Autoren dienten vier Leitfragen: „Wie werden diese Partizipationsformen definiert und typologisch eingeordnet?“, „Welche Funktionen erfüllen diese Partizipationsformen in der Funktionslogik demokratischer Systeme?“, „Welche Inklusionspotenziale haben diese unterschiedlichen Partizipationsformen?“ und „In welcher Beziehung stehen diese Partizipationsformen zu anderen Formen der politischen Partizipation“. (16) In ihren Studien nutzen die AutorInnen eigene, teils ungewöhnliche Quellen. Damit ergänzen sie die bisherigen Forschungen um unkonventionelle Partizipationsformen, die keineswegs randständig oder gar vernachlässigbar sind. Mit diesem durchaus unkonventionellen Ansatz wird die klassische Partizipationsforschung eindeutig bereichert. Dr. Dorothée de Nève ist Politikwissenschaftlerin und lehrt an der Fernuniversität Hagen als Vertretungsprofessorin im Lehrgebiet „Staat und Regieren“. Forschungsschwerpunkte sind politische Partizipation, Governance und Zivilgesellschaft sowie Politik und Religion. Dr. Tina Olteanu ist Politikwissenschaftlerin. Sie ist Universitätsassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien im Bereich Transformationsprozesse in Mittel-, Ost – und Südosteuropa. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Demokratieforschung, Transformations-, Partizipation- und Korruptionsforschung.

Themenblock 1: Konventionen beleben

Im Aufsatz „Protest bis zur letzten Instanz – Massenverfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht“ untersucht Christian Schreier das konventionelle Instrument der Verfassungsbeschwerde in einem neuen Kontext. Als „Massenverfassungsbeschwerde (MVB)“ (29) gewinnt sie eine völlig neue Relevanz und trägt damit dazu bei, „durch Störung des politischen Machtkreislaufs Handlungsdruck“ (29) durch zivilgesellschaftliche Akteure aufzubauen. Wichtig ist dabei vor allem die Kommunikation der MVB über Massenmedien, um auf diesem Weg „die Implementation eines Gesetzes oder einer Rechtsnorm zu verhindern“ (29). Die MVB gilt mittlerweile als etabliertes Instrument, mit dem die Zivilgesellschaft auf innovative Form gesellschaftliche Anliegen mit hoher Relevanz vermitteln und damit Kontrolle ausüben kann. Ursprung der Massenverfassungsbeschwerde in Deutschland war die Verabschiedung des Volkszählungsgesetzes 1983. Kurz vor dem Stichtag der Zählung am 27. April 1983 setzte eine Protestbewegung ein, die von der Bundesregierung und den Parlamentsfraktion stark unterschätzt wurde. Eingereicht wurden schließlich 1314 Verfassungsbeschwerden. Die Kritik richtete sich vor allem gegen die Absicht des Gesetzgebers, Volkszählungsdaten zum Abgleich für die Melderegister zu verwenden. Protestiert wurde aber auch gegen Art und Umfang des Fragebogen und der Fragen, weil diese Rückschlüsse auf die Identität des Befragten zuließen. Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 15. Dezember 1983 war die Volkszählung aufgrund einer einstweiligen Verfügung des Gerichts zunächst ausgesetzt. Das Gesetz wurde schließlich in Teilen für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt. Zwar lief der Protest ins Leere, weil „die Volkszählung damit nicht vom Tisch war, sondern einige Zeit später unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben stattfinden“ (31) konnte. Aber das Bundesverfassungsgericht nahm die Massenverfassungsbeschwerden zum Anlass, seinerseits „die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Datenschutzes umfassender zu prüfen.“ (Präambel des BVerGs-Urteils 1 BvR 209; 269; 362; 420; 440; 484/83 vom 15.12. 1983) Es etablierte auf Initiative der zahlreichen Verfassungsbeschwerden ein eigenständiges Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitrechts. Das war Meilenstein und Paradigmenwechsel zugleich. „Die öffentliche Aufmerksamkeit sorgte dafür, dass politische Akteure es nicht riskieren konnten, sich öffentlich gegen diese Entscheidung zu positionieren, ohne die Gefahr einzugehen, von der Öffentlichkeit abgestraft zu werden.“ (32) Erfolg hatte auch die MVB gegen die Vorratsdatenspeicherung. Zunächst erließ das BVerfG im März 2008 eine einstweilige Verfügung. Im März 2010 wurde das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung endgültig gestoppt. In Folgeverfahren hat das Bundesverfassungsgericht allerdings deutlich gemacht, dass es sich auch durch MVBs nicht instrumentalisieren lässt, etwa bei der MVB von Apotheken gegen das Beitragssicherungsgesetz und gegen den Zensus 2011. Massenverfassungsbeschwerden sind ein konventionelles Mittel, das bei innovativem Einsatz und kompetenter juristischer Vertretung hohe mediale Aufmerksamkeit, eine längerfristige Beeinflussung der Entscheidungsträger und eine hohe Mobilisierungswirkung bei beschränktem finanziellen Mitteleinsatz verspricht. „Die InitiatorInnen übernehmen dabei die klassische zivilgesellschaftliche Funktion der Themenanwaltschaft für ein spezifisches Thema und einen begrenzten Zeitraum“. (42) Unverkennbar ist die Nähe zu innovativen partizipatorischen Planungsansätzen wie der Anwaltsplanung. MVB tragen damit zur Gewaltenkontrolle und zur Gewaltenteilung bei. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Vertrauen in die neutrale Rolle des BVerfG als eigenständiges Verfassungsorgan, dem „kein machtpolitisches Kalkül unterstellt“ (46) wird. Um Rechtsmobilisierung für politische Zwecke geht es auch im Aufsatz von Gesine Fuchs: Sie untersucht „Strategische Prozessführung als Partizipationskanal“ (51) Der Ansatz ist also umfassender als die Massenverfassungsbeschwerde. Es geht darum, Rechtsschutz und strategische Prozessführung zum Agenda-Setting und zum Kippen umstrittener Normen zu nutzen. „Dadurch lässt sich dann idealerweise politischer Druck für sozialen oder gesetzgeberischen Wandel erzeugen“ (51). Die Autorin nennt in diesem Zusammenhang die „Gleichstellung von Frau und Mann im Erwerbsleben“ (59), das Antidiskriminierungsrecht insgesamt, das Thema Transsexualität und das weite Feld von Natur- und Umweltschutz. Sie sieht Erfolgsaussichten vor allem, wenn prägnante Einzelfälle musterhaft dazu führen, über die Klage von kleinen Minderheiten oder Einzelpersonen politische Outcomes zu erzielen, die politische Paradigmen verändern. Meist wird strategische Prozessführung von Organisationen und politisch engagierten AnwältInnen unterstützt, die auf Lücken im Gesetz, bisher ungelöste Probleme grundsätzlicher und grundrechtlicher Art und auf die fehlende Umsetzung verfassungs- und europarechtlicher Fragen abzielen. „Strategische Prozessführung ist nicht auf Massenmobilisierung angewiesen“ (69) und findet meist im Kontext mit Empowerment von Teilen der Zivilbevölkerung und Öffentlichkeitsmobilisierung statt. In diesem Bereich sind noch große Forschungsdesiderate festzustellen. Der Aufsatz von Daniel Baron untersucht „Politische Partizipation durch Losentscheid“, ein aus historischer Sicht konventionelles Verfahren. Solche „aleatorischen Rekrutierungsverfahren“ (75) – gewissermaßen „politische Lotterien mit dem Ziel, eine möglichst große Anzahl an BürgerInnen an politischen Beratungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen“ (75) – ersetzen die demokratische Wahl durch den Zufall. Was auf den ersten Blick völlig außergewöhnlich erscheint, ist auch in der Moderne durchaus erprobt, etwa bei aleatorischen Rekrutierungsverfahren für „Planungszellen, Bürgerhaushalte, Deliberative Opinion Polls“ (82). Völlig neu ist dagegen die Idee eines „European House of Lots“ (88), eines Lossystems für eine zweite europäische Kammer mit Gesetzes-, Initiativ- und Vetorecht.  

Themenblock 2: Konventionen politisieren

Zu den klassischen unkonventionellen Formen der politischen Partizipation gehören LeserInnenbriefe. Untersucht wird ihre Funktion unter dem Untertitel „BürgerInnen melden sich zu Wort“ (105 ff.) von Dorothée de Nève. Sie kommt zum Ergebnis, dass LeserInnenbriefe „ein unaufwändiges und vergleichsweise kostengünstiges Partizipationsinstrument“ (110) sind, dass sie zum „Agenda-Setting“ (110) und zu Meinungsbildungsprozessen beitragen können. Während die LeserInnenbriefe für die Redaktionen lange Zeit eher die Funktion von Lückenfüllern und der Stärkung der Blattlinie hatten, gelten sie heute viel eher als viel beachtetes Instrument, um Interessen zu artikulieren, das Verhalten von Behörden zu kritisieren, politische Institutionen zu kontrollieren und BürgerInnenthemen öffentlich zu kommunizieren. „Interessant sind in diesem Kontext nicht nur neue Themenangebote, die möglicherweise in der medialen Öffentlichkeit ansonsten wenig Beachtung finden, sondern auch neue Interpretationsangebote, wenn beispielweise bestimmte Sachverhalte in einen individuellen, neuen thematischen Zusammenhang gestellt werden“ (109). Allerdings bleibt für BürgerInnen das Problem der Gatekeeper. „Zahlreiche Einmischungsversuche der BürgerInnen bleiben erfolglos, weil sich die Redaktionen entscheiden, die Briefe nicht oder nur in gekürzter bzw. veränderter Form zu publizieren.“ (124) Der LeserInnenbrief in seiner Partizipationswirkung ist also direkt, praktisch einsetzbar und unaufwändig, seine Erfolgsaussichten sind zwar begrenzt. Positiv ist aber die „weitverbreitete Nutzung dieses Instrumentes“ (124). Predigten als Form der politischen Partizipation“ werden ebenfalls von Dorothée de Nève unter dem Titel „Anfangen aufzuhören“ unter die Lupe genommen. Sie spielten bisher als Quelle der Partizipationsforschung keine nennenswerte Rolle. Zentrales Thema dieses unkonventionellen Ansatzes sind Predigten zu Fukushima und zum Tsunami vom 11. März 2011. Insgesamt werden 19 Predigten analysiert, die im März und April 2011 in christlichen Kirchen in Deutschland gehalten wurden. Das Verhältnis zwischen Politik und Religion geht von einer „Interdependenz von Religion und politischer Partizipation“ (149) aus. Allerdings gilt der Adressatenkreis als begrenzt: „Die Predigten erreichen nur einen ausgewählten Kreis der GottesdienstbesucherInnen und durch die mediale Weitervermittlung dann zusätzlich einen etwas erweiterten Kreis anderer Interessierter“. (170) Diese aber haben die Chance zur Selbstverständigung, zur Identitätsstiftung, zur Willensbildung. „Denn Predigten erheben den Anspruch, die Willensbildung einer spezifischen, d.h. wertorientierten und religiösen Perspektive zu betreiben“ (171), wie de Nève schreibt. Die exklusiven Tendenzen sind dabei aber auch nicht zu vernachlässigen. Zwischenfazit ist, dass es „neue Aufgaben für die künftige Forschung“ (171) gibt, die die Politikwissenschaft vor beachtliche Herausforderungen stellt. „Graffiti – Schmiererei oder politische Partizipation?“ lautet das Thema für Tina Olteanu. Ergänzt wird dieser Aufsatz durch „visuelle Interventionen“ von tatsächlichen Graffiti, einem Bildteil mit Spaßfaktor. Mit der dokumentarischen Bildanalyse wird die Funktion der Graffiti untersucht, die keineswegs nur ein kulturwissenschaftliches Phänomen, sondern auch politisch-gesellschaftlich relevant sind. Die politikwissenschaftliche Analyse wird ergänzt durch Interviews mit drei AktivistInnen aus Deutschland und Österreich. Eine entscheidende Rolle spielt „die visuelle Präsenz im öffentlichen Raum“ (180), meist dort, wo dies offiziell nicht erwünscht ist. „Die Il-/Legalität ist damit auch Teil der transportierten Botschaft“. (180) Das Fazit der Autorin: Der Kreis der Graffiti-Produzenten ist klein, der Kreis der Rezipienten dagegen unbegrenzt. „Dadurch wird auch eine Öffentlichkeit für randständige Themen hergestellt“. (199) Partizipationstechnisch gibt es Verbindungen zu anderen Beteiligungsformen. „Durch Tendenzen der Kooptation von Graffiti durch etablierte politische Akteure wie Parteien und Werbeindustrie verlieren Graffiti ihren subversiven Charakter und stehen an der Schwelle zur Konvention. (199)  

Themenblock 3: Konventionen erfinden

Die Beiträge im dritten Themenblock richten sich insbesondere auf das innovative Potenzial unkonventioneller Partizipationsformen. Sara Göttmann untersucht, ob die mittlerweile so verbreiteten Flashmobs noch unkonventionell sind oder ob die Schwelle zum Konventionellen bereits überschritten ist: „Und alle so: ‚Yeaahh? – Flashmobs als Form politischer Partizipation“. (231ff.) Vom „Yeaahh-Flashmob am Hamburger Gänsemarkt über die offizielle Campact-Kampagne gegen die Kopfpauschale bis hin zum „Bud-Spencer-Tunnel“-Online-Flashmob reichen die untersuchten Flashmob-Formen. Sie werden als zeitgeist-geprägte „Bereicherung des Spektrums von Partizipationsmöglichkeiten“ (250) gesehen, die flexibles „Selbst-Handeln“ (251) ermöglichen. Pauschale Urteile sind nicht möglich. Vom Spaß-Flashmob über den politischen Protest bis hin zum konkreten gesellschaftlichen Handeln gibt es viele Variationen dieses unkonventionellen Mittels, Öffentlichkeit herzustellen. „Kopiert, kommerzialisiert, kooptiert: Die Aneignung von Partizipationsformen jenseits der Konventionen durch Wirtschaftsakteure“ lautet der Titel eines Beitrags von Eva Maria Hinterhuber und Simon Möller. Werbung spielt im Sinne des Guerilla Marketing „mit Motiven, die sie zivilgesellschaftlichen Kontexten entleiht“. (205) Das kann für beide Seiten problematisch werden. Wenn aus politischem Protest ein harmloser modischer Catwalk wird, ein Laufsteg der Eitelkeiten für unangepasste Diesel-Jeans-Trägerinnen, ist dies auch eine Auseinandersetzung um Deutungshoheit zwischen Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Das führt zu Spannungen, weil es eine „Auseinandersetzung um Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ (207) und um Moral zwischen unangepassten zivilgesellschaftlichen Kapitalismuskritikern und kommerzbestimmten Wirtschaftakteuren ist. Als weiteres Beispiel wird eine Kampagne des Stromkonzerns Entega genannt, der im Sinne des Guerilla-Marketings unter Nutzung sozialer Netzwerke eine Schneemann-Demo gegen Klimawandel initiiert hatte, dabei aber rein geschäftliche Interessen zur Neuerschließung des Berliner Markts im Sinn hatte. Dieses Beispiel zeigt auch die Gefahren, die die Usurpation von unkonventionellen zivilgesellschaftlichen protestformen für wirtschaftliche Zwecke hat. Der „wirtschaftliche Nutzen geht hier auf Kosten zivilgesellschaftlicher Akteure und deren politischem Anliegen“ (215), was schließlich zu heftigen Gegenprotesten führt. Die Aktion wird so zum Rohrkrepierer. Andererseits entwertet die kommerzielle Imitation unkonventioneller zivilgesellschaftlicher Partizipationsformen unter Umständen die unverfassten politische Aktionsformen. Unter dem Titel „Occupy Wall Street – Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf demokratische Repräsentation und politische Partizipation“ beschäftigt sich Stefanie Wöhl mit neuen Protestformen, die „Ausdruck einer zukünftigen Lebensweise“ (262) werden könnten. Es geht dabei um Agenda-Setting gegen die Finanzwirtschaft, um Mobilisierung und um mehr politische und soziale Teilhabe der Zivilgesellschaft. Das Fazit von Wöhl: „Als unkonventionelle Formen politischer Partizipation haben diese sozialen Bewegungen die öffentliche Aufmerksamkeit eine Zeitlang medial auf Probleme sozialer Ungleichheit, politische und soziale Ausgrenzung und mangelnde politische Steuerung der Finanzmärkte gelenkt.“ (274) Die Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit ist also offensichtlich gelungen. Das gilt nicht für die Realisierung der politischen Forderungen.  

Diskussion und Fazit

Ein unkonventionelles Wissenschaftsbuch zu unkonventionellen Partizipationsformen mit erfrischend neuen Ansätzen und Sichtweisen. Größter Nachteil: Es ist ein Work-in-Progress-Buch, das angesichts der rasanten Entwicklungen auf diesem Gebiet nur eine Momentaufnahme sein kann. Ungeachtet dessen ist die Lektüre anregend und erhellend. Denn es zeigt auf, dass es tatsächlich erhebliche Potenziale unkonventioneller Partizipationsformen gibt – was nicht zuletzt daran ablesbar ist, dass sich sogar die Wirtschaft diese Formen durch Kopie und Umformung zu Eigen macht.   Besprochenes Buch: Dorothée de Nève, Tina Olteanu (Hrsg.): Politische Partizipation jenseits der Konventionen. Verlag Barbara Budrich (Opladen, Berlin, Toronto) 2013. 305 Seiten. ISBN 978-3-8474-0042-4.   Armin König
 

Die Aarhus-Konvention

ÜBEREINKOMMEN ÜBER DEN ZUGANG ZU INFORMATIONEN, DIE ÖFFENTLICHKEITSBETEILIGUNG AN ENTSCHEIDUNGSVERFAHREN UND DEN ZUGANG ZU GERICHTEN IN UMWELTANGELEGENHEITEN Die Vertragsparteien dieses Übereinkommens – unter Hinweis auf Grundsatz 1 der Erklärung von Stockholm über die Umwelt des Menschen; auch unter Hinweis auf Grundsatz 10 der Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung; ferner unter Hinweis auf die Resolution 37/7 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 28. Oktober 1982 über die Weltcharta für die Natur und auf die Resolution 45/94 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 1990 über die Notwendigkeit, eine gesunde Umwelt für das Wohl der Menschen zu sichern; unter Hinweis auf die Europäische Charta Umwelt und Gesundheit, die am 8. Dezember 1989 auf der ersten Europäischen Konferenz über Umwelt und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation in Frankfurt am Main (Deutschland) verabschiedet wurde; in Bekräftigung der Notwendigkeit, den Zustand der Umwelt zu schützen, zu erhalten und zu verbessern und eine nachhaltige und umweltverträgliche Entwicklung zu gewährleisten; in der Erkenntnis, daß ein angemessener Schutz der Umwelt für das menschliche Wohlbefinden und die Ausübung grundlegender Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Leben, unabdingbar ist; ferner in der Erkenntnis, daß jeder Mensch das Recht hat, in einer seiner Gesundheit und seinem Wohlbefinden zuträglichen Umwelt zu leben, und daß er sowohl als Einzelperson als auch in Gemeinschaft mit anderen die Pflicht hat, die Umwelt zum Wohle gegenwärtiger und künftiger Generationen zu schützen und zu verbessern; in Erwägung dessen, daß Bürger zur Wahrnehmung dieses Rechts und zur Erfüllung dieser Pflicht Zugang zu Informationen, ein Recht auf Beteiligung an Entscheidungsverfahren und Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten haben müssen, und in Anbetracht der Tatsache, daß sie in dieser Hinsicht gegebenenfalls Unterstützung benötigen, um ihre Rechte wahrnehmen zu können; in der Erkenntnis, daß im Umweltbereich ein verbesserter Zugang zu Informationen und eine verbesserte Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren die Qualität und die Umsetzung von Entscheidungen verbessern, zum Bewußtsein der Öffentlichkeit in Umweltangelegenheiten beitragen, der Öffentlichkeit die Möglichkeit geben, ihre Anliegen zum Ausdruck zu bringen, und es den Behörden ermöglichen, diese Anliegen angemessen zu berücksichtigen; mit dem Ziel, die Verantwortlichkeit und Transparenz bei Entscheidungsverfahren zu fördern und die öffentliche Unterstützung für Entscheidungen über die Umwelt zu stärken; in der Erkenntnis, daß es wünschenswert ist, Transparenz in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung zu erzielen, und mit der Aufforderung an die gesetzgebenden Körperschaften, die Grundsätze dieses Übereinkommens in ihren Verfahren umzusetzen; auch in der Erkenntnis, daß sich die Öffentlichkeit der Verfahren zur Öffentlichkeitsbeteiligung an umweltbezogenen Entscheidungen bewußt sein, freien Zugang zu ihnen haben und wissen muß, wie sie genutzt werden können; ferner in der Erkenntnis der wichtigen Rolle, die einzelne Bürger, nichtstaatliche Organisationen* und der private Sektor im Umweltschutz spielen können; in dem Wunsch, die Umwelterziehung zu fördern, um das Verständnis für die Umwelt und eine nachhaltige Entwicklung zu vertiefen und um das Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit für Entscheidungen, die Auswirkungen auf die Umwelt und eine nachhaltige Entwicklung haben, zu schärfen sowie deren Beteiligung an diesen Entscheidungen zu unterstützen; in Kenntnis der Wichtigkeit, in diesem Zusammenhang von den Medien und von elektronischen oder anderen, künftigen Kommunikationsformen Gebrauch zu machen; in der Erkenntnis der Bedeutung einer vollständigen Einbeziehung umweltbezogener Überlegungen in staatliche Entscheidungsverfahren und der daraus folgenden Notwendigkeit, daß Behörden über genaue, umfassende und aktuelle Informationen über die Umwelt verfügen; in Anerkennung dessen, daß Behörden über Informationen über die Umwelt im öffentlichen Interesse verfügen; mit dem Anliegen, daß die Öffentlichkeit, einschließlich Organisationen, Zugang zu wirkungsvollen gerichtlichen Mechanismen haben soll, damit ihre berechtigten Interessen geschützt werden und das Recht durchgesetzt wird; in Kenntnis der Wichtigkeit, den Verbrauchern geeignete Produktinformationen zu geben, damit sie eine sachkundige, am Umweltschutz orientierte Auswahl treffen können; in Anerkennung der Sorge der Öffentlichkeit über die absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt und in Erkenntnis der Notwendigkeit einer größeren Transparenz und stärkeren Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren in diesem Bereich; in der Überzeugung, daß die Durchführung dieses Übereinkommens zur Stärkung der Demokratie in der Region der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (ECE) beitragen wird; im Bewußtsein der Rolle, welche die ECE hierbei spielt, und unter Hinweis unter anderem auf die ECE-Leitlinien über den Zugang zu Informationen über die Umwelt und die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren im Umweltbereich, die in der auf der dritten Ministerkonferenz „Umwelt für Europa“ am 25. Oktober 1995 in Sofia (Bulgarien) angenommenen Ministererklärung gebilligt wurden; eingedenk der einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens über die Umweltvertr.glichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen, das am 25. Februar 1991 in Espoo (Finnland) beschlossen wurde, des Übereinkommens über die grenzüberschreitenden Auswirkungen von Industrieunfällen und des Übereinkommens zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen, die beide am 17. März 1992 in Helsinki (Finnland) beschlossen wurden, sowie anderer regionaler .bereinkünfte; in dem Bewußtsein, daß die Annahme dieses Übereinkommens einen Beitrag zur weiteren Stärkung des Prozesses „Umwelt für Europa“ und zu den Ergebnissen der im Juni 1998 in Aarhus (Dänemark) stattfindenden vierten Ministerkonferenz geleistet haben wird – sind wie folgt übereingekommen: &nbsp; <strong>Artikel 1</strong> <strong>Ziel</strong> Um zum Schutz des Rechts jeder männlichen/weiblichen Person gegenwärtiger und künftiger Generationen auf ein Leben in einer seiner/ihrer Gesundheit und seinem/ihrem Wohlbefinden zuträglichen Umwelt beizutragen, gewährleistet jede Vertragspartei das Recht auf Zugang zu Informationen, auf Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und auf Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen. &nbsp; <strong>Artikel 2</strong> <strong>Begriffsbestimmungen</strong> Im Sinne dieses Übereinkommens 1. bedeutet „Vertragspartei“, soweit sich aus dem Wortlaut nichts anderes ergibt, eine Vertragspartei dieses Übereinkommens; 2. bedeutet „Behörde“ a) eine Stelle der öffentlichen Verwaltung auf nationaler, regionaler und anderer Ebene; b) natürliche oder juristische Personen, die aufgrund innerstaatlichen Rechts Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, einschließlich bestimmter Pflichten, Tätigkeiten oder Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Umwelt, wahrnehmen; c) sonstige natürliche oder juristische Personen, die unter der Kontrolle einer unter Buchstabe a oder Buchstabe b genannten Stelle oder einer dort genannten Person im Zusammenhang mit der Umwelt öffentliche Zuständigkeiten haben, öffentliche Aufgaben wahrnehmen oder öffentliche Dienstleistungen erbringen; d) die Einrichtungen aller in Artikel 17 näher bestimmten Organisationen der regionalen Wirtschaftsintegration, die Vertragsparteien dieses Übereinkommens sind. Diese Begriffsbestimmung umfaßt keine Gremien oder Einrichtungen, die in gerichtlicher oder gesetzgebender Eigenschaft handeln; 3. bedeutet „Informationen über die Umwelt“ sämtliche Informationen in schriftlicher, visueller, akustischer, elektronischer oder sonstiger materieller Form über a) den Zustand von Umweltbestandteilen wie Luft und Atmosphäre, Wasser, Boden, Land, Landschaft und natürliche Lebensräume, die Artenvielfalt und ihre Bestandteile, einschließlich gentechnisch veränderter Organismen, sowie die Wechselwirkungen zwischen diesen Bestandteilen; b) Faktoren wie Stoffe, Energie, Lärm und Strahlung sowie Tätigkeiten oder Maßnahmen, einschließlich Verwaltungsmaßnahmen, Umweltvereinbarungen, Politiken, Gesetze, Pläne und Programme, die sich auf die unter Buchstabe a genannten Umweltbestandteile auswirken oder wahrscheinlich auswirken, sowie Kosten- Nutzen-Analysen und sonstige wirtschaftliche Analysen und Annahmen, die bei umweltbezogenen Entscheidungsverfahren verwendet werden; c) den Zustand der menschlichen Gesundheit und Sicherheit, Bedingungen für menschliches Leben sowie Kulturstätten und Bauwerke in dem Maße, in dem sie vom Zustand der Umweltbestandteile oder – auf dem Weg über diese Bestandteile – von den unter Buchstabe b genannten Faktoren, Tätigkeiten oder Maßnahmen betroffen sind oder betroffen sein können; 4. bedeutet „Öffentlichkeit“ eine oder mehrere natürliche oder juristische Personen und, in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder der innerstaatlichen Praxis, deren Vereinigungen, Organisationen oder Gruppen; 5. bedeutet „betroffene Öffentlichkeit“ die von umweltbezogenen Entscheidungsverfahren betroffene oder wahrscheinlich betroffene Öffentlichkeit oder die Öffentlichkeit mit einem Interesse daran; im Sinne dieser Begriffsbestimmung haben nichtstaatliche Organisationen* , die sich für den Umweltschutz einsetzen und alle nach innerstaatlichem Recht geltenden Voraussetzungen erfüllen, ein Interesse. &nbsp; <strong>Artikel 3</strong> <strong>Allgemeine Bestimmungen</strong> (1) Jede Vertragspartei ergreift die erforderlichen Gesetzgebungs-, Regelungs- und sonstigen Maßnahmen, einschließlich Maßnahmen zur Harmonisierung der Bestimmungen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen enthaltenen Bestimmungen über Informationen, Öffentlichkeitsbeteiligung und Zugang zu Gerichten, sowie geeignete Maßnahmen zum Vollzug, um einen klaren, transparenten und einheitlichen Rahmen zur Durchführung dieses Übereinkommens herzustellen und aufrechtzuerhalten. (2) Jede Vertragspartei bemüht sich, sicherzustellen, daß öffentlich Bedienstete und Behörden der Öffentlichkeit Unterstützung und Orientierungshilfe für den Zugang zu Informationen, zur Erleichterung der Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und für den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten geben. &nbsp; (3) Jede Vertragspartei fördert die Umwelterziehung und das Umweltbewußtsein der Öffentlichkeit insbesondere in bezug auf die Möglichkeiten, Zugang zu Informationen zu erhalten, sich an Entscheidungsverfahren zu beteiligen und Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten zu erhalten. (4) Jede Vertragspartei sorgt für angemessene Anerkennung und Unterstützung von Vereinigungen, Organisationen oder Gruppen, die sich für den Umweltschutz einsetzen, und stellt sicher, daß ihr innerstaatliches Rechtssystem mit dieser Verpflichtung vereinbar ist. (5) Dieses Übereinkommen läßt das Recht einer Vertragspartei unberührt, Maßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen, die einen weitergehenden Zugang zu Informationen, eine umfangreichere Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und einen weitergehenden Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten ermöglichen, als dies aufgrund dieses Übereinkommens erforderlich ist. (6) Dieses Übereinkommen verlangt keine Verdrängung geltender Rechte auf Zugang zu Informationen, auf Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und auf Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten. (7) Jede Vertragspartei fördert die Anwendung der Grundsätze dieses Übereinkommens bei internationalen umweltbezogenen Entscheidungsverfahren sowie im Rahmen internationaler Organisationen in Angelegenheiten, die im Zusammenhang mit der Umwelt stehen. (8) Jede Vertragspartei stellt sicher, daß Personen, die ihre Rechte im Einklang mit diesem Übereinkommen ausüben, hierfür nicht in irgendeiner Weise bestraft, verfolgt oder belästigt werden. Diese Bestimmung berührt nicht die Befugnis innerstaatlicher Gerichte, in Gerichtsverfahren angemessene Gerichtskosten zu erheben. (9) Im Rahmen der einschlägigen Bestimmungen dieses Übereinkommens hat die Öffentlichkeit Zugang zu Informationen, die Möglichkeit, an Entscheidungsverfahren teilzunehmen, und Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, ohne dabei wegen Staatsangehörigkeit, Volkszugehörigkeit oder Wohnsitz benachteiligt zu werden; eine juristische Person darf nicht aufgrund ihres eingetragenen Sitzes oder aufgrund des tatsächlichen Mittelpunkts ihrer Geschäftstätigkeit benachteiligt werden. Artikel 4 Zugang zu Informationen über die Umwelt (1) Jede Vertragspartei stellt sicher, daß die Behörden nach Maßgabe der folgenden Absätze dieses Artikels und im Rahmen der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Öffentlichkeit Informationen über die Umwelt auf Antrag zur Verfügung stellen; hierzu gehören, wenn dies beantragt wird und nach Maßgabe des Buchstaben b, auch Kopien der eigentlichen Unterlagen, die derartige Informationen enthalten oder die aus diesen Informationen bestehen; dies geschieht a) ohne Nachweis eines Interesses; b) in der erwünschten Form, es sei denn, i) es erscheint der Behörde angemessen, die Informationen in anderer Form zur Verfügung zu stellen, was zu begründen ist, oder ii) die Informationen stehen der Öffentlichkeit bereits in anderer Form zur Verfügung. (2) Die in Absatz 1 genannten Informationen über die Umwelt werden so bald wie möglich, spätestens jedoch einen Monat nach Antragstellung zur Verfügung gestellt, es sei denn, der 10 Umfang und die Komplexität der Informationen rechtfertigen eine Fristverlängerung auf bis zu zwei Monate nach Antragstellung. Der Antragsteller wird über jede Verlängerung sowie über die Gründe hierfür informiert. (3) Ein Antrag auf Informationen über die Umwelt kann abgelehnt werden, wenn a) die Behörde, an die der Antrag gerichtet ist, nicht über die beantragten Informationen über die Umwelt verfügt; b) der Antrag offensichtlich mißbräuchlich ist oder zu allgemein formuliert ist oder c) der Antrag Material betrifft, das noch fertiggestellt werden muß, oder wenn er interne Mitteilungen von Behörden betrifft, sofern eine derartige Ausnahme nach innerstaatlichem Recht vorgesehen ist oder gängiger Praxis entspricht, wobei das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe dieser Informationen zu berücksichtigen ist. (4) Ein Antrag auf Informationen über die Umwelt kann abgelehnt werden, wenn die Bekanntgabe negative Auswirkungen hätte auf a) die Vertraulichkeit der Beratungen von Behörden, sofern eine derartige Vertraulichkeit nach innerstaatlichem Recht vorgesehen ist; b) internationale Beziehungen, die Landesverteidigung oder die öffentliche Sicherheit; c) laufende Gerichtsverfahren, die Möglichkeit einer Person, ein faires Verfahren zu erhalten, oder die Möglichkeit einer Behörde, Untersuchungen strafrechtlicher oder disziplinarischer Art durchzuführen; 11 d) Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse, sofern diese rechtlich geschützt sind, um berechtigte wirtschaftliche Interessen zu schützen. In diesem Rahmen sind Informationen über Emissionen, die für den Schutz der Umwelt von Bedeutung sind, bekanntzugeben; e) Rechte auf geistiges Eigentum; f) die Vertraulichkeit personenbezogener Daten und/oder Akten in bezug auf eine natürliche Person, sofern diese der Bekanntgabe dieser Informationen an die Öffentlichkeit nicht zugestimmt hat und sofern eine derartige Vertraulichkeit nach innerstaatlichem Recht vorgesehen ist; g) die Interessen eines Dritten, der die beantragten Informationen zur Verfügung gestellt hat, ohne hierzu rechtlich verpflichtet zu sein oder verpflichtet werden zu können, sofern dieser Dritte der Veröffentlichung des Materials nicht zustimmt, oder h) die Umwelt, auf die sich diese Informationen beziehen, wie zum Beispiel die Brutstätten seltener Tierarten. Die genannten Ablehnungsgründe sind eng auszulegen, wobei das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe sowie ein etwaiger Bezug der beantragten Informationen zu Emissionen in die Umwelt zu berücksichtigen sind. (5) Verfügt eine Behörde nicht über die beantragten Informationen über die Umwelt, so informiert sie den Antragsteller so bald wie möglich darüber, bei welcher Behörde er ihres Erachtens die gewünschten Informationen beantragen kann, oder sie leitet den Antrag an diese Behörde weiter und informiert den Antragsteller hierüber. 12 (6) Jede Vertragspartei stellt sicher, daß für den Fall, daß Informationen, die aufgrund des Absatzes 3 Buchstabe c und des Absatzes 4 von der Bekanntgabe ausgenommen sind, ohne Beeinträchtigung der Vertraulichkeit der dieser Ausnahme unterliegenden Informationen ausgesondert werden können, die Behörden den jeweils nicht von dieser Ausnahme betroffenen Teil der beantragten Informationen über die Umwelt zur Verfügung stellen. (7) Die Ablehnung eines Antrags bedarf der Schriftform, wenn der Antrag selbst schriftlich gestellt wurde oder wenn der Antragsteller darum ersucht hat. In der Ablehnung werden die Gründe für die Ablehnung des Antrags genannt sowie Informationen über den Zugang zu dem nach Artikel 9 vorgesehenen .berprüfungsverfahren gegeben. Die Ablehnung erfolgt so bald wie möglich, spätestens nach einem Monat, es sei denn, die Komplexität der Informationen rechtfertigt eine Fristverlängerung auf bis zu zwei Monate nach Antragstellung. Der Antragsteller wird über jede Verlängerung sowie über die Gründe hierfür informiert. (8) Jede Vertragspartei kann ihren Behörden gestatten, für die Bereitstellung von Informationen eine Gebühr zu erheben, die jedoch eine angemessene Höhe nicht übersteigen darf. Behörden, die beabsichtigen, eine derartige Gebühr für die Bereitstellung von Informationen zu erheben, stellen den Antragstellern eine Übersicht über die Gebühren, die erhoben werden können, zur Verfügung, aus der hervorgeht, unter welchen Umständen sie erhoben oder erlassen werden können und wann die Bereitstellung von Informationen von einer Vorauszahlung dieser Gebühr abhängig ist. Artikel 5 Erhebung und Verbreitung von Informationen über die Umwelt (1) Jede Vertragspartei stellt sicher, daß 13 a) Behörden über Informationen über die Umwelt verfügen, die für ihre Aufgaben relevant sind, und daß sie diese Informationen aktualisieren; b) verbindliche Systeme geschaffen werden, damit Behörden in angemessenem Umfang Informationen über geplante und laufende Tätigkeiten, die sich erheblich auf die Umwelt auswirken können, erhalten; c) im Fall einer unmittelbar bevorstehenden, durch menschliche Tätigkeiten oder natürliche Ursachen hervorgerufenen Gefahr für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt den möglicherweise betroffenen Mitgliedern der Öffentlichkeit unverzüglich und ohne Aufschub alle einer Behörde vorliegenden Informationen übermittelt werden, welche die Öffentlichkeit in die Lage versetzen könnten, Maßnahmen zur Vermeidung oder Begrenzung des durch die Gefahr verursachten Schadens zu ergreifen. (2) Jede Vertragspartei stellt sicher, daß die Behörden im Rahmen der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Öffentlichkeit Informationen über die Umwelt auf transparente Art und Weise zur Verfügung stellen und daß ein effektiver Zugang zu Informationen über die Umwelt besteht; dazu gehört unter anderem, daß a) sie die Öffentlichkeit ausreichend über Art und Umfang der den zuständigen Behörden vorliegenden Informationen über die Umwelt, über die grundlegenden Bedingungen, unter denen diese zur Verfügung gestellt und zugänglich gemacht werden, und über das für deren Erlangung maßgebliche Verfahren informiert; b) sie praktische Vorkehrungen trifft und beibehält wie zum Beispiel i) das Führen öffentlich zugänglicher Listen, Register oder Datensammlungen; 14 ii) die Verpflichtung öffentlich Bediensteter, die Öffentlichkeit in dem Bemühen um Zugang zu Informationen aufgrund dieses Übereinkommens zu unterstützen, sowie iii) die Benennung von Kontaktstellen und c) sie gebührenfreien Zugang zu den Informationen über die Umwelt gewährt, die in den unter Buchstabe b Ziffer i genannten Listen, Registern oder Datensammlungen enthalten sind. (3) Jede Vertragspartei stellt sicher, daß Informationen über die Umwelt zunehmend in elektronischen Datenbanken, die der Öffentlichkeit über die öffentlichen Telekommunikationsnetze leicht zugänglich sind, zur Verfügung stehen. Zu den in dieser Form zugänglichen Informationen sollte folgendes gehören: a) die in Absatz 4 genannten Berichte über den Zustand der Umwelt; b) Texte von Umweltgesetzen oder von Gesetzen mit Umweltbezug; c) soweit angemessen Politiken, Pläne und Programme über die Umwelt oder mit Umweltbezug sowie Umweltvereinbarungen und d) sonstige Informationen in dem Umfang, in dem die Verfügbarkeit dieser Informationen in dieser Form die Anwendung innerstaatlichen Rechts, das dieses Übereinkommen umsetzt, erleichtern würde, sofern diese Informationen bereits in elektronischer Form zur Verfügung stehen. 15 (4) Jede Vertragspartei veröffentlicht und verbreitet in regelmäßigen Abständen von nicht mehr als drei oder vier Jahren einen nationalen Bericht über den Zustand der Umwelt, der Angaben über die Qualität der Umwelt und über Umweltbelastungen enthält. (5) Jede Vertragspartei ergreift im Rahmen ihrer Rechtsvorschriften Maßnahmen, um unter anderem folgendes zu verbreiten: a) Gesetze und politische Dokumente, wie zum Beispiel Dokumente über Strategien, Politiken, Programme und Aktionspläne mit Umweltbezug, sowie auf verschiedenen Ebenen der öffentlichen Verwaltung erstellte Berichte über Fortschritte bei ihrer Umsetzung; b) völkerrechtliche Verträge, .bereinkünfte und Vereinbarungen zu Umweltfragen und c) soweit angemessen sonstige wichtige internationale Dokumente zu Umweltfragen. (6) Jede Vertragspartei ermutigt die Betreiber, deren Tätigkeiten erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben, die Öffentlichkeit regelmäßig über die Umweltauswirkungen ihrer Tätigkeiten und Produkte zu informieren, soweit angemessen im Rahmen freiwilliger Systeme wie des Umweltzeichens, des Öko-Audits oder sonstiger Maßnahmen. (7) Jede Vertragspartei a) veröffentlicht die Tatsachen und Tatsachenanalysen, die ihres Erachtens bei der Ausarbeitung wichtiger umweltpolitischer Vorschläge relevant und wesentlich sind; b) veröffentlicht verfügbares erläuterndes Material über ihren Umgang mit der Öffentlichkeit in Angelegenheiten, die unter dieses Übereinkommen fallen, oder macht dieses Material auf andere Art und Weise zugänglich und 16 c) stellt in geeigneter Form Informationen über die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben oder die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Umwelt durch alle Ebenen der öffentlichen Verwaltung zur Verfügung. (8) Jede Vertragspartei entwickelt Strukturen, um sicherzustellen, daß der Öffentlichkeit ausreichende Produktinformationen zur Verfügung gestellt werden, welche die Verbraucher in die Lage versetzen, eine sachkundige, am Umweltschutz orientierte Auswahl zu treffen. (9) Jede Vertragspartei ergreift Maßnahmen, um schrittweise und gegebenenfalls unter Berücksichtigung internationaler Entwicklungen ein zusammenhängendes, landesweites System von Verzeichnissen oder Registern zur Erfassung der Umweltverschmutzung in Form einer strukturierten, computergestützten und öffentlich zugänglichen Datenbank aufzubauen; diese Datenbank wird anhand von standardisierten Berichten erstellt. Ein derartiges System kann Einträge, Freisetzungen und Übertragungen bestimmter Stoff- und Produktgruppen, einschließlich Wasser, Energie und Ressourcenverbrauch, aus bestimmten Tätigkeitsbereichen in Umweltmedien sowie in Behandlungs- und Entsorgungsstätten am Standort und außerhalb des Standorts umfassen. (10) Dieser Artikel läßt das Recht der Vertragsparteien unberührt, die Bekanntgabe bestimmter Informationen über die Umwelt nach Artikel 4 Absätze 3 und 4 abzulehnen. Artikel 6 Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungen über bestimmte Tätigkeiten (1) Jede Vertragspartei 17 a) wendet diesen Artikel bei Entscheidungen darüber an, ob die in Anhang I aufgeführten geplanten Tätigkeiten zugelassen werden; b) wendet diesen Artikel in Übereinstimmung mit ihrem innerstaatlichen Recht auch bei Entscheidungen über nicht in Anhang I aufgeführte geplante Tätigkeiten an, die eine erhebliche Auswirkung auf die Umwelt haben können. Zu diesem Zweck bestimmen die Vertragsparteien, ob dieser Artikel Anwendung auf eine derartige geplante Tätigkeit findet; c) kann – auf der Grundlage einer Einzelfallbetrachtung, sofern eine solche nach innerstaatlichem Recht vorgesehen ist – entscheiden, diesen Artikel nicht auf geplante Tätigkeiten anzuwenden, die Zwecken der Landesverteidigung dienen, wenn diese Vertragspartei der Auffassung ist, daß sich eine derartige Anwendung negativ auf diese Zwecke auswirken würde. (2) Die betroffene Öffentlichkeit wird im Rahmen umweltbezogener Entscheidungsverfahren je nach Zweckmäßigkeit durch öffentliche Bekanntmachung oder Einzelnen gegenüber in sachgerechter, rechtzeitiger und effektiver Weise frühzeitig unter anderem über folgendes informiert: a) die geplante Tätigkeit und den Antrag, über den eine Entscheidung gefällt wird; b) die Art möglicher Entscheidungen oder den Entscheidungsentwurf; c) die für die Entscheidung zuständige Behörde; d) das vorgesehene Verfahren, einschließlich der folgenden Informationen, falls und sobald diese zur Verfügung gestellt werden können: 18 i) Beginn des Verfahrens; ii) Möglichkeiten der Öffentlichkeit, sich zu beteiligen; iii) Zeit und Ort vorgesehener öffentlicher Anhörungen; iv) Angabe der Behörde, von der relevante Informationen zu erhalten sind, und des Ortes, an dem die Öffentlichkeit Einsicht in die relevanten Informationen nehmen kann; v) Angabe der zuständigen Behörde oder der sonstigen amtlichen Stelle, bei der Stellungnahmen oder Fragen eingereicht werden können, sowie der dafür vorgesehenen Fristen und vi) Angaben darüber, welche für die geplante Tätigkeit relevanten Informationen über die Umwelt verfügbar sind; e) die Tatsache, daß die Tätigkeit einem nationalen oder grenzüberschreitenden Verfahren zur Umweltvertr.glichkeitsprüfung unterliegt. (3) Die Verfahren zur Öffentlichkeitsbeteiligung sehen jeweils einen angemessenen zeitlichen Rahmen für die verschiedenen Phasen vor, damit ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um die Öffentlichkeit nach Absatz 2 zu informieren, und damit der Öffentlichkeit ausreichend Zeit zur effektiven Vorbereitung und Beteiligung während des umweltbezogenen Entscheidungsverfahrens gegeben wird. (4) Jede Vertragspartei sorgt für eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Optionen noch offen sind und eine effektive Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden kann. 19 (5) Jede Vertragspartei sollte, soweit angemessen, künftige Antragsteller dazu ermutigen, die betroffene Öffentlichkeit zu ermitteln, Gespräche aufzunehmen und über den Zweck ihres Antrags zu informieren, bevor der Antrag auf Genehmigung gestellt wird. (6) Jede Vertragspartei verpflichtet die zuständigen Behörden, der betroffenen Öffentlichkeit – auf Antrag, sofern innerstaatliches Recht dies vorschreibt – gebührenfrei und sobald verfügbar Zugang zu allen Informationen zu deren Einsichtnahme zu gewähren, die für die in diesem Artikel genannten Entscheidungsverfahren relevant sind und zum Zeitpunkt des Verfahrens zur Öffentlichkeitsbeteiligung zur Verfügung stehen; das Recht der Vertragsparteien, die Bekanntgabe bestimmter Informationen nach Artikel 4 Absätze 3 und 4 abzulehnen, bleibt hiervon unberührt. Zu den relevanten Informationen gehören zumindest und unbeschadet des Artikels 4 a) eine Beschreibung des Standorts sowie der physikalischen und technischen Merkmale der geplanten Tätigkeit, einschließlich einer Schätzung der erwarteten Rückst.nde und Emissionen; b) eine Beschreibung der erheblichen Auswirkungen der geplanten Tätigkeit auf die Umwelt; c) eine Beschreibung der zur Vermeidung und/oder Verringerung der Auswirkungen, einschließlich der Emissionen, vorgesehenen Maßnahmen; d) eine nichttechnische Zusammenfassung der genannten Informationen; e) ein Überblick über die wichtigsten vom Antragsteller geprüften Alternativen und f) in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften die wichtigsten Berichte und Empfehlungen, die an die Behörde zu dem Zeitpunkt gerichtet wurden, zu dem die betroffene Öffentlichkeit nach Absatz 2 informiert wird. 20 (7) In Verfahren zur Öffentlichkeitsbeteiligung hat die Öffentlichkeit die Möglichkeit, alle von ihr für die geplante Tätigkeit als relevant erachteten Stellungnahmen, Informationen, Analysen oder Meinungen in Schriftform vorzulegen oder gegebenenfalls während einer öffentlichen Anhörung oder Untersuchung mit dem Antragsteller vorzutragen. (8) Jede Vertragspartei stellt sicher, daß das Ergebnis der Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Entscheidung angemessen berücksichtigt wird. (9) Jede Vertragspartei stellt sicher, daß die Öffentlichkeit, sobald die Behörde die Entscheidung gefällt hat, unverzüglich und im Einklang mit den hierfür passenden Verfahren über die Entscheidung informiert wird. Jede Vertragspartei macht der Öffentlichkeit den Wortlaut der Entscheidung sowie die Gründe und Erwägungen zugänglich, auf die sich diese Entscheidung stützt. (10) Jede Vertragspartei stellt sicher, daß bei einer durch eine Behörde vorgenommenen .berprüfung oder Aktualisierung der Betriebsbedingungen für eine in Absatz 1 genannte Tätigkeit die Absätze 2 bis 9 sinngemäß und soweit dies angemessen ist Anwendung finden. (11) Jede Vertragspartei wendet nach ihrem innerstaatlichen Recht im machbaren und angemessenen Umfang Bestimmungen dieses Artikels bei Entscheidungen darüber an, ob eine absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt genehmigt wird. 21 Artikel 7 Öffentlichkeitsbeteiligung bei umweltbezogenen Plänen, Programmen und Politiken Jede Vertragspartei trifft angemessene praktische und/oder sonstige Vorkehrungen dafür, daß die Öffentlichkeit, nachdem ihr zuvor die erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt worden sind, in einem transparenten und fairen Rahmen während der Vorbereitung umweltbezogener Pläne und Programme beteiligt wird. In diesem Rahmen findet Artikel 6 Absätze 3, 4 und 8 Anwendung. Die zuständige Behörde ermittelt die Öffentlichkeit, die sich beteiligen kann, wobei die Ziele dieses Übereinkommens zu berücksichtigen sind. Jede Vertragspartei bemüht sich im angemessenen Umfang darum, Möglichkeiten für eine Beteiligung der Öffentlichkeit an der Vorbereitung umweltbezogener Politiken zu schaffen. Artikel 8 Öffentlichkeitsbeteiligung während der Vorbereitung exekutiver Vorschriften und/oder allgemein anwendbarer rechtsverbindlicher normativer Instrumente Jede Vertragspartei bemüht sich, zu einem passenden Zeitpunkt und solange Optionen noch offen sind eine effektive Öffentlichkeitsbeteiligung während der durch Behörden erfolgenden Vorbereitung exekutiver Vorschriften und sonstiger allgemein anwendbarer rechtsverbindlicher Bestimmungen, die eine erhebliche Auswirkung auf die Umwelt haben können, zu fördern. Zu diesem Zweck sollten folgende Maßnahmen ergriffen werden: a) Für eine effektive Beteiligung ausreichende zeitliche Rahmen sollten festgelegt werden; 22 b) Vorschriftenentwürfe sollten veröffentlicht oder anderweitig öffentlich zugänglich gemacht werden, und c) die Öffentlichkeit sollte unmittelbar oder über sie vertretende und beratende Stellen die Möglichkeit zur Stellungnahme erhalten. Das Ergebnis der Öffentlichkeitsbeteiligung wird so weit wie möglich berücksichtigt. Artikel 9 Zugang zu Gerichten (1) Jede Vertragspartei stellt im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, daß jede Person, die der Ansicht ist, daß ihr nach Artikel 4 gestellter Antrag auf Informationen nicht beachtet, fälschlicherweise ganz oder teilweise abgelehnt, unzulänglich beantwortet oder auf andere Weise nicht in Übereinstimmung mit dem genannten Artikel bearbeitet worden ist, Zugang zu einem .berprüfungsverfahren vor einem Gericht oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle hat. Für den Fall, daß eine Vertragspartei eine derartige .berprüfung durch ein Gericht vorsieht, stellt sie sicher, daß die betreffende Person auch Zugang zu einem schnellen, gesetzlich festgelegten sowie gebührenfreien oder nicht kostenaufwendigen .berprüfungsverfahren durch eine Behörde oder Zugang zu einer .berprüfung durch eine unabhängige und unparteiische Stelle, die kein Gericht ist, hat. Nach Absatz 1 getroffene endgültige Entscheidungen sind für die Behörde, die über die Informationen verfügt, verbindlich. Gründe werden in Schriftform dargelegt, zumindest dann, wenn der Zugang zu Informationen nach diesem Absatz abgelehnt wird. 23 (2) Jede Vertragspartei stellt im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, daß Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit, (a) die ein ausreichendes Interesse haben oder alternativ (b) eine Rechtsverletzung geltend machen, sofern das Verwaltungsprozeßrecht* einer Vertragspartei dies als Voraussetzung erfordert, Zugang zu einem .berprüfungsverfahren vor einem Gericht und/oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle haben, um die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten, für die Artikel 6 und – sofern dies nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht vorgesehen ist und unbeschadet des Absatzes 3 – sonstige einschlägige Bestimmungen dieses Übereinkommens gelten. Was als ausreichendes Interesse und als Rechtsverletzung gilt, bestimmt sich nach den Erfordernissen innerstaatlichen Rechts und im Einklang mit dem Ziel, der betroffenen Öffentlichkeit im Rahmen dieses Übereinkommens einen weiten Zugang zu Gerichten zu gewähren. Zu diesem Zweck gilt das Interesse jeder nichtstaatlichen Organisation* , welche die in Artikel 2 Nummer 5 genannten Voraussetzungen erfüllt, als ausreichend im Sinne des Buchstaben a. Derartige Organisationen gelten auch als Träger von Rechten, die im Sinne des Buchstaben b verletzt werden können. Absatz 2 schließt die Möglichkeit eines vorangehenden .berprüfungsverfahrens vor einer Verwaltungsbehörde nicht aus und läßt das Erfordernis der Ausschöpfung verwaltungsbehördlicher .berprüfungsverfahren vor der Einleitung gerichtlicher .berprüfungsverfahren unberührt, sofern ein derartiges Erfordernis nach innerstaatlichem Recht besteht. *  A: Verwaltungsverfahrensrecht *  A: Nichtregierungsorganisation 24 (3) Zusätzlich und unbeschadet der in den Absätzen 1 und 2 genannten .berprüfungsverfahren stellt jede Vertragspartei sicher, daß Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen, Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben, um die von Privatpersonen und Behörden vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen anzufechten, die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen. (4) Zusätzlich und unbeschadet des Absatzes 1 stellen die in den Absätzen 1, 2 und 3 genannten Verfahren angemessenen und effektiven Rechtsschutz und, soweit angemessen, auch vorläufigen Rechtsschutz sicher; diese Verfahren sind fair, gerecht, zügig und nicht überm..ig teuer. Entscheidungen nach diesem Artikel werden in Schriftform getroffen oder festgehalten. Gerichtsentscheidungen und möglichst auch Entscheidungen anderer Stellen sind öffentlich zugänglich. (5) Um die Effektivität dieses Artikels zu fördern, stellt jede Vertragspartei sicher, daß der Öffentlichkeit Informationen über den Zugang zu verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen .berprüfungsverfahren zur Verfügung gestellt werden; ferner prüft jede Vertragspartei die Schaffung angemessener Unterstützungsmechanismen, um Hindernisse finanzieller und anderer Art für den Zugang zu Gerichten zu beseitigen oder zu verringern. Artikel 10 Tagung der Vertragsparteien (1) Die erste Tagung der Vertragsparteien wird spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten dieses Übereinkommens einberufen. Danach finden ordentliche Tagungen der Vertragsparteien mindestens alle zwei Jahre statt, es sei denn, die Vertragsparteien haben etwas anderes beschlossen oder eine Vertragspartei ersucht schriftlich um einen früheren Termin; allerdings muß dieses Ersuchen innerhalb von sechs Monaten, nachdem es vom Exekutivsekretär der 25 Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa allen Vertragsparteien mitgeteilt wurde, von mindestens einem Drittel der Vertragsparteien unterstützt werden. (2) Auf ihren Tagungen überprüfen die Vertragsparteien auf der Grundlage regelmäßiger Berichterstattung durch die Vertragsparteien ständig die Durchführung dieses Übereinkommens; vor diesem Hintergrund a) überprüfen sie die Politiken sowie rechtliche und methodische Konzepte für den Zugang zu Informationen, für die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und für den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten im Hinblick auf ihre weitere Verbesserung; b) tauschen sie Informationen über ihre Erfahrungen aus dem Abschluß und der Durchführung zweiseitiger und mehrseitiger .bereinkünfte oder sonstiger Vereinbarungen aus, die für die Zwecke dieses Übereinkommens von Belang sind und deren Vertragsparteien eine oder mehrere von ihnen sind; c) erbitten sie gegebenenfalls die Dienste der zuständigen ECE-Gremien sowie sonstiger zuständiger internationaler Gremien und Fachausschüsse für alle Fragen im Zusammenhang mit der Erfüllung der Zwecke dieses Übereinkommens; d) setzen sie, wenn sie dies für notwendig erachten, Nebengremien ein; e) erarbeiten sie gegebenenfalls Protokolle zu diesem Übereinkommen; f) prüfen sie nach Artikel 14 Vorschläge zur Änderung dieses Übereinkommens und nehmen sie an; 26 g) prüfen und treffen sie zusätzliche Maßnahmen, die sich zur Erfüllung des Zwecks dieses Übereinkommens als notwendig erweisen könnten; h) beraten sie auf ihrer ersten Tagung eine Geschäftsordnung für ihre Tagungen und für die Tagungen von Nebengremien und beschließen sie durch Konsens; i) überprüfen sie auf ihrer ersten Tagung ihre Erfahrungen bei der Durchführung des Artikels 5 Absatz 9 und prüfen, welche Maßnahmen notwendig sind, um das in dem genannten Absatz erwähnte System unter Berücksichtigung internationaler Vorgänge und Entwicklungen weiterzuentwickeln; dazu gehört die Ausarbeitung eines angemessenen Instruments betreffend Register oder Verzeichnisse zur Erfassung der Umweltverschmutzung, das diesem Übereinkommen als Anhang beigefügt werden könnte. (3) Die Tagung der Vertragsparteien kann, soweit notwendig, die Schaffung finanzieller Regelungen auf der Grundlage einer Konsensentscheidung prüfen. (4) Die Vereinten Nationen, deren Sonderorganisationen, die Internationale Atomenergie- Organisation und alle nach Artikel 17 zur Unterzeichnung dieses Übereinkommens berechtigten Staaten oder Organisationen der regionalen Wirtschaftsintegration, die nicht Vertragsparteien dieses Übereinkommens sind, sowie alle zwischenstaatlichen Organisationen, die in den Bereichen, auf die sich dieses Übereinkommen bezieht, qualifiziert sind, haben die Berechtigung, als Beobachter an den Tagungen der Vertragsparteien teilzunehmen. (5) Jede nichtstaatliche Organisation* , die in den Bereichen, auf die sich dieses Übereinkommen bezieht, qualifiziert ist und die den Exekutivsekretär der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa über ihren Wunsch informiert hat, bei einer Tagung der Vertragsparteien vertreten zu sein, hat die Berechtigung, als Beobachter teilzunehmen, wenn nicht *  A: Nichtregierungsorganisation 27 mindestens ein Drittel der auf der Tagung anwesenden Vertragsparteien dagegen Einwände erhebt. (6) Für die Zwecke der Absätze 4 und 5 sieht die in Absatz 2 Buchstabe h genannte Geschäftsordnung praktische Vorkehrungen für das Zulassungsverfahren sowie andere einschlägige Bestimmungen vor. Artikel 11 Stimmrecht (1) Jede Vertragspartei dieses Übereinkommens hat eine Stimme, sofern nicht in Absatz 2 etwas anderes bestimmt ist. (2) Organisationen der regionalen Wirtschaftsintegration üben in Angelegenheiten ihrer Zuständigkeit ihr Stimmrecht mit der Anzahl von Stimmen aus, die der Anzahl ihrer Mitgliedstaaten entspricht, welche Vertragsparteien dieses Übereinkommens sind. Diese Organisationen üben ihr Stimmrecht nicht aus, wenn ihre Mitgliedstaaten ihr Stimmrecht ausüben, und umgekehrt. Artikel 12 Sekretariat Der Exekutivsekretär der Wirtschaftskommission für Europa erfüllt folgende Sekretariatsaufgaben: a) Er beruft die Tagungen der Vertragsparteien ein und bereitet sie vor; 28 b) er übermittelt den Vertragsparteien Berichte und sonstige Informationen, die er aufgrund dieses Übereinkommens erhalten hat und c) er nimmt sonstige ihm von den Vertragsparteien zugewiesene Aufgaben wahr. Artikel 13 Anhänge Die Anhänge dieses Übereinkommens sind Bestandteil des Übereinkommens. Artikel 14 Änderungen des Übereinkommens (1) Jede Vertragspartei kann Änderungen dieses Übereinkommens vorschlagen. (2) Der Wortlaut einer vorgeschlagenen Änderung dieses Übereinkommens wird dem Exekutivsekretär der Wirtschaftskommission für Europa schriftlich vorgelegt; dieser übermittelt ihn allen Vertragsparteien spätestens neunzig Tage vor der Tagung der Vertragsparteien, auf der er zur Beschlußfassung vorgeschlagen wird. (3) Die Vertragsparteien unternehmen alle Bemühungen, um über alle vorgeschlagenen Änderungen dieses Übereinkommens eine Einigung durch Konsens zu erzielen. Sind alle Bemühungen, einen Konsens zu erreichen, ausgeschöpft und wurde hierbei keine Einigung erzielt, so wird die Änderung notfalls mit Dreiviertelmehrheit der auf der Tagung anwesenden und abstimmenden Vertragsparteien beschlossen. 29 (4) Nach Absatz 3 beschlossene Änderungen dieses Übereinkommens übermittelt der Verwahrer allen Vertragsparteien zur Ratifikation, Genehmigung oder Annahme. Änderungen dieses Übereinkommens, bei denen es sich nicht um Änderungen eines Anhangs handelt, treten für die Vertragsparteien, die sie ratifiziert, genehmigt oder angenommen haben, am neunzigsten Tag nach dem Eingang der Notifikation ihrer Ratifikation, Genehmigung oder Annahme durch mindestens drei Viertel dieser Vertragsparteien beim Verwahrer in Kraft. Danach treten sie für jede andere Vertragspartei am neunzigsten Tag nach dem Zeitpunkt in Kraft, zu dem diese Vertragspartei ihre Urkunde über die Ratifikation, Genehmigung oder Annahme der Änderungen hinterlegt hat. (5) Jede Vertragspartei, die eine Änderung eines Anhangs zu diesem Übereinkommen nicht genehmigen kann, notifiziert dies dem Verwahrer schriftlich innerhalb von zwölf Monaten nach dem Tag der Übermittlung des Änderungsbeschlusses. Der Verwahrer notifiziert allen Vertragsparteien unverzüglich den Eingang jeder derartigen Notifikation. Eine Vertragspartei kann jederzeit ihre frühere Notifikation durch eine Annahme ersetzen; für diese Vertragspartei treten die Änderungen dieses Anhangs mit Hinterlegung einer Annahmeurkunde beim Verwahrer in Kraft. (6) Eine Änderung eines Anhangs tritt zwölf Monate nach ihrer in Absatz 4 vorgesehenen Übermittlung durch den Verwahrer für die Vertragsparteien in Kraft, die dem Verwahrer keine Notifikation nach Absatz 5 vorgelegt haben, sofern nicht mehr als ein Drittel der Vertragsparteien eine derartige Notifikation vorgelegt hat. (7) Im Sinne dieses Artikels bedeutet „anwesende und abstimmende Vertragsparteien“ die Vertragsparteien, die anwesend sind und eine Ja- oder Neinstimme abgeben. 30 Artikel 15 .berprüfung der Einhaltung der Bestimmungen des Übereinkommens Die Tagung der Vertragsparteien trifft durch Konsensentscheidung Regelungen über eine freiwillige, nichtstreitig angelegte, außergerichtliche und auf Konsultationen beruhende .berprüfung der Einhaltung der Bestimmungen dieses Übereinkommens. Diese Regelungen lassen eine angemessene Einbeziehung der Öffentlichkeit zu und können die Möglichkeit beinhalten, Stellungnahmen von Mitgliedern der Öffentlichkeit zu Angelegenheiten im Zusammenhang mit diesem Übereinkommen zu prüfen. Artikel 16 Beilegung von Streitigkeiten (1) Entsteht eine Streitigkeit zwischen zwei oder mehreren Vertragsparteien über die Auslegung oder Anwendung dieses Übereinkommens, so bemühen sich diese, durch Verhandlung oder andere für die Streitparteien annehmbare Mittel der Streitbeilegung eine Lösung herbeizuführen. (2) Bei der Unterzeichnung, der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung dieses Übereinkommens oder beim Beitritt zu ihm oder jederzeit danach kann eine Vertragspartei dem Verwahrer schriftlich erklären, daß sie für eine nicht nach Absatz 1 beigelegte Streitigkeit eines der folgenden Mittel der Streitbeilegung oder beide gegenüber jeder anderen Vertragspartei, welche dieselbe Verpflichtung übernimmt, als obligatorisch anerkennt: a) die Vorlage der Streitigkeit beim Internationalen Gerichtshof; b) ein Schiedsverfahren nach dem in Anhang II festgelegten Verfahren. 31 (3) Haben die Streitparteien beide in Absatz 2 genannten Mittel der Streitbeilegung anerkannt, so darf die Streitigkeit nur dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt werden, sofern die Parteien nichts anderes vereinbaren. Artikel 17 Unterzeichnung Dieses Übereinkommen liegt am 25. Juni 1998 in Aarhus (Dänemark) und danach bis zum 21. Dezember 1998 am Sitz der Vereinten Nationen in New York für die Mitgliedstaaten der Wirtschaftskommission für Europa, für Staaten, die nach den Nummern 8 und 11 der Entschließung 36 (IV) des Wirtschafts- und Sozialrats vom 28. März 1947 bei der Wirtschaftskommission für Europa beratenden Status haben, und für Organisationen der regionalen Wirtschaftsintegration, die aus souveränen Staaten, welche Mitglieder der Wirtschaftskommission für Europa sind, gebildet werden und denen ihre Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für die von dem Übereinkommen erfaßten Angelegenheiten, einschließlich der Zuständigkeit, über diese Angelegenheiten Verträge zu schließen, übertragen haben, zur Unterzeichnung auf. Artikel 18 Verwahrer* Der Generalsekretär der Vereinten Nationen nimmt die Aufgaben des Verwahrers** dieses Übereinkommens wahr. *  CH: Depositar **  CH: Depositars 32 Artikel 19 Ratifikation, Annahme, Genehmigung und Beitritt (1) Dieses Übereinkommen bedarf der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung durch die Unterzeichnerstaaten und die Organisationen der regionalen Wirtschaftsintegration. (2) Dieses Übereinkommen steht vom 22. Dezember 1998 an für die in Artikel 17 genannten Staaten und Organisationen der regionalen Wirtschaftsintegration zum Beitritt offen. (3) Jeder nicht in Absatz 2 genannte Staat, der Mitglied der Vereinten Nationen ist, kann dem Übereinkommen mit Genehmigung der Tagung der Vertragsparteien beitreten. (4) Jede in Artikel 17 genannte Organisation, die Vertragspartei dieses Übereinkommens wird, ohne daß einer ihrer Mitgliedstaaten Vertragspartei ist, ist durch alle Verpflichtungen aus dem Übereinkommen gebunden. Ist ein Mitgliedstaat oder sind mehrere Mitgliedstaaten einer solchen Organisation Vertragspartei des Übereinkommens, so entscheiden die Organisation und ihre Mitgliedstaaten über ihre jeweiligen Verantwortlichkeiten hinsichtlich der Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Übereinkommen. In diesen Fällen sind die Organisation und die Mitgliedstaaten nicht berechtigt, die Rechte aus dem Übereinkommen gleichzeitig auszuüben. (5) In ihren Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunden erklären die in Artikel 17 genannten Organisationen der regionalen Wirtschaftsintegration den Umfang ihrer Zuständigkeiten in bezug auf die durch dieses Übereinkommen erfaßten Angelegenheiten. Diese Organisationen teilen dem Verwahrer* auch jede wesentliche Änderung des Umfangs ihrer Zuständigkeiten mit. *  CH: Depositar 33 Artikel 20 Inkrafttreten (1) Dieses Übereinkommen tritt am neunzigsten Tag nach dem Tag der Hinterlegung der sechzehnten Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde in Kraft. (2) Für die Zwecke des Absatzes 1 zählt eine von einer Organisation der regionalen Wirtschaftsintegration hinterlegte Urkunde nicht als zusätzliche Urkunde zu den von den Mitgliedstaaten der Organisation hinterlegten Urkunden. (3) Für alle in Artikel 17 bezeichneten Staaten oder Organisationen, die nach Hinterlegung der sechzehnten Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde dieses Übereinkommen ratifizieren, annehmen oder genehmigen oder ihm beitreten, tritt das Übereinkommen am neunzigsten Tag nach dem Tag der Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde durch den Staat oder die Organisation in Kraft. Artikel 21 Rücktritt Eine Vertragspartei kann jederzeit nach Ablauf von drei Jahren nach dem Tag, an dem dieses Übereinkommen für sie in Kraft getreten ist, durch eine an den Verwahrer* gerichtete schriftliche Notifikation von dem Übereinkommen zurücktreten. Der Rücktritt wird am neunzigsten Tag nach dem Tag des Eingangs der Notifikation beim Verwahrer** wirksam. *  CH: Depositar **  CH: Depositar 34 Artikel 22 Verbindliche Wortlaute Die Urschrift dieses Übereinkommens, dessen englischer, französischer und russischer Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist, wird beim Generalsekretär der Vereinten Nationen hinterlegt. Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten dieses Übereinkommen unterschrieben. Geschehen zu Aarhus (Dänemark) am 25. Juni 1998. 35 Anhänge Anhang I Liste der in Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a genannten Tätigkeiten (1) Energiebereich · Mineralöl- und Gasraffinerien; · Vergasungs- und Verflüssigungsanlagen; · Wärmekraftwerke und andere Verbrennungsanlagen mit einer Feuerungswärmeleistung von mindestens 50 Megawatt (MW); · Kokereien; · Kernkraftwerke und andere Kernreaktoren einschließlich der Demontage oder Stillegung solcher Kraftwerke oder Reaktoren1 (mit Ausnahme von Forschungseinrichtungen zur Erzeugung und Bearbeitung von spaltbaren und brutstoffhaltigen Stoffen, deren Höchstleistung 1 kW thermische Dauerleistung nicht übersteigt); · Anlagen zur Wiederaufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe; · Anlagen · mit dem Zweck der Erzeugung oder Anreicherung von Kernbrennstoffen; · mit dem Zweck der Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe oder hochradioaktiver Abfälle; · mit dem Zweck der endgültigen Beseitigung bestrahlter Kernbrennstoffe; 1  Kernkraftwerke und andere Kernreaktoren gelten nicht mehr als solche, wenn der gesamte Kernbrennstoff und andere radioaktiv kontaminierte Komponenten auf Dauer vom Standort der Anlage entfernt wurden. 36 · mit dem ausschließlichen Zweck der endgültigen Beseitigung radioaktiver Abfälle; · mit dem ausschließlichen Zweck der (für mehr als 10 Jahre geplanten) Lagerung bestrahlter Kernbrennstoffe oder radioaktiver Abfälle an einem anderen Ort als dem Produktionsort. (2) Herstellung und Verarbeitung von Metallen · Röst- oder Sinteranlagen für Metallerz einschließlich sulfidischer Erze; · Anlagen für die Herstellung von Roheisen oder Stahl (Primär- oder Sekundärschmelzung) einschließlich Stranggießen mit einer Kapazität von mehr als 2,5 t pro Stunde; · Anlagen zur Verarbeitung von Eisenmetallen durch i) Warmwalzen mit einer Leistung von mehr als 20 t Rohstahl pro Stunde; ii) Schmieden mit Hämmern, deren Schlagenergie 50 Kilojoule pro Hammer überschreitet, bei einer Wärmeleistung von über 20 MW; iii) Aufbringen von schmelzflüssigen metallischen Schutzschichten mit einer Verarbeitungskapazität von mehr als 2 t Rohstahl pro Stunde; · Eisenmetallgießereien mit einer Produktionskapazität von über 20 t pro Tag; · Anlagen i) zur Gewinnung von Nichteisenrohmetallen aus Erzen, Konzentraten oder sekundären Rohstoffen durch metallurgische, chemische oder elektrolytische Verfahren; ii) zum Schmelzen, einschließlich Legieren, von Nichteisenmetallen, darunter auch Wiedergewinnungsprodukte (Raffination, Gießen usw.) mit einer Schmelzkapazität von mehr als 4 t pro Tag bei Blei und Kadmium oder 20 t pro Tag bei allen anderen Metallen; 37 · Anlagen zur Oberflächenbehandlung von Metallen und Kunststoffen durch ein elektrolytisches oder chemisches Verfahren, wenn das Volumen der Wirkbäder 30 m3 übersteigt. (3) Mineralverarbeitende Industrie · Anlagen zur Herstellung von Zementklinkern in Drehrohröfen mit einer Produktionskapazität von über 500 t pro Tag oder von Kalk in Drehrohröfen mit einer Produktionskapazität von über 50 t pro Tag oder in anderen Öfen mit einer Produktionskapazität von über 50 t pro Tag; · Anlagen zur Gewinnung von Asbest und zur Herstellung von Erzeugnissen aus Asbest; · Anlagen zur Herstellung von Glas einschließlich Anlagen zur Herstellung von Glasfasern mit einer Schmelzkapazität von über 20 t pro Tag; · Anlagen zum Schmelzen mineralischer Stoffe einschließlich Anlagen zur Herstellung von Mineralfasern mit einer Schmelzkapazität von über 20 t pro Tag; · Anlagen zur Herstellung von keramischen Erzeugnissen durch Brennen, und zwar insbesondere von Dachziegeln, Ziegelsteinen, feuerfesten Steinen, Fliesen, Steinzeug oder Porzellan mit einer Produktionskapazität von über 75 t pro Tag und/oder einer Ofenkapazität von über 4 m3 und einer Besatzdichte pro Ofen von über 300 kg/m3. (4) Chemische Industrie Herstellung im Sinne der Kategorien von Tätigkeiten unter Nummer 4 bedeutet die Herstellung der unter den Buchstaben a bis g genannten Stoffe oder Stoffgruppen durch chemische Umwandlung im industriellen Umfang: a) Chemieanlagen zur Herstellung von organischen Grundchemikalien wie 38 i) einfachen Kohlenwasserstoffen (linearen oder ringförmigen, gesättigten oder ungesättigten, aliphatischen oder aromatischen); ii) sauerstoffhaltigen Kohlenwasserstoffen wie Alkoholen, Aldehyden, Ketonen, Carbonsäuren, Estern, Acetaten, Ethern, Peroxiden, Epoxiden; iii) schwefelhaltigen Kohlenwasserstoffen; iv) stickstoffhaltigen Kohlenwasserstoffen wie Aminen, Amiden, Nitroso-, Nitrooder Nitratverbindungen, Nitrilen, Cyanaten, Isocyanaten; v) phosphorhaltigen Kohlenwasserstoffen; vi) halogenhaltigen Kohlenwasserstoffen; vii) metallorganischen Verbindungen; viii) Basiskunststoffen (Polymeren, Chemiefasern, Fasern auf Zellstoffbasis); ix) synthetischen Kautschuken; x) Farbstoffen und Pigmenten; xi) Tensiden; b) Chemieanlagen zur Herstellung von anorganischen Grundchemikalien wie i) Gasen wie Ammoniak, Chlor oder Chlorwasserstoff, Fluor oder Fluorwasserstoff, Kohlenstoffoxiden, Schwefelverbindungen, Stickstoffoxiden, Wasserstoff, Schwefeldioxid, Phosgen; ii) Säuren wie Chromsäure, Flußsäure, Phosphorsäure, Salpetersäure, Salzsäure, Schwefelsäure, Oleum, schwefeligen Säuren; iii) Basen wie Ammoniumhydroxid, Kaliumhydroxid, Natriumhydroxid; iv) Salzen wie Ammoniumchlorid, Kaliumchlorat, Kaliumkarbonat, Natriumkarbonat, Perborat, Silbernitrat; v) Nichtmetallen, Metalloxiden oder sonstigen anorganischen Verbindungen wie Kalziumkarbid, Silicium, Siliciumkarbid; 39 c) Chemieanlagen zur Herstellung von phosphor-, stickstoff- oder kaliumhaltigen Düngemitteln (Einnährstoff- oder Mehrn.hrstoffdüngern); d) Chemieanlagen zur Herstellung von Ausgangsstoffen für Pflanzenschutzmittel und von Bioziden; e) Anlagen zur Herstellung von Grundarzneimitteln unter Verwendung eines chemischen oder biologischen Verfahrens; f) Chemieanlagen zur Herstellung von Explosivstoffen; g) Chemieanlagen, in denen chemische oder biologische Verfahren zur Herstellung von Zusatzstoffen in Eiweißfuttermitteln, Fermenten und anderen Eiweißstoffen angewandt werden. (5) Abfallbehandlung · Anlagen zur Verbrennung, Verwertung, chemischen Behandlung oder Deponierung gefährlicher Abfälle; · Müllverbrennungsanlagen für Siedlungsmüll mit einer Kapazität von über 3 t pro Stunde; · Anlagen zur Beseitigung ungefährlicher Abfälle mit einer Kapazität von über 50 t pro Tag; · Deponien mit einer Aufnahmekapazität von über 10 t pro Tag oder einer Gesamtkapazität von über 25.000 t, mit Ausnahme der Deponien für Inertabfälle. (6) Abwasserbehandlungsanlagen mit einer Leistung von mehr als 150.000 Einwohnerwerten. (7) Industrieanlagen zur Herstellung von a) Zellstoff aus Holz oder anderen Faserstoffen; 40 b) Papier und Pappe, deren Produktionskapazität 20 t pro Tag übersteigt. (8) a) Bau von Eisenbahn-Fernverkehrsstrecken und Flughäfen2 mit einer Start- und Landebahngrundlänge von 2.100 m und mehr; b) Bau von Autobahnen und Schnellstraßen3; c) Bau von neuen vier- oder mehrspurigen Straßen oder Verlegung und/oder Ausbau von bestehenden ein- oder zweispurigen Straßen zu vier- oder mehrspurigen Straßen, wenn diese neue Straße oder dieser verlegte und/oder ausgebaute Straßenabschnitt eine durchgehende Länge von 10 km oder mehr aufweisen würde. (9) a) Wasserstraßen und Häfen für die Binnenschiffahrt, die für Schiffe mit mehr als 1.350 t zugänglich sind; b) Seehandelshäfen, mit Binnen- und Außenhäfen verbundene Landungsstege (mit Ausnahme von Landungsstegen für Fährschiffe) zum Laden und Löschen, die Schiffe mit mehr als 1.350 t aufnehmen können. (10) Grundwasserentnahme- oder künstliche Grundwasserauffüllungssysteme mit einem jährlichen Entnahme- oder Auffüllungsvolumen von mindestens 10 Mio. m3. (11) a) Bauvorhaben zur Umleitung von Wasserressourcen von einem Flußeinzugsgebiet in ein anderes, wenn durch die Umleitung Wassermangel verhindert werden soll und mehr als 100 Mio. m3 pro Jahr an Wasser umgeleitet werden; 2  „Flughäfen“ im Sinne dieses Übereinkommens sind Flughäfen nach der Begriffsbestimmung des Abkommens von Chicago von 1944 zur Errichtung der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation – Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt – (Anhang 14). 3  „Schnellstraßen“ im Sinne dieses Übereinkommens sind Schnellstraßen nach der Begriffsbestimmung des Europäischen Übereinkommens vom 15. November 1975 über die Hauptstraßen des internationalen Verkehrs (AGR). 41 b) in allen anderen Fällen Bauvorhaben zur Umleitung von Wasserressourcen von einem Flußeinzugsgebiet in ein anderes, wenn der langjährige durchschnittliche Wasserdurchfluß des Flußeinzugsgebiets, dem Wasser entnommen wird, 2.000 Mio. m3 pro Jahr übersteigt und mehr als 5 Prozent dieses Durchflusses umgeleitet werden. In beiden Fällen wird der Transport von Trinkwasser in Rohren nicht berücksichtigt. (12) Gewinnung von Erdöl und Erdgas zu gewerblichen Zwecken mit einem Fördervolumen von mehr als 500 t pro Tag bei Erdöl und von mehr als 500.000 m3 pro Tag bei Erdgas. (13) Stauwerke und sonstige Anlagen zur Zurückhaltung oder dauerhaften Speicherung von Wasser, in denen über 10 Mio. m3 Wasser neu oder zusätzlich zurückgehalten oder gespeichert werden. (14) Öl-, Gas- und Chemikalienpipelines mit einem Durchmesser von mehr als 800 mm und einer Länge von mehr als 40 km. (15) Anlagen zur Intensivhaltung oder -aufzucht von Geflügel oder Schweinen mit mehr als a) 40.000 Plätzen für Geflügel; b) 2.000 Plätzen für Mastschweine (Schweine über 30 kg) oder c) 750 Plätzen für Säue. (16) Steinbrüche und Tagebau auf einer Abbaufläche von mehr als 25 Hektar oder Torfgewinnung auf einer Fläche von mehr als 150 Hektar. 42 (17) Bau von Hochspannungsfreileitungen für eine Stromstärke von 220 kV oder mehr und mit einer Länge von mehr als 15 km. (18) Anlagen zur Lagerung von Erdöl, petrochemischen oder chemischen Erzeugnissen mit einer Kapazität von 200.000 t und mehr. (19) Sonstige Tätigkeiten: · Anlagen zur Vorbehandlung (zum Beispiel Waschen, Bleichen, Merzerisieren) oder zum Färben von Fasern oder Textilien, deren Verarbeitungskapazität 10 t pro Tag übersteigt; · Anlagen zum Gerben von Häuten oder Fellen mit einer Verarbeitungskapazität von mehr als 12 t Fertigerzeugnissen pro Tag; · a) Anlagen zum Schlachten mit einer Schlachtkapazität (Tierkörper) von mehr als 50 t pro Tag; b) Behandlungs- und Verarbeitungsanlagen zur Herstellung von Nahrungsmittelerzeugnissen aus i) tierischen Rohstoffen (mit Ausnahme von Milch) mit einer Produktionskapazität von mehr als 75 t Fertigerzeugnissen pro Tag; ii) pflanzlichen Rohstoffen mit einer Produktionskapazität von mehr als 300 t Fertigerzeugnissen pro Tag (Vierteljahresdurchschnittswert); c) Anlagen zur Behandlung und Verarbeitung von Milch, wenn die eingehende Milchmenge 200 t pro Tag übersteigt (Jahresdurchschnittswert); · Anlagen zur Beseitigung oder Verwertung von Tierkörpern und tierischen Abfällen mit einer Verarbeitungskapazität von mehr als 10 t pro Tag; · Anlagen zur Oberflächenbehandlung von Stoffen, Gegenständen oder Erzeugnissen unter Verwendung organischer Lösungsmittel, insbesondere zum Appretieren, 43 Bedrucken, Beschichten, Entfetten, Imprägnieren, Kleben, Lackieren, Reinigen oder Tränken, mit einer Verbrauchskapazität von mehr als 150 kg Lösungsmitteln pro Stunde oder von mehr als 200 t pro Jahr; · Anlagen zur Herstellung von Kohlenstoff (Hartbrandkohle) oder Elektrographit durch Brennen oder Graphitieren. (20) Jede Tätigkeit, die nicht durch die Nummern 1 bis 19 erfaßt ist, wenn für sie eine Öffentlichkeitsbeteiligung aufgrund eines Verfahrens zur Umweltvertr.glichkeitsprüfung nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehen ist. (21) Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a dieses Übereinkommens findet keine Anwendung auf die genannten Vorhaben, wenn sie ausschließlich oder hauptsächlich zur Forschung, Entwicklung und Erprobung neuer Methoden oder Produkte über einen Zeitraum von weniger als zwei Jahren durchgeführt werden, es sei denn, sie würden wahrscheinlich erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt oder die Gesundheit haben. (22) Jede Änderung oder Erweiterung von Tätigkeiten unterliegt Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a dieses Übereinkommens, wenn sie für sich betrachtet die Kriterien/Schwellenwerte in diesem Anhang erreicht. Jede sonstige Änderung oder Erweiterung von Tätigkeiten unterliegt Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe b dieses Übereinkommens. 44 Anhang II Schiedsverfahren (1) Wird eine Streitigkeit einem Schiedsverfahren nach Artikel 16 Absatz 2 dieses Übereinkommens unterworfen, so teilt die Vertragspartei oder teilen die Vertragsparteien dem Sekretariat den Gegenstand des Schiedsverfahrens mit und geben insbesondere die Artikel des Übereinkommens an, deren Auslegung oder Anwendung strittig ist. Das Sekretariat leitet die eingegangenen Mitteilungen an alle Vertragsparteien des Übereinkommens weiter. (2) Das Schiedsgericht besteht aus drei Mitgliedern. Sowohl die antragstellende(n) Partei(en) als auch die andere(n) Streitpartei(en) bestellen einen Schiedsrichter; die so bestellten Schiedsrichter ernennen einvernehmlich den dritten Schiedsrichter zum Präsidenten des Schiedsgerichts. Dieser darf weder Staatsangehöriger einer der Streitparteien sein, seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet einer dieser Parteien haben, im Dienst einer derselben stehen noch in anderer Eigenschaft mit der Sache befaßt gewesen sein. (3) Ist der Präsident des Schiedsgerichts nicht binnen zwei Monaten nach Bestellung des zweiten Schiedsrichters ernannt worden, so ernennt der Exekutivsekretär der Wirtschaftskommission für Europa den Präsidenten auf Antrag einer der Streitparteien binnen weiterer zwei Monate. (4) Bestellt eine der Streitparteien nicht innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Antrags einen Schiedsrichter, so kann die andere Partei den Exekutivsekretär der Wirtschaftskommission für Europa davon in Kenntnis setzen; dieser ernennt den Präsidenten des Schiedsgerichts binnen weiterer zwei Monate. Nach seiner Ernennung fordert der Präsident des Schiedsgerichts die Partei, die noch keinen Schiedsrichter bestellt hat, auf, diese Bestellung binnen zwei Monaten vorzunehmen. Kommt die Partei dieser Aufforderung innerhalb dieser Frist nicht nach, so 45 unterrichtet der Präsident den Exekutivsekretär der Wirtschaftskommission für Europa, der die Bestellung binnen weiterer zwei Monate vornimmt. (5) Das Schiedsgericht trifft seine Entscheidungen nach Maßgabe des Völkerrechts und dieses Übereinkommens. (6) Ein nach diesem Anhang gebildetes Schiedsgericht gibt sich eine Verfahrensordnung. (7) Das Schiedsgericht entscheidet über verfahrensrechtliche und materiell-rechtliche Fragen mit der Mehrheit seiner Mitglieder. (8) Das Schiedsgericht kann zur Feststellung der Tatsachen alle geeigneten Maßnahmen ergreifen. (9) Die Streitparteien erleichtern die Arbeit des Schiedsgerichts; insbesondere werden sie ihm mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln a) alle sachdienlichen Schriftstücke vorlegen, Erleichterungen einräumen und Auskünfte erteilen und b) die Möglichkeit geben, soweit nötig Zeugen oder Sachverständige zu laden und ihre Aussagen einzuholen. (10) Die Parteien und die Schiedsrichter wahren die Vertraulichkeit aller während des Verfahrens vor dem Schiedsgericht vertraulich erhaltenen Mitteilungen. 46 (11) Das Schiedsgericht kann auf Antrag einer der Parteien einstweilige Schutzmaßnahmen empfehlen. (12) Erscheint eine der Streitparteien nicht vor dem Schiedsgericht oder unterläßt sie es, sich zur Sache zu äußern, so kann die andere Partei das Gericht ersuchen, das Verfahren fortzuführen und seine endgültige Entscheidung zu fällen. Abwesenheit oder das Versäumnis einer Partei, sich zur Sache zu äußern, stellt kein Hindernis für das Verfahren dar. (13) Das Schiedsgericht kann über Gegenklagen, die mit dem Streitgegenstand unmittelbar im Zusammenhang stehen, verhandeln und entscheiden. (14) Sofern das Schiedsgericht nicht wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls etwas anderes beschließt, werden die Kosten des Gerichts, einschließlich der Vergütung seiner Mitglieder, von den Streitparteien zu gleichen Teilen getragen. Das Gericht verzeichnet alle seine Kosten und legt den Parteien eine Schlußabrechnung vor. (15) Hat eine Vertragspartei dieses Übereinkommens ein rechtliches Interesse an dem Streitgegenstand und kann sie durch die Entscheidung des Falles berührt werden, so kann sie mit Zustimmung des Gerichts dem Verfahren beitreten. (16) Das Schiedsgericht fällt seinen Schiedsspruch binnen fünf Monaten nach dem Zeitpunkt, zu dem es gebildet wurde; hält es jedoch eine Verlängerung dieser Frist für notwendig, so soll diese fünf Monate nicht überschreiten. (17) Der Schiedsspruch des Schiedsgerichts ist mit einer Begründung zu versehen. Er ist endgültig und für alle Streitparteien bindend. Das Schiedsgericht übermittelt den Schiedsspruch 47 den Streitparteien und dem Sekretariat. Dieses leitet die eingegangene Mitteilung an alle Vertragsparteien dieses Übereinkommens weiter. (18) Streitigkeiten zwischen den Parteien über die Auslegung oder Vollstreckung des Schiedsspruchs können von jeder Partei dem Schiedsgericht, das den Schiedsspruch gefällt hat, oder, falls dieses Gericht nicht befaßt werden kann, einem anderen Gericht, das zu diesem Zweck auf die gleiche Weise gebildet wird wie das erste, unterbreitet werden.